Kitabı oku: «Das Krähennest», sayfa 2

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Kriegsjahre gingen über die Télème-Abtei-Schule auf dem Lavendelhof hin, ohne daß man sie dort anders verspürte als durch unwesentliche Einschränkungen in der Lebenshaltung, durch die immer häufiger und zahlreicher zu Häupten des Hofes kreisenden Flugzeuge – und durch Trauernachrichten über ehemalige Lehrer und Zöglinge: Antonius war in Libyen, Hal in Kreta, Jacques vor Dieppe gefallen; Petruchio war im Atlantischen, Horatio im Stillen Ozean untergegangen, Autolykus in Burma in seinem Flugzeug verbrannt.

Juli um Juli zogen sich Jünglinge und Mädchen in die Klausur der Prüfungszimmer zurück, wo sie die Fragen, die eine berühmte alte Universität ihnen stellte, nach bestem Vermögen beantworteten; September um September tauchten neue Gesichter, Stimmen, Haartrachten, Charaktere auf dem Lavendelhof auf; nicht viele von jenen, die sich an die ursprüngliche Situation der Télème-Abtei-Schule am Saum der Riesenstadt erinnerten, waren jetzt unter den Kandidaten in den Prüfungszimmern zu finden, noch hätte man jene Lehrer angetroffen, die einst mit den vor den Bomben Flüchtenden aufs Land gezogen waren, um sich dort mit stets neu hinzuwachsenden Schülergenerationen zu befreunden; diese vielmehr sahen ihre Meister immer häufiger ausgewechselt. Entweder, wen sie dem Militärdienst verfielen, oder, durch den wachsenden Lehrermangel im Werte steigend, an vornehmere öffentliche Schulen berufen wurden.

Wir sind nun im fünften Kriegsjahr und begleiten Madeleine de La Tour-Madrus auf ihrer Reise in den wilden Mittelwesten des Landes zur Télème-Abtei-Schule, die inzwischen allerdings, von den offiziellen Drucksorten abgesehen, ihren alten Namen eingebüßt, und von den Zöglingen, niemand wußte genau, wann und von wem, einen neuen, weniger pathetischen und rustikaleren, erhalten hat.

Madame de La Tour, in Paris als Tochter eines französischen Vaters und einer österreichischen Mutter zur Welt gekommen und erzogen, hat den Vorzug der Zweisprachigkeit, der sie in allen Lehreragenturen beliebt macht; danach befragt, sagt sie mit schöner Aufrichtigkeit, sie sei gar keine zünftige Schullehrerin: »Aber da ich nun fast zwei Jahre lang vergeblich auf ein Universitätslektorat für Kunstgeschichte gewartet habe und nicht länger Gastfreundschaft erleiden mochte, habe ich mich auf mein einstmals versehentlich erworbenes Brevet supérieur besonnen und eine Weile lehrend gelernt, wie man’s anstellen muß, um nicht geradezu als pädagogische Hochstaplerin – oder, sagte ich besser, Tiefstaplerin? – entlarvt zu werden: denn mit den eingeborenen legitimen Verwalterinnen eines Baccalaureats oder einer Magisterschaft für meine Vater- und Muttersprachekann ich’s selbstverständlich nicht aufnehmen!«

Dieser Stoßseufzer läßt vermuten, daß Madeleine (wir nennen sie wohl fortan besser bei ihrem Taufnamen) mit Prinzipalen und Kolleginnen keine durchweg angenehmen Erfahrungen gemacht hat. In ihrer Bescheidenheit gibt sie sich selbst die Schuld, findet es ganz natürlich, daß man sie als Eindringling und unwillkommenen Fremdkörper ansieht. Ausländer werden in einer geschlossenen, bodenständigen Gemeinschaft zwar mit äußerster Zuvorkommenheit aufgenommen, solange sie keinen Anspruch darauf machen, darin anderes als Gäste zu sein; haben sie aber den Ehrgeiz, ihr Wissen und Können als Mitstrebende und fachlich Gleichberechtigte zu verwerten, dann läßt man sie flugs ihre nationale Minderwertigkeit fühlen. Man liebt die Hausmannskost, zieht die heimische Aussprache des Französischen und der übrigen europäischen Sprachen der importierten bei weitem vor.

So unanfechtbar richtig Madeleines leidend erworbene Erkenntnis auch sein mag, täuscht sie sich dennoch, wenn sie darin die Auslegung für die Kurzfristigkeit ihrer Engagements und ihre Wanderhaftigkeit von Schule zu Schule erblickt. Zwar hat Madeleine praktisch die Seuche der Veränderungslust, welche die Prinzipale der meisten Privatschulen befallen hat, ausgeprobt, doch ohne zutreffende Würdigung der Ursache. Sie ist keineswegs auf romantische Abenteuersucht noch auf ein allzu labiles Nervensystem, das heute nicht mehr zu ertragen vermag, wonach es gestern noch lechzte – und am allerwenigsten auf den Hang zu psychologischen Experimenten zurückzuführen, sondern vielmehr aus ökonomischer Berechnung zu erklären. Neue Lehrkräfte sind billiger. Madeleine wird gelegentlich über den Grund ihrer erzwungenen Wanderhaftigkeit ein Licht aufgesteckt bekommen – aber noch nicht gleich …

Madeleine hat zu Weihnachten eine Reihe lockender Angebote aus allen Grafschaften des Landes zurückgewiesen und Leontes den Vorzug gegeben, nicht vielleicht, weil er unter allen Prinzipalen ihr das höchste Gehalt in Aussicht stellte (ja, sie hat sogar die Nachschrift, die – gleichsam schamhaft und bedauernd, daß man schließlich doch auch auf so meskine Tatsachen des wirtschaftlichen Lebens zu sprechen kommen müsse – den Betrag festsetzte, erst nach Erteilung ihrer Zusage gelesen). Was sie lockte, war der Name der Schule: »Télème-Abtei.«

Wie, fragte sie sich, wird man das »Tu, was du willst« des François Rabelais in dieser Télème-Abtei als Wirklichkeit durchführen? Aufmerksamer als den ihr angebotenen Vertrag las Madeleine den Prospekt, das Programm der Schule:

Koëdukation, die Möglichkeit freier Entwicklung, keine Strafen, kein Register, keine Hausarbeiten, ein etwaiges unbegründetes Ausbleiben der Zöglinge von den Lehrstunden wird nicht gerügt, nicht einmal zur Kenntnis genommen; taucht der Schüler wieder auf, dann ist es an ihm, das Versäumte nachzuholen. Einzig in Krankheitsfällen wird von den Lehrern erwartet, daß sie durch Nachhilfestunden den Genesenen das Mitkommen erleichtern.

Da Madeleine in ihrer vorigen Schule sich das Wohlwollen der Vorsteherin dadurch verscherzt hatte, daß sie die Kinder nicht zu bestrafen, sondern durch Erweckung ihres Interesses von dem naturgemäßen Widerstand gegen das Lernen abzulenken und zu kurieren pflegte, schienen ihr die Grundsätze der Télème-Abtei durchaus vernünftig und sympathisch. – Vielleicht – sagte sie sich – ist das endlich der Platz, wo ich hingehöre und nicht dazu verhalten werde, fortgesetzt gegen meine Überzeugung handeln zu müssen! –

Wie die Prinzipale es anstellten, ist nicht leicht errätlich, jedenfalls ist ihnen das Unwahrscheinliche gelungen, in einer Zeit allgemeinen Lehrermangels nicht nur für nahezu sämtliche Gegenstände männliche Lehrkräfte zu gewinnen – sie haben Ausnahmsnaturen um sich versammelt, ungewöhnlich begabte und kultivierte junge Leute, mit vorzüglichen Umgangsformen überdies, die sich für ihre Schüler schlechthin aufopfern. Da ist, zum Beispiel, Tristan, der Kunstmeister. Auch – wie Madeleine – kein zünftiger Schullehrer, sondern ein hervorragender Schwarzweißkünstler, der eines Tages, niemand außer den Prinzipalen kannte den Grund, bei seinen Freunden Leontes und Hermione auftauchte, anfangs die eben eingelangten ausgedienten Eisenbahnwaggons, die zu Wohnstätten umgewandelt werden sollten, innen und außen bemalte, in seiner Freizeit Elternbesuche empfing, die, von ihm bezaubert, eine hohe Meinung von dem Niveau der Télème-Abtei davontrugen – und schließlich für die üblichen Theatervorstellungen Kulissen und Figurinen nicht nur entwarf, sondern, soweit die Knappheit an Material es gestattete, auch ausführen half.

Dann, als der damalige Fachlehrer für Zeichnen und Malen zur schweren Artillerie einrücken mußte, hatte Hermione einen Geistesblitz. »Tristan, willst du mir«, sagte sie mit ernster Miene und ganz sachlich zu ihrem Jugendfreund, »nicht erklären, warum du dich mir noch nicht als Kunstlehrer angetragen hast? Für dich selber arbeitest du hier ja doch nichts …«

»Wie? Ein ganzes Buch, hundertsechzig Doppelseiten nach Art der chinesischen Blockbücher, das demnächst zum nicht unbescheidenen Preis von achtundzwanzig Talern erscheinen wird, heißt bei dir ›gar nichts‹?«

»Du mußt es im Schlaf gezeichnet haben, denn immer, wenn ich dich sehe, vertrödelst du deine Zeit – bitte, ich weiß schon, zu unseren Gunsten und unserem Vorteil, aber nicht dem deinen – mit Anstreichen, Lackieren und ein wenig Gartenarbeit. Gehört sich das für dich? Da wüßt’ ich dir doch eine sinnvollere Beschäftigung. Ich stelle eben das Schulprogramm für das nächste Jahr zusammen, hier, bitte, lies: ›Sprachen: Französisch, Englisch, Deutsch, Spanisch, Russisch, Latein, Griechisch werden, als deren Muttersprache, von hervorragenden Lehrkräften unterrichtet‹.«

»Ich wußte gar nicht«, entgegnete Tristan kühl, »daß du einen alten Römer ausgegraben, wiederbelebt und für Kriegsdauer als Lateinlehrer angestellt hast, noch, daß Tamino gebürtiger Athener ist.«

»Unsinn: Es soll doch selbstverständlich heißen ›die modernen Sprachen werden von ausländischen Lehrkräften, als deren Muttersprache, unterrichtet‹ …«

»Ach so …, ich habe Horaz nicht für einen Ausländer gehalten. Machst du unseren Landsmann zum entwurzelten Flüchtling?«

»Bitte, wenn du es besser zu stilisieren verstehst, überlass’ ich die Formulierung dir sehr gern.«

»Ich dachte, ich sei hierhergerufen worden, um mich dir auf irgendeine Art nützlich zu machen, und muß nun annehmen, du habest mich für den Posten deines Propagandaministers ausersehen …«

»Gibt es nicht etwas Näherliegendes, wofür du dich besser eignetest? Und möchtest du nicht, statt witzige Einwürfe zu äußern, lieber weiterlesen? Hier …« Hermione legte den langen rotlackierten Nagel ihres kleinen Fingers auf die nächste maschingeschriebene Zeile: »Besonders glücklich und stolz sind wir, für den Unterricht im Zeichnen und Malen, im Radieren und Kupferstechen und anderer Schwarzweißkunst, einen Meister hohen Ranges gewonnen zu haben, dessen Namen jedem Kunstverständigen längst geläufig ist, Herrn Tristan …«

»Jedem Kunstverständigen geläufig? Bin ich vielleicht Ansichtskartenerzeuger?«

»Nun ist’s genug, Tristan. Ich mein’s ganz ernst.«

»Und wenn ich nun, auch ganz ernst, mit einem schlichten Nein antworte?«

»Das wirst du nicht tun. Du willst doch hierbleiben, nicht wahr?«

»Es ist also, das hättest du mir gleich eingestehen sollen, ein Ultimatum?«

»O nein, durchaus nicht, ganz und gar nicht … Aber wir können doch unmöglich zugeben, daß du als Dank für genossene Gastfreundschaft weiterhin Latrinen anstreichst. Da wär’s doch wahrlich eine passendere Aufgabe für dich, begabte Burschen, wie Laërtes, Diego und Bassanio, im Malen zu unterweisen. Natürlich«, fuhr sie rasch, ehe Tristan sie durch einen neuen Zwischenruf von ihrem hartnäckig verfolgten Ziel ablenken konnte, fort, »wissen wir gut genug, daß wir unter normalen Umständen einen Tristan als Lehrer nicht erschwingen könnten. Wir haben hin und her gerechnet, aber wir können dir auch beim besten Willen nicht mehr bieten als unser übliches Gehalt, nur wollen wir bei dir insofern eine Ausnahme machen, als wir dir’s von Anfang an voll ausbezahlen …«

»Wie? Die anderen Lehrer bekommen das ihnen schlußbrieflich zugesicherte Gehalt nicht voll ausbezahlt?«

»Nicht im ersten Jahr. Wir bezahlen doch monatsweise. Es entfällt also ein Zwölftel des Ganzen auf den Monat, drei Zwölftel auf das Trimester …«

» Vier Zwölftel, ein Drittel des Ganzen, nach Fug und Recht …«

»Ein Viertel, sagte ich, für die tatsächlich geleistete Arbeit, nicht auch für die Ferialzeit. Im zweiten Jahr werden die Weihnachts- und Osterfeiertage voll ausbezahlt, das macht drei Viertel des vollen Gehalts, und einen Monat darüber …«

»Die Oster- und Weihnachtsferien dauern zwei Monate …«

»… im dritten Jahr werden alle Ferialzeiten, auch die großen Sommerferien, voll ausbezahlt, die ganzen achthundert Taler: Du erhältst sie von Anfang an.«

»Und jene Lehrer, die nicht mit dir befreundet, oder, wie Rosamund, mit dir verwandt sind, werden unter trüglichen Versprechungen hergelockt, und dann, wenn sie euch zulieb andere Angebote zurückgewiesen haben, so zwar, daß ihnen keine Wahl mehr bleibt, werden sie – um es vorsichtig auszudrücken – enttäuscht …«

»Vergiß nicht, daß die meisten Privatschulen niedrigere Gehälter festgesetzt haben als wir; die meisten bewilligen nicht mehr als sechshundert, höchstens sechshundertfünfzig Taler für das Schuljahr …«

»Ehrlich ausbezahlt macht das« – Tristan überschlägt die Summe im Kopf – »genau soviel wie eure vorgeblichen achthundert …«

»Im ersten und zweiten Jahr allerdings, später aber …«

»Wie viele Lehrer erleben bei euch dieses Später?«

»Doch einige: Horaz, Tamino, die Dorrits …«

»Allerdings. Schließlich muß doch für eine gewisse Stabilität des Stabes gesorgt sein, die Schule muß doch ein festes Rückgrat behalten, sonst löste sie sich in Rauch auf. Folglich …«

»Ich begreife dein Meckern nicht, ich sagte dir doch bereits, du bekommst die achthundert sofort, ohne Abzug, sogar die Versicherungssummen eingeschlossen, was willst du mehr?«

»Gerechtigkeit und Redlichkeit für alle, nicht nur für mich – weil ihr beide, zumal Leontes, recht gut wißt, daß ich aufs Unterrichten nicht angewiesen bin, für euch aber eine sogenannte Attraktion darstelle, die euch die kleine Mehrauslage zweifellos hereinbringen wird. Also seid ihr gegen mich nobel – den anderen Schulen gegenüber aber treibt ihr unlauteren Wettbewerb, und was die geprellten Lehrer angeht …«

»Nicht ich stelle die Gehaltslisten zusammen …«

»Nein. Du aber bist es, die an die in Aussicht genommenen prominenten Lehrkräfte Briefe mit schönen Versprechungen schreibt, die du nicht zu halten beabsichtigst …«

»Die ich nicht halten kann … Muß ich dir denn Leontes erst explizieren?«

»Danke schön, er ist mir bereits zur Genüge bekannt, so sehr, daß ich mir’s noch gut überlegen will, ob ich zu ihm in andere Beziehung als die des Gastes zum Gastfreund treten soll …«

»Das ist es doch eben. Seine Gastfreundschaft ist nicht unbeschränkt ausdehnbar. Als du aus deinem Hause ausgebombt warst, fand Leontes es ganz selbstverständlich, daß ich dich einlud, ja, er war womöglich noch eifriger darauf bedacht als ich. Jetzt aber macht er alle Augenblicke Anspielungen, die mir peinlich sind – und ich möchte dich doch nicht wieder verlieren, Tristan … Und zuletzt hast du hier doch mehr als nur ein bißchen spielerische Arbeit für achthundert Taler, du hast ein Heim.«

Tristan blieb und war bald die Seele der Schule. Viele unter den Zöglingen, die niemals einen Zeichenstift, einen Pinsel angerührt hatten, drängten sich nun zu seinen Lektionen, um dann auch an seinen Gesellschaftsabenden teilnehmen zu dürfen, zwanglosen Zusammenkünften, die sich, bei Tee und Marmeladebrot, bis Mitternacht ausdehnten, und, wie des Königs Wassail in »Hamlet«, die übrigen Hausgenossen wachhielten, denn Tristan lachte viel und dröhnend, mit ungewöhnlicher Resonanz; zwar gehörte nicht viel dazu, ihn zum Lachen zu bringen, der es versuchte aber kam sich, bei so schallendem Erfolg, äußerst witzig vor.

Tristan, von seinen Schülern zärtlich »Tristy« genannt, fand, daß er in der jungen Gesellschaft erst zu leben anfing, er zerriß sich schier für seine Buben und Mädel, nährte sie mit all seinem erlebten Wissen, seiner schwer erarbeiteten Meisterlichkeit; ja, er, dessen Eigenart darin lag, daß er alle farbigen Werte in Schwarzweiß auszudrücken verstand, ging an die Wiedererweckung seines koloristischen Sinns, um ihn dann seinen Schülern mitzuteilen, einzig der streng geschlossene Kontur erinnerte auch bei diesen an ihres Meisters vom Zeichnerischen herkommende Persönlichkeit.

Tristan nahm gerade den Tee in dem Bauernhaus, das Leontes – nicht ohne Tristans Beratung – mit Geschmack und Sparsamkeit zu einer behaglichen Wohnung umgewandelt hatte, als die neue Sprachlehrerin, Madame de La Tour-Madrus, durch die Sekretärin angemeldet und von ihr hereingeleitet wurde. Es erschien eine mittelgroße, schlanke Dame in dunklem Reiseanzug, deren Gesicht in einem Silberfuchskragen beinahe verschwand; sie sprach mit verschleierter Stimme, Nase und Augen waren von heftigem Schnupfen gerötet, trotz dieser Behinderung eignete ihrem Auftreten die selbstverständliche Sicherheit, wie sie einer Frau, die in der großen Welt gelebt oder in kleinem Kreise Autorität genossen hat – oder vielleicht beides, gemäß ist. Nach ein paar Schlucken Tee war die Ankömmlingin in ein Gespräch mit Tristan verwickelt, das, von der jüngsten französischen Malerei ausgehend – Dérain, Matisse, Braque, Rouault, Picasso – sich mühelos durch die Jahrhunderte bewegte. Hermione, gewohnt, daß neueintretende Lehrerinnen schüchtern auf dem Eckchen eines Sessels Platz nahmen, unruhig darauf hin und her rutschend und an sie gestellte Fragen verlegen und ungeschickt beantwortend, war über diese gesellschaftliche Routine ganz verblüfft. Für diese hier schien es Befangenheit nicht zu geben, sie plauderte mit Tristan, als hätte sie ihn von Kindheit an gekannt, und als wäre sie Malerin, Bildhauerin, Architektin, Radiererin in einer Person, war mit einer Fülle von Vergleichen, die unheimliche historische Kenntnisse und Erkenntnisse verrieten, flink bei der Hand; nicht einmal die fremde Sprache bedeutete für sie eine Hemmung, sie jonglierte mit allerlei technischen Bezeichnungen, die Hermione unbekannt waren.

Hallo, hier könnte – man mußte Tristan nur ansehen, mit welcher Aufmerksamkeit er der Fremden lauschte – ein Interesse entstehen, eine Bindung, die Hermione in die Quere käme – nichts da! Dazu kommen die gesellschaftlichen Allüren, ein gewisser Schick, den die Pariserin vor allen anderen Frauen voraus hat, und eine zweifelsohne recht solide Bildung. (Hermione versucht sich auf Madames Curriculum zu besinnen, richtig, sie war doch Dozentin an der Sorbonne, für Kunstgeschichte, irre ich mich nicht: Warum hat sie diese ehrenvolle Stellung aufgegeben? Auch hinausgebombt? Oder war vielleicht mit ihren Dokumenten irgendetwas nicht in Ordnung? Gleichviel, jetzt ist sie hier, eine Lehrerin wie jede andere, wir werden ihr keine Ausnahmsstellung einräumen. Ihre Kunstgeschichte brauchen wir nicht, das ist Tristans Enklave, hoffentlich reichen ihre Kenntnisse im Französischen und Deutschen für Stipendiats- und Immatrikulierungsprüfungen aus, mehr brauchen wir nicht von ihr, für ein Trimester wird es auf alle Fälle langen, sie wird bei mir nicht alt werden: Viel zu damenhaft ist sie mir, zu selbständig, zu überlegen; niemand, den man zurechtweisen und auf seinen Platz stellen könnte – und überhaupt … Was für ein ironisches Lächeln sie nur eben aufgesetzt hat, obschon das Verziehen des Mundes bei solchem Schnupfen eigentlich weh tun müßte. Auch finde ich’s ungehörig, wenn man als Bazillenträgerin Besuch macht. Alles in allem, sie steht mir nicht zu Gesicht. Nach Ostern ist Rosamund ohnehin frei und kann sie ersetzen. Bis dahin muß man trachten, sie von Zeit zu Zeit zu ducken. –)

Die verschnupfte Pariserin hat, anscheinend einzig mit französischer Malerei und Tristan befaßt, kein Auge von ihrer neuen Dienstgeberin gelassen, es war ihr Trick, die Leute, während sie sich unbeobachtet glauben durften, zu studieren. Mühelos las sie von Hermionens Antlitz ab, was sich hinter ihrer Stirn regte: nicht artikuliert, versteht sich, nur in den allgemein gehaltenen Empfindungen des Mißtrauens und der Ablehnung: – Sie hat es nicht gern – denkt Madeleine –, wenn man sich mit dem Maler, oder was er sein mag, viel abgibt, offenbar ist er ihr Reservat, es wäre also unklung von mir, wenn ich in dieser Unterhaltung fortführe, zumindest darf ich’s nicht in ihrer Gegenwart tun. Bedauerlich: Es ist lange her, seit mir ein solches Gespräch vergönnt war. – –

Eben will Madeleine, um ihrer guten oder vielmehr vorsichtigen Überlegung zu folgen, sich von Tristan fort- und ihrer Prinzipalin zuwenden, da tritt diese ihr, um fünfundzwanzig Jahre, beiläufig, verjüngt, entgegen – Wenn das nicht Magie ist! – sagt sich Madeleine.

»Meine Tochter Miranda, die sich leider weigert, ihre Universitätsprüfung in Sprachen abzulegen, sie hat sich für Mathematik und Naturwissenschaften entschieden, also bleibt ihr wirklich keine Zeit für etwas anderes übrig, das tut mir leid, denn nichts erscheint mir wünschenswerter, als sich in einem fremden Idiom so fließend auszudrücken wie Sie, Madame, und gar mit allen Fachausdrücken, die unsereins nicht einmal in seiner Muttersprache kennt …«

Madeleine vergißt, den Hieb zu parieren, sie fühlt sich auf den Mund geschlagen: was für eine lächerliche Ähnlichkeit! Nein, nicht lächerlich – unheimlich! Da war nun dieselbe Person zwiefach vorhanden, in verschiedenen Stadien ihrer Existenz: das gleiche, gekreppte, bronzebraune Haar, die gleiche Schattierung der Haut, mit natürlichem Rot auf den Wangen bei der jüngeren – mit der Nachhilfe von etwas Rouge bei der älteren Ausgabe; die gleichen rehbraunen Augen mit dem gleichen Ausdruck, der zwischen Verschmitztheit und dem Wunsch, treuherzig zu erscheinen, ungefähr die Mitte hielt, mit gleich geschwungenen, nur verschieden dichten Brauen, und ungleich lang bewimpert; die gleiche Anlage der Gestalt, bei der Mutter voll ausgebildet, mit geschwungeneren, gewölbteren Linien, die aber auch bei dem jungen Mädchen bereits erkennbar angedeutet waren. Ja, sie hatten sogar, höchstens um ein Intervall an Lage verschieden, die gleichen Stimmen, verausgabten die gleiche affektiert-konventionelle, geschäftstüchtige Liebenswürdigkeit. Beide hatten ihre Redensarten fix und fertig zu Gebot stehen, peinlich müßte es für sie sein, in eine Situation zu geraten, wofür ihr Vorrat nicht ausreichte – oder wo er überhaupt fehl am Ort wäre. Mit katzenhafter Geschmeidigkeit werden sie aber solchen Möglichkeiten auszuweichen trachten.

Wie kommt nun der Maler hierher? Er ist doch soweit ich mich auf Physiognomien verstehe, von ganz anderer Art: ein Mensch! Und, täusch’ ich mich nicht, kaum bloß als Lehrer hiehergekommen. Eine Herzensangelegenheit? Sie nennen ihn Tristan … Ist sie seine nachgedunkelte Isolde? Wie verhält sich König Marke zu dieser Bindung? Ist er ein Weißbart? Nach seiner Stimme am Telephon – allerdings verändert das Telephon, und gar bei größerer Entfernung, die Stimmen – gäbe ich ihm einen schwarzen Henriquatre, eine zu auffällige Krawatte, ein ungeduldiges Temperament, einen rechthaberischen, unduldsamen, jähzornigen Charakter. Der Maler scheint just das Gegenteil all dieser Eigenschaften darzustellen. Nachgiebig, entgegenkommend, gefällig. Wie schaut er eigentlich aus? Etwas wechselbalgmäßig: ein ursprünglich schön angelegtes Gesicht, aber vorzeitig zerknittert, die Stirn zu früh gefurcht, die Mundwinkel gekräuselt, ohne daß sie spöttisch wirkten. Ein Antlitz wie ein Palimpsest; es müßte der Mühe wert sein, die übereinanderliegenden Schichten zu sondern und zu entziffern. Schade …

Madeleine denkt dieses »Schade« nicht zu Ende, es mag mancherlei Bedeutung haben. Noch ehe die Pariserin mit Miranda recht ins Gespräch gekommen war, ging die Türe abermals auf für ein drittes Familienmitglied, einen jungen Menschen, sechzehn- oder siebzehnjährig, ein bißchen größer als Tristan, mit den blühenden Farben eines zarten Mädchens – Milch und Blut – unter flammendem Schopf. Seitlich betrachtet, zeigte er das bronzebraune Krepphaar von Mutter und Schwester.

»Mein Sohn Arthur – Madame Madrus, unsere neue Sprachlehrerin …«

Der neue Titel tönt Madeleine sonderbar erheiternd ins Ohr, die Comtesse da la Tour ist es nicht gewohnt, mit ihrem Mädchennamen angesprochen zu werden; den Namen und Titel, den sie jetzt seit ungefähr zweiundzwanzig Jahren führt, hat sie bereits in mancherlei Zusammensetzungen gehört, in dieser noch nicht. Sprachlehrerin! Bon, wer auf das Gehalt angewiesen ist, muß auch den Titel mit in Kauf nehmen und die schlechten Lebensformen der Leute, in deren Dienst man sich begeben hat. Dem jungen Menschen, der solches Vorbild vor Augen gehabt hat, darf man’s demnach nicht verübeln, wenn er der Dame, die er begrüßen will, zuerst die Hand entgegenstreckt; eine seltsam weiche, leblose, unerwidernde Hand. lmmerhin läßt sein Gesichtsausdruck darauf schließen, daß er wieder die Bosheit noch die peinliche Routine mit Mutter und Schwester gemein hat, seine linkische, noch ganz knabenhafte Art fällt hier aus dem Rahmen, vielleicht ist das jemand – Madeleine hat sich, seit sie »Sprachlehrerin« ist, aufs Menschenfischen verlegt –, auf den man Einfluß nehmen, auf den man einwirken könnte?

Vorläufig bleibt die Begrüßungsformel das einzige, was Madeleine von Arthur zu hören bekommt, die Fragen seiner Mutter beantwortet er, hinter zusammengebissenen Zähnen hervor, mit dumpfem, unverständlichem Gemurmel, sein Gesicht hat sich, im Augenblick, da er sich seiner Mutter zuwandte, blitzlich verwandelt, es hat das Blühende eingebüßt und einen verkniffenen, verdrossenen Ausdruck angenommen. Ist es vielleicht Tristan, dessen Gegenwart ihn stört, fühlt er sich, stellvertretend, in König Marke beleidigt? Kaum. Denn gleich darauf, als der Maler eine Frage an ihn richtet, hellt sich sein Gesicht auf, es hat, auch durch Magie, das mädchenhaft Blühende zurückgewonnen. Vermutlich ist’s also die Mutter, die ihn bedrückt, gegen die er sich innerlich auflehnt. Das spricht für ihn. Werde ich ihn, fragt sich Madeleine, zu unterrichten haben? Oder zieht er, gleich seiner Schwester, Mathematik und Naturwissenschaften den Humanorien vor?

Eine Gesprächspause entsteht, die Fremde fängt ein Hin und Her der Blicke zwischen Hermione und Tristan auf, dieser legt die Rechte auf Arthurs Schulter und verläßt mit ihm wortlos, abschiedslos, das Zimmer. Miranda, auf ein Brauenzucken der Mutter hin, folgt den beiden.

»Und nun, Madame Madrus, können wir von Ihrem Stundenplan – hier ist er bereits ausgeschrieben – und Ihren sonstigen Obliegenheiten zu sprechen beginnen …«

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