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MITTWOCH, 1. JULI

Während die beiden hohen Masten im glänzenden Licht der aufgehenden Sonne schon weithin sichtbar sind, liegt der Stahlrumpf des Schiffes noch im fahlen Halbschatten der Morgendämmerung. Langsam lässt die aufgehende Sonne immer tiefer liegende Deckaufbauten im hellen Morgenlicht erstrahlen. Aus den beiden großen Schornsteinen verpuffen die letzten grauen Rauchschwaden, die sich im sanften Wind mäanderförmig in den wolkenlosen Himmel winden, dabei immer heller werden und schließlich völlig verschwinden. Nach den riesigen Schornsteinen tauchen die wuchtigen, dreiläufigen Kanonentürme in das gleißende Licht des neuen Tages. Treppenförmig angeordnet ragen die mächtigen Aufbauten an Bug und Heck über das Schiffsdeck hinaus und dominieren das imposante Erscheinungsbild des Schlachtschiffes. Dann liegt die Viribus Unitis in ihrer ganzen militärischen Pracht im Hafen von Triest.

Trotz der morgendlichen Stunde ist die gesamte Mannschaft an Deck angetreten und erweist den Toten, die die ganze Strecke von Metkovic bis hierher am Bug des Schiffes aufgebahrt waren, die letzte Ehre. Alles verharrt in Stille, während zwei Beiboote an der Längsseite des großen Schlachtschiffes langsam zur spiegelglatten Wasseroberfläche abgelassen werden. Im Hintergrund ertönt das monotone Stakkato der Trommler, die die Trauerzeremonie begleiten. In der Mitte der beiden kleinen Boote steht je ein Sarkophag, rechts und links von Matrosen der Ehrenwache in ihren Galauniformen flankiert. In strenger Abfolge werden Kommandos gegeben und ausgeführt, Matrosen setzen sich auf die vorgesehenen Plätze und lassen synchron die Ruder zu Wasser. Das Trommeln am Schiff verstummt, ein weithin schallendes Kommando bereitet die Besatzung auf den folgenden ohrenbetäubenden Lärm vor. Sekunden später erzittert das riesige Schiff unter dem grollenden, fauchenden Getöse des ersten Salutschusses. Zu Ehren der beiden Toten folgen weitere von jedem der dreiläufigen Kanonentürme. Die Triester, die sich schon vor Sonnenaufgang am Hafen versammelt haben, um diesem Moment von historischer Tragweite beiwohnen zu können, hören noch lange die Echos als gewaltiges Donnergrollen, das aus den umliegenden Hügeln zurückgeworfen wird. Dann herrscht wieder Stille.

Plötzlich, wie von einer unsichtbaren Mechanik gesteuert, beginnen die Matrosen in beiden Booten mit einem für Anlässe dieser Art eigentümlichen Rhythmus die Ruder ins Meer zu tauchen und die Boote in Bewegung zu setzen. Während der Salutschüsse haben sich die Trommler auf ihre Plätze im ersten Beiboot begeben und erwecken von dort aufs Neue mit dem monotonen Klang ihrer Instrumente jenen Takt, der die weitere Zeremonie begleitet. Bedächtig und sorgsam auf das Gleichgewicht achtend, gleiten die beiden Boote der Stadt entgegen, die durch den Kaiser schon vor über 60 Jahren für ihre patriotische Haltung in längst vergangenen Kriegen mit besonderen Auszeichnungen bedacht worden ist. An diesem Julimorgen zeigt sich nun abermals die Treue und patriotische Haltung der Triester, die in den vergangenen Tagen alles getan haben, um den Toten die letzte fürstliche Ehre zu erweisen. Trauerflore, schwarz-gelbe Fahnen auf Halbmast sowie Bilder des Kaisers und des ermordeten Thronfolgerpaares dominieren das Stadtbild. Der große Platz mit Blick auf den Hafen wird von einer riesigen Menschenmenge gesäumt, die es sich, obwohl mehrheitlich der italienischen Bevölkerungsgruppe zuzurechnen, nicht nehmen lässt, den Thronfolger und seine Gattin auf dem letzten Weg zu begleiten.

Nun blickt alles gebannt den beiden Ruderbooten entgegen, die sich soeben der Mole nähern. Das neuerliche Verstummen der Trommeln geht mit dem plötzlichen Einholen der Ruderblätter einher. Auf der Mole machen sich Männer bereit, die Beiboote der Viribus Unitis einzufangen und sanft zum Stillstand zu bringen. Der Kapitän geht zuerst von Bord und meldet dem ranghöchsten Offizier unter Einhaltung des strengen k. u. k. Protokolls die Ankunft der höchsten Sarkophage in Triest. Ein General der Infanterie nimmt die Meldung mit versteinerter Miene entgegen, salutiert und befiehlt den weiteren Verlauf der Zeremonie.

Unmittelbar nach dem Befehl erschallt weithin vernehmbar das „Habt Acht“ und die Ehrenkompanie formiert sich. 16 Männer lösen sich aus der Truppe, bewegen sich im Gleichschritt auf die Landungsboote zu und nehmen dort die Särge in Empfang. Nichts außer dem dumpfen Klang der Schritte ist in diesen Momenten zu hören. Selbst die Brandung, die für gewöhnlich in den Morgenstunden lebhaft an den Pier des Hafens schlägt, schwappt an diesem Tag nur zaghaft an die Betonmauer. Die Bevölkerung nimmt in stummer Trauer von den Toten Abschied.

In die Ehrenkompanie kommt wieder Bewegung. Ein laut schallendes „Präääsentiiiiiert!“ wird über den Platz gebrüllt und vollkommen gleichzeitig heben die Männer ihre Gewehre in einem komplexen Bewegungsablauf vor die Brust, um sie dort mit beiden Händen zu fixieren. Unmittelbar danach setzen sich mit Trommelbegleitung die Sargträger in Bewegung und steuern die Mitte des Platzes an. Die Sarkophage, zur Gänze mit schwarz-gelben Fahnen bedeckt, werden dort gut sichtbar auf mit Blumenbouquets und Kränzen üppig geschmückte Podeste gestellt.

Aus der Reihe der hohen Trauergäste tritt ein Kardinal hervor und nimmt, die Särge dabei umrundend, in lateinischer Sprache und dem liturgischen Ritual entsprechend die Einsegnung vor. Während sich im Hintergrund die Ehrenkompanie neuerlich formiert, werden die Särge wieder angehoben und diesmal auf Hüfthöhe zu den Trauerwägen getragen, die neben den Podesten bereitstehen. Die beiden Kutschen sind vollkommen in hochglänzendem Schwarz lackiert und weisen eine reichhaltige goldene Verzierung mit Symbolen und Ornamenten auf, die auf die allerhöchste Verwendung dieser Kutschwägen hinweisen. Durch riesige Glasfenster zu beiden Seiten ist das Innere ersichtlich. Es ist mit feinster schwarzer Seide ausgekleidet und ebenfalls mit kaiserlichen und katholischen Verzierungen geschmückt.

Vor die Leichenwägen sind je vier schwarze Pferde gespannt, an deren Spitze eine Einheit der örtlichen Garnison Aufstellung nimmt. Weitere Abordnungen diverser Waffengattungen stellen sich auf beiden Seiten auf. Während die Särge in die Leichenwägen geschoben werden, erschallen im Hintergrund Salutschüsse. Meisterhaft haben die Pfleger ihre Pferde auf Ereignisse dieser Art vorbereitet, sodass keines der Tiere scheut oder in der Formation zu bocken beginnt. Ein kurzes Verweilen, ein letztes Kommando und mit dem neuerlichen Einsetzen der Trommelbegleitung setzt sich der Trauerzug Richtung Bahnhof in Bewegung, wo bereits ein Sonderzug unter Dampf steht. Für die beiden Sarkophage wird jener Salonwagen bereitgehalten, mit dem der Erzherzog knapp zehn Tage zuvor seine Reise nach Sarajevo angetreten hat.

***

Während in Triest die beiden Särge in den Zug nach Wien verbracht werden, betritt in der Reichshauptstadt der königlich-ungarische Ministerpräsident Graf István Tisza das Büro von Leopold Berchtold. Für Berchtold ist es nach dem Treffen mit Conrad der zweite schwere Gesprächsbrocken, den er in diesen Tagen zu verdauen hat. Während er mit Conrad und dessen allseits bekannten Haltungen umzugehen gelernt hat, verspürt er gegenüber dem ungarischen Ministerpräsidenten stets das Gefühl der ohnmächtigen Unterlegenheit. Conrad gilt es zu besänftigen, ihn vor einem übereilten Schritt gegenüber Serbien zurückzuhalten. Bei Tisza ist die Sache anders gelagert, ihm gegenüber hat er Stärke und Handlungsbereitschaft zu demonstrieren. Einen ersten Teilerfolg gegenüber Conrad hat Berchtold vorgestern relativ problemlos erringen können, denn der General hat sich gegenüber seinen Argumenten fürs Erste einsichtig gezeigt.

István Tisza war schon einmal, von 1903 bis 1905, ungarischer Ministerpräsident und hat seit dieser Zeit seinen politischen Einfluss und seine Macht – auch in Österreich – über viele Verbindungen und Kontakte ausbauen und festigen können. Als Tisza im Juni letzten Jahres erneut zum Ministerpräsidenten ernannt wurde, ahnte Berchtold, dass in der Außenpolitik eine neue Zeitrechnung anbrechen würde. Er hat recht behalten. Durch ihre gegensätzlichen politischen Ansichten ist es zwischen ihnen seither immer wieder zu einem harten politischen Schlagabtausch gekommen. Oft ist es der Ungar, der die komplizierte politische Landschaft in der Doppelmonarchie besser auszunutzen versteht und mit gefinkelten Schachzügen, aber vor allem mit dem Rückhalt des Kaisers, den Sieg in der Auseinandersetzung davonträgt. Berchtolds politisches Selbstvertrauen wird dadurch immer wieder schwer in Mitleidenschaft gezogen, hat ihm dies doch die wenig schmeichelhafte Nachrede des außenpolitischen Schwächlings eingebracht. Heute aber ist Berchtold auf dieses Treffen gut vorbereitet. Er will dem Ungarn klarmachen, dass er allein es sei, der von nun an die Außenpolitik bestimmen, das Heft an sich reißen und als Schrittmacher der österreichischen Reaktionen fungieren würde. Ab nun soll ein anderer Führungsstil in der Außenpolitik herrschen, der ein im Sinne des Grafen Aehrenthals geführtes Selbstverständnis demonstriert.

Als István Tisza in Begleitung eines Mitarbeiters des Ministeriums das Büro betritt, zeigt Berchtold daher keinerlei Anzeichen von Unsicherheit oder Nervosität. Im Gegenteil, zuversichtlich und gestärkt durch die penible Vorbereitung geht Berchtold dem Ungarn einige Schritte entgegen und führt ihn nach der Begrüßung zu einer Sitzgruppe. Im Verhalten der beiden Männer liegt gespielte Freundlichkeit, zu viele diplomatische Niederlagen hat Berchtold im letzten Jahr einstecken müssen, als dass er sich jetzt über das Formelle hinausgehend freundlich zeigen wollte. „Darf ich Sie zu einer Tasse Tee einladen, Exzellenz?“ „Sehr gerne, Herr Minister.“ Ihr Tonfall ist vorsichtig und abtastend.

Berchtold dreht sich zu seinem Mitarbeiter um, der nach wie vor in der Tür auf Anweisung wartet und veranlasst diesen mit einem Kopfnicken, sich zu entfernen. Tisza und Berchtold sitzen einander wortlos gegenüber und beobachten den Mitarbeiter, wie dieser kurze Zeit später eine Kanne auf den Tisch stellt und die beiden Tassen jeweils einem der Herren zuordnet. Sanft steigt heißer Dampf aus der schmalen Öffnung der Kanne und windet sich in die Höhe. Mit einer Verbeugung verlässt der Mitarbeiter den Raum.

„Exzellenz“, Berchtold, der wartet, bis die Tür geschlossen ist, ergreift das Wort, „ich hatte gestern und vorgestern Gelegenheit, mit dem Kriegsminister und auch mit dem Chef des Generalstabes über die Lage nach dem abscheulichen Attentat in Sarajevo zu konferieren. Beide sind wie ich der Meinung, dass wir dieses nicht ungesühnt verstreichen lassen dürfen.“ Berchtold verschweigt Tisza bewusst seine gegenüber Conrad geäußerten Zweifel in dieser Sache und bemüht sich, ihn mit dem Hinweis auf eine meinungsbildende Eintracht zwischen den beiden obersten österreichischen Heeresleitern und ihm zu beeindrucken. Tisza lächelt zynisch und gibt Berchtold zu verstehen, dass er nicht gewillt ist, schon jetzt zu reagieren, sondern erst einmal hören möchte, was Berchtold vorzubringen hat. Er streicht mit zwei Fingern über seinen weit nach unten gezogenen Oberlippenbart, legt sein rechtes Bein über das linke und lehnt sich entspannt zurück.

Berchtold, dem die Süffisanz seines Gegenübers nicht entgeht, hebt die Schale mit dem Zucker hoch und blickt fragend auf Tisza. Dieser wehrt mit einem leichten Kopfschütteln und einer eindeutigen Bewegung der linken Hand ab. Während Berchtold ein Stück Würfelzucker in seine Tasse fallen lässt, fährt er fort: „Ich bin überzeugt, dass auch Sie der Meinung sind, dass dem Verhalten der Monarchie gegenüber diesem unglaublichen Gewaltverbrechen entscheidende Bedeutung zukommt.“

Ihre Blicke treffen sich. Berchtold versucht, eine Reaktion beim Ungarn zu provozieren. Nichts. Kein Nicken, kein Kopfschütteln, nur unbeirrte Blicke.

Berchtold lässt sich nicht aus dem Konzept bringen, denn er kennt diese Selbstbeherrschung und hat sich entsprechend eingestimmt. Er bringt seine nächste Karte ins Spiel: „Durch die ersten Berichte aus Sarajevo tritt immer deutlicher hervor, dass das Verbrechen und die Urheberschaft in Serbien ihre Ursprünge haben! Sollte sich das bewahrheiten, werden wir uns der angemessenen Reaktion nicht verwehren.“ Berchtold, der sich und Tisza nun Tee einschenkt, hat diese letzte Bemerkung wie nebensächlich hingeworfen.

„An welche Reaktion haben Sie dabei gedacht, Herr Minister?“ „Aha, ich konnte ihn aus der Reserve locken“, denkt Berchtold, während er die Kanne wieder hinstellt und beginnt, in seiner Tasse umzurühren. Den Kopf weiterhin gesenkt, antwortet er blitzschnell, so als ob die Sache bereits beschlossen sei: „Unsere Armee ist innerhalb von 16 Tagen einsatzbereit, um gegen Serbien loszuschlagen. Wir sind guter Dinge, durch eine schnelle Aktion einem Einsatz Russlands an der Seite Serbiens zuvorzukommen, denn Russlands Armee ist für den Kriegseinsatz noch nicht gerüstet!“

Berchtold selbst ist keineswegs davon überzeugt, dass Russland hingehalten werden könnte, sollte die Monarchie einen Vergeltungsschlag gegen Serbien unternehmen. Aber sein Bluff hat gewirkt. Tisza ist sichtlich erregt, denn er legt seine hohe Stirn in Falten und macht durch eine abweisende Handbewegung sowie Kopfschütteln deutlich, dass er von einer kriegerischen Auseinandersetzung nichts wissen will. Er stellt beide Beine wieder auf den Boden und richtet sich auf. „Wenn sich die Anschuldigungen gegen Serbien bewahrheiten, sollten wir der serbischen Regierung Zeit geben, ihre Loyalität uns gegenüber zu zeigen, und nicht vorschnell über sie herfallen.“ „Dieser Meinung bin ich nicht“, kontert Berchtold, „im Gegenteil, wir dürfen in diesem Fall keine Schwäche zeigen, sonst werden Serbien und Russland umso sicherer mit unserer Ohnmacht rechnen und ihr konsequentes Zerstörungswerk fortführen.“ Jetzt geht der Minister aufs Ganze: „Damit ist auch Ihr geliebtes Ungarn unmittelbar betroffen, Herr Ministerpräsident! Denn die slawischen Völker innerhalb der Monarchie werden in ihren nationalistischen Bestrebungen weiteren Aufwind erhalten, wenn wir jetzt nicht angemessen reagieren!“ „Das hat gesessen“, überlegt Berchtold, der diesmal nicht geblufft, sondern die letzten Worte aus tiefster Überzeugung vorgetragen hat. Zudem hat er das kurze Aufflackern in Tiszas Augen mit Genugtuung wahrgenommen. Der Ungar, sichtlich beeindruckt von diesem letzten Argument, entgegnet Berchtold ein wenig irritiert: „Ich glaube, Herr Minister, dass sich die internationale Lage unserer Monarchie in Zukunft verbessern wird, wenn es gelingt, auch Bulgarien eng an uns zu binden. Denn mit diesem Gegengewicht zu den Rumänen, die, wie mir wohl bekannt ist, auf unsere östlichen Gebiete schielen, könnten wir einen stabilen Stützpunkt in der Balkanpolitik aufbauen.“ Berchtold erkennt sofort, dass Tisza hier seinen wunden Punkt, das zentrale Element seiner außenpolitischen Ausrichtung anspricht: Tiszas Familie stammt aus Siebenbürgen und noch heute sind viele seiner Verwandten dort beheimatet. Ein Konflikt mit Rumänien, wie er ihn anspricht, könnte die Abtrennung Siebenbürgens von der Monarchie zur Folge haben – für István Tisza eine Vorstellung, die es um alles in der Welt zu verhindern gilt. Berchtold ist überrascht, dass sich der Ungar auf diese Weise öffnet und seine eigentlichen politischen Motive durchblicken lässt. Er blickt ihn, eine Falle vermutend, fragend an. Keine Regung, nichts dergleichen.

„Ich bin selbstverständlich Ihrer Meinung“, Berchtold versucht nun, Zeit zu gewinnen, um sich ein klareres Bild zu verschaffen, „dass wir noch ein wenig Zeit brauchen, wenn es darum geht, wie wir mit Serbien abzurechen gedenken – aber …“ Der Graf macht eine Pause und seine Augen wenden sich dem Tee zu, der noch immer heiß dampfend am Tisch steht, „… aber eine Verbesserung unserer internationalen Lage wird sich nicht einstellen, denn die Zeit arbeitet gegen uns. Wir können unmöglich mit der Aufrüstung Russlands, die ja von Frankreich finanziert wird, mithalten. Wir haben jetzt noch die Möglichkeit, in Anbetracht der allgemeinen Empörung nach der Gräueltat von Sarajevo und der noch nicht vollendeten russischen Aufrüstung einen Beweis zu liefern, dass wir nicht der kranke alte Mann Europas sind!“

Berchtolds Stimme ist immer lauter geworden, nun hält er inne. Für einen Moment glaubt er, General Conrad zu hören, wie dieser vor zwei Tagen auf ihn eingeredet hat. Nun sitzt er dem ungarischen Ministerpräsidenten gegenüber und kann dessen abwartende Haltung genauso wenig nachvollziehen, wie es offensichtlich Conrad mit ihm selbst ergangen ist. „Ich weigere mich, dabei mitzumachen, Herr Minister, das Attentat in Sarajevo zum Anlass für eine Abrechnung mit Serbien zu nehmen. Ich halte das schlichtweg für einen Fehler. Solange nicht genügend Anhaltspunkte für die Verantwortung Serbiens und eine ablehnende Erklärung desselben vorliegen, können wir keinen Krieg entfachen, der sich unter ungünstigen Umständen zu einem Weltbrand entfacht. Ich werde die Verantwortung hierfür nicht mittragen!“

Tisza, seit mehr als 30 Jahren in der Politik, weiß, wann es Zeit ist, mit taktischen Floskeln aufzuhören und Klartext zu sprechen. Vielleicht hat er die Lage der Monarchie, was ihre zukünftige Rolle in der Staatengemeinschaft anbelangt, bisher falsch eingeschätzt, aber er will sich nicht leichtfertig von den österreichischen Kriegstreibern in einen Feldzug hetzen lassen. Erst recht nicht von einem Mann wie Leopold Berchtold, der ganz offensichtlich davon getrieben ist, seine außenpolitische Schwäche von 1912 und 1913 vergessen zu machen. Darüber hinaus will er sich keinesfalls den Kopf darüber zerbrechen müssen, wie er das ungarische Parlament davon überzeugen kann, aus Rache für jemanden in den Krieg zu ziehen, der als erklärter „Ungarnhasser“ bekannt war.

Berchtold, der Tiszas Einmischung in die Außenpolitik mit dessen ausschließlich ungarischem Standpunkt nicht länger hinzunehmen gewillt ist, gibt erregt zurück: „Ich betone nochmals, dass ich ebenso wenig wie Sie gewillt bin, Hals über Kopf ins Unglück zu stürzen. Ich bin jedoch Realist genug, um zu sehen, dass das gegenwärtige, hoch in der öffentlichen Meinung Europas vorherrschende Momentum eines Rechts auf Sühne alsbald erlöschen wird.“

Hin und her schwappen die Argumente, beide Seiten beharren auf ihren Standpunkten. Weder der Minister des Äußeren noch der ungarische Ministerpräsident weichen zurück. Kurze Zeit später tritt eine Pattstellung ein, beide Männer haben die Sackgasse erkannt, in der sie stecken. Berchtold sieht ein, dass am heutigen Tag kein Ergebnis in seinem Sinne herbeigeführt werden kann. Die weitere Gestaltung der Außenpolitik der Monarchie wird fürs Erste weiterhin von ihm und Tisza auf gegensätzlichem Kurs bestimmt werden. Berchtold ist gereizt. Wie kann es sein, dass er als amtierender Minister des Äußeren auf Gedeih und Verderb den Ansichten des ungarischen Ministerpräsidenten ausgeliefert ist?

Er startet noch einen letzten Versuch, Tisza von den geplanten Maßnahmen gegen Serbien zu überzeugen. „Ihre Anregung, Bulgarien und Rumänien näher an den Dreibund zu binden, halte ich für eine richtige und Erfolg versprechende diplomatische Aktion. Aber sie darf die rasch auszutragende Sühne- und Sicherungsaktion gegen Serbien nicht verzögern.“ Dann appelliert er an die Loyalität Tiszas, indem er anfügt: „In beiden Fällen brauchen wir aber Ihre Unterstützung, die Unterstützung Ungarns.“

Kaum hat er den letzten Satz ausgesprochen, bereut er ihn auch schon wieder, denn die Reaktion Tiszas überzeugt Berchtold, dass er das Heft wieder aus der Hand gegeben hat. Tisza weiß, dass ohne ihn keine Außenpolitik in Österreich-Ungarn zu machen ist, und lehnt sich nach dem unerwartet intensiven Gespräch wieder einigermaßen entspannt zurück. „Mein verehrter Herr Minister“, beginnt er mit nun hörbar ruhigerer Stimme, „ich werde im Anschluss an unser Zusammentreffen meine Ansichten Allerhöchst vorzutragen die Ehre haben. Dabei werde ich dem Kaiser neben einer Zusammenfassung unseres Gesprächs insbesondere darlegen, dass ich ein Vorgehen gegen Serbien für bedenklich halte, solange nicht zwei Vorbedingungen erfüllt sind.“ Berchtold kann den schulmeisterlichen Tonfall in dieser Stimme kaum ertragen. Zu oft hat er dieses zweifelhafte Vergnügen schon gehabt. Er wendet sich wieder dem Tee zu, der schon kühl zu werden beginnt.

Tisza fährt fort: „Erstens ist ein Beweis für die Mitschuld der serbischen Regierung vorzulegen und zweitens will ich Sicherheit haben, dass Deutschland hinter uns steht.“

Berchtold erkennt, dass mit diesen Forderungen eine rasche, entschiedene Strafexpedition gegen Serbien nicht mehr möglich sein wird. Der Kaiser würde ohne Einvernehmen mit Tisza einem solchen Vorhaben niemals zustimmen. Die Ausweglosigkeit der Lage erfassend, zieht Berchtold in Gedanken Bilanz: „So gut das Gespräch mit Conrad verlaufen ist, habe ich soeben gegen Tisza wieder den Kürzeren gezogen.“ Die Entscheidung muss also beim nächsten Ministerrat fallen.

Die Außenpolitik für den Moment ausblendend, verweist Berchtold in fließendem Französisch auf den exquisiten Geschmack des Tees, der noch immer auf dem Tisch steht und eine erfrischende Duftwolke verströmt. Er nimmt eine Tasse und reicht sie Tisza, der sie dankend annimmt und sogleich an die Nase führt, um das köstliche Aroma auszukosten. Berchtold prüft auf die gleiche Weise den Tee und genießt einen ersten kleinen Schluck. Die beiden Männer stehen auf und gehen, die Tassen in der Hand, wortlos zum Fenster. Sie schwenken ihre Tassen ein wenig, führen sie ein weiteres Mal zur Nase. István Tisza schließt kurz die Augen und bemerkt, ebenfalls in exzellentem Französisch und mit hörbarer Vorfreude auf seinen ersten Schluck: „Fürwahr, Exzellenz, das ist ein herrliches Aroma.“ Berchtold hebt seine gläserne Tasse an, um das Farbenspiel der grünbraunen Flüssigkeit zu betrachten. Dabei fällt sein Blick auf die im Hintergrund wehenden schwarzen Fahnen am Dach der Hofburg. Eine Weile hält er so die Tasse und beobachtet durch diese hindurch, wie sich die Fahnen sanft im Wind bewegen. Einen kräftigen Schluck nehmend beschließt er dann, den ungarischen Ministerpräsidenten rasch zu verabschieden und sich auf seine eigene morgige Audienz beim Kaiser und die nunmehr geänderten Rahmenbedingungen vorzubereiten.

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Litres'teki yayın tarihi:
23 aralık 2023
Hacim:
485 s. 26 illüstrasyon
ISBN:
9783990402542
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