Kitabı oku: «Das Krähennest», sayfa 3

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Madeleine bekommt ein Zimmer in den ehemaligen Stallungen angewiesen, im Erdgeschoß, schräg unter ihrem Klassenzimmer. Sie ist nicht wenig erstaunt, zu hören, daß hier nicht wie in anderen Schulen jede Klasse den ihr gehörigen Raum für alle Lehrstunden – Kunst und körperliche Übungen ausgenommen – zugeteilt hat, sondern daß die Schulzimmer nach den Gegenständen benannt sind. Folglich wanderten hier nicht, wie es allgemein üblich ist, die Lehrer nach ihrem Stundenplan von Klasse zu Klasse, es würde sich vielmehr eine Schar von Zöglingen – die »Senioren« mit Mappen und Kassetten, die »Mittelschüler« mit ihren Schubladen voller Bücher, Hefte, Tintenfläschchen, Federn und Bleistifte, atemlos von einem Haus ins andere stürzen, und es wird bei dem verschiedenen persönlichen Rhythmus dieser Wanderschaft, fünf oder zehn Minuten dauern, bis die ganze Klasse bereit ist, des Lehrers Wort aufzunehmen. Welcher Zeitverlust! Madeleine kann den Nutzen dieser Neuerung nicht recht einsehen, sie wird aber ein Trimester lang siebenmal täglich darunter zu leiden haben.

Der erste Schultag verläuft ganz angenehm. Madeleine hat die Aufenthaltsbewilligung für ein »militärisch geschütztes Gebiet« in der Hauptstadt abwarten und dadurch vier Schultage versäumen müssen, die Schüler sind also gespannt, neugierig – und zufrieden, daß es überhaupt wieder eine französische Lehrerin als Nachfolgerin Mademoiselle Telliers gibt, die zu ihren Eltern nach den Vereinigten Staaten übersiedelt ist. Die ursprünglich in Aussicht genommene – geht es gerüchtweise in der Télème-Abtei um – habe im letzten Augenblick abgesagt, und Hermione, mit ihrem vielgerühmten Geschick im Menschen- oder Lehrerfang, hat im allerletzten eine treffliche Kraft gefunden: einen französischen Flüchtling wie Mademoiselle Tellier – und so etwas wie eine wissenschaftliche Berühmtheit. Wird sie sich nun den ungewöhnlichen Verhältnissen der Télème-Abtei anzupassen verstehen? Kommt sie vom Montmartre, vom Montparnasse, aus dem Quartier Latin, oder, Gott behüte, aus einem der eleganten Viertel nächst den Champs Elysées oder rings um den Parc Monceau herum? Wie wird sie sich mit der geringen Anzahl an Badezimmern, dem Mangel an Kleiderschränken, an Spiegeln und Teppichen abfinden?

Badezimmer, versichert Beatrice, die mehrere Sommer in der Bretagne verbracht hat, seien in französischen Privatwohnungen eine Seltenheit, überhaupt sei Reinlichkeit, seien sanitäre Anlagen den Galliern unbekannt, statt einer ordentlichen Dusche genügt eine Flasche mit Gummiball und ein Parfümschauer …

»Unter Louis XIV. – aber doch nicht heutzutage? …«

»Heute wie damals und fast überall, nur gibt es nicht überall ein Parfümfläschchen.«

»Es ist etwas daran«, mischt sich Juliet ein, »meine Tante Marjorie hat sich knapp vor dem Krieg nach Paris verheiratet. Ihr Bräutigam hat sie, aus besonderer Aufmerksamkeit, vor die Wahl gestellt: Salon oder Badezimmer? Natürlich könnten sie sich beides leisten, aber die Franzosen sind, scheint es, sehr sparsam, und die Wohnungen sehr teuer. ›Badezimmer, selbstverständlich‹, sagte die Tante Marjorie. Das hat bei ihrer neuen Familie scharfe Kritik herausgefordert. Man ist es sich schuldig, einen Salon zu haben, wo, wann – wie oft man badet, geht hingegen niemanden etwas an, gleich um die Ecke rechts, in der Rue Cardinet, ist eine öffentliche Badeanstalt, dorthin geht man einmal im Monat, das genügt.«

Juliets Zuhörerinnen schütteln sich vor Lachen. Sie haben ganz vergessen, daß nicht viele in der Télème-Abtei öfter als einmal im Monat zu einem ordentlichen heißen Bad kommen, man behilft sich, wie man kann. Im übrigen, wird entschieden, ist es nicht unsere Sorge, wie Madame sich in die hiesigen Verhältnisse schickt, sondern wie wir uns mit ihr abfinden.

Madeleines Zimmer in den Stallungen hat einen roten Fliesenfußboden, weißgestrichene Wände, gebräuntes Gebälk als Decke. Es ist erfreulich kahl, als Wandschmuck dienen dicke Heizröhren, die an zwei Seiten der Decke sowohl wie dem Fußboden entlang laufen, und eine Siedetemperatur verbreiten. Man muß hier das Fenster Tag und Nacht offenhalten, tröstet sich Madeleine, die im vergangenen Trimester in einem feuchtkalten Kloster, wo alles schimmelte, rostete oder Grünspan ansetzte, nicht wenig gefroren hat.

»Und wo«, fragt sie die Sekretärin, die sie eingeführt hat, »bring’ ich meine Sachen unter?«

– Eine schöne Person; sie erinnert mich – denkt Madeleine, – an den Lionardo in der Wiener Liechtensteingalerie. Das Haar trägt sie aufgesteckt, wie die Kaiserin Elisabeth es trug, ist das jetzt hier Mode? Und gar in Verbindung mit Männerhosen? Die Frauenzimmer hier scheinen alle zweigeschlechtlich zu sein, vom Fuß bis zur Mitte männlich, von da ab aber können sie sich nicht genug tun an Weiblichkeit: Busen, Hüften, Zöpfe, Locken, komplizierte Frisuren oder langes offenes Haar. Haben sie keine Empfindung für das Zwitterhafte ihrer Erscheinung, oder taugt es ihnen, bedienen sie sich seiner zweckhaft? –

»Ihre Sachen?«, antwortet mit einer Gegenfrage die Sekretärin, »hinter dem Vorhang dort, oder hier, in dem grünen Wandschränkchen.«

Das Wandschränkchen erweist sich als mit vielerlei männlichem Kleinkram angefüllt; hinter dem Vorhang gibt es rohe und rauhe Holzgestelle, worauf man, ohne sie zu beschädigen, weder Bücher noch Toilettegegenstände unterbringen dürfte.

»Vielleicht«, fragt die Ankömmlingin schüchtern, »könnten die Bretter fortgenommen und ein paar große Nägel in die Wand darüber eingeschlagen werden? Dann möchte ich meine Kleider und Mäntel an meinen mitgebrachten Haken dort aufhängen. Es fehlt auch ein Spiegel: Aus Aberglauben nehme ich auf Reisen keinen mehr mit, seit mir einmal unterwegs einer zerbrochen wurde, ich habe dann wirklich sieben Jahre Unglück gehabt. Jetzt ist die Zahl meiner Unglücksjahre schon so angewachsen, daß ich keine weiteren riskieren kann.«

»Abergläubisch?«, fragt die Sekretärin wohlwollend, als ob sie zu einem Kinde spräche, »das finde ich ja ganz reizend, um so mehr«, fährt sie mit schiefgelegtem Kopf fort, »als es eigentlich nicht zu Ihnen paßt, Sie machen doch sonst einen so überlegenen Eindruck. Es hat mich ordentlich gefreut, wie Sie der Frau Hermione gleich klargemacht haben, was Sie als Ihre Position ansehen und daß die Gute – oder vielmehr gar nicht Gute – mit Ihnen nicht so umspringen darf, wie mit uns anderen: Es war sozusagen ein Lehrstück – ich hoffe nur, sie wird sich die Lehre merken.«

»Glauben Sie? Nun, es war gewiß nicht meine Absicht, hier, und gleich bei der ersten Begegnung, mich, wie man in Wien sagen würde, ›auf die Hinterfüße zu stellen‹, ich habe mich ganz einfach uneingeschüchtert so verhalten, wie es meine Art ist. Die Wahrheit zu sagen, geht es mir auf die Nerven, wenn ich sehe, daß die Flüchtlinge, besonders die belgischen, deutschen und österreichischen, vor unseren Wirten oder Gastfreunden kriecherisch und würdelos vergessen, was ihnen zukommt, oder, und das ist noch schlimmer, so tun, als ob sie daheim in Palästen gewohnt und von Silber gespeist hätten, auch wenn man ihren Allüren anmerkt, daß sie sich erst gestern das Messer in den Mund zu stecken abgewöhnt haben. Wenn die Dame Hermione es mit solchen zu tun hatte, kann man ihre Arroganz – obschon sie sich nicht rechtfertigen läßt – doch verstehen …«

»Ach nein, die ist ihr schon angeboren, sie hat es hier fast immer mit einer Elite von Lehrkräften zu tun, gerade deshalb freut es sie, solche, die im kleinen Finger mehr wissen und können als die ganze Hermione, ihre wirtschaftliche Überlegenheit fühlen zu lassen. Ihnen hätte man selbstverständlich ein besseres Zimmer als dieses anweisen müssen und können, es steckt schon Absicht dahinter, wenn Sie so primitiv untergebracht werden, es mangelt doch hier am Nötigsten …«

»Wenn man«, sagt Madeleine vorsichtig – man kann nicht wissen, ob diese scharmante junge Sekretärin ihre Kritik an der Prinzipalin nicht als Fangfrage aufgestellt hat, mit der Absicht, Madeleines allfällige Klagen ehestens höheren Ortes zu melden – »ein wenig mehr als vierzig Jahre in einigem Komfort zugebracht hat, merkt man nicht gleich, ob, was man selbst für ein Minimum nimmt, woanders vielleicht schon als Maximum gilt. Finden Sie meine Ansprüche sehr unbescheiden?«

»Gar nicht unbescheiden, bloß«, sagt gedehnt in ihrem slawischen Tonfall die Sekretärin, »vielleicht unerfüllbar. Soviel an mir liegt, möchte ich gewiß alles tun, um Sie zufriedenzustellen. Wenn es nicht geht, sollen Sie wenigstens wissen, daß ich mich redlich darum bemüht habe, nur fehlt es mir leider an Autorität. Ich bin erst seit ungefähr einem Jahr hier, und man muß schon eingesessen sein, um etwas zu erreichen.«

»Wann ist man hier ›eingesessen‹?«

»Im dritten Jahr fängt es an, aber die wenigsten bringen es so weit.«

»Vielen Dank übrigens dafür, daß Sie mich nicht daran erinnert haben, es gebe Krieg. Man kann jetzt selten irgendwo irgendwas verlangen – sei’s in einem Hotel, einem Restaurant, einem Kaufladen – ohne diese Zurechtweisung zu hören.«

»Das ist schon richtig. Die handlichste Entschuldigung für jede Art von Nachlässigkeit, Faulheit, Ungefälligkeit – und zuweilen der Vorwand für eine Art Erpressung; denn die meisten der offiziell verweigerten Dinge sind schon da und unter dem Ladentisch, oder, im Gasthaus, unter einem Chinasilbersturz, gegen ein gutes Trinkgeld zu haben, man muß sich nur auskennen. Ich werde also trachten, obwohl es Krieg gibt, Sie mit den unentbehrlichsten Ihrer Notwendigkeiten zu versehen, was brauchen Sie denn am dringendsten, Madame?«

»Waschgerät, denk’ ich, denn ich kann mich nicht gut an die Ausgußmuschel in der Küche nebenan halten, da die Türe weder Schloß noch Riegel besitzt …«

»… und die Burschen, die im Hause wohnen – Sie sind, nebstbei, die einzige Frau in den Stallungen –, sich dort zu waschen und zu rasieren pflegen, dann wär’s für Sie noch bequemer, Waschbecken und Krug auf den Hocker zu stellen.«

»In Wien würde man Stockerl sagen, wo ist denn eines?«

»Hinter dem Vorhang. Den Spiegel müßte man – falls ich einen auftreiben kann – dort drüben an die Wand hängen …«

»Und, womöglich, möcht’ ich auch einen Wasserkrug brauchen, denn man hat mir schon gesagt, ich sollte das Trinkwasser von der Quelle am Eingang zu dem Ehrenhof, der uns umschließt, holen, und nicht von der Wasserleitung …«

»Das war eine zeitgerechte Warnung. Wir haben hier nämlich Dysenterie endemisch, obschon ich bezweifle, daß sie von der Wasserleitung ihren Ausgang nimmt; zum Teewasser können Sie ruhig den Tscheinik von der Leitung anfüllen …«

»Tscheinik? Also Russin?«

»Das haben Sie wohl schon an meiner Aussprache gemerkt. Was den Krug angeht, wird es damit seine Schwierigkeiten haben. Sie möchten nicht glauben, was alles unsere Kinder hier an Geschirr zerbrechen, nichts können sie sorgsam hinstellen, alles wird geschmissen, dafür stört es sie nicht, Wasser – da alle Gläser kaputt sind – aus henkellosen Tassen zu trinken, sie scheinen alle am Unbehagen in der Kultur zu leiden …«

»Sie kennen Freud?«

»Eine Bekanntschaft, die ich aus praktischen Gründen zu machen hatte – ich habe mein und meines Mannes Geld an Analysen gewendet, die mir schließlich doch nichts geholfen haben …«

»Wenn Sie arbeiten können, wird’s doch mit Ihnen nicht so schlimm stehen?«

»Der Muß ist ein großer Herr. Und jetzt geht es mir ja entschieden besser. Es scheint hier die richtige Luft für mich zu wehen, kein Kirchgang, kein Zwang, keine Regel, nicht einmal feste Arbeitsstunden, ich kann sie mir nach Belieben einteilen, es kommt nur darauf an, daß die geforderte Leistung auch wirklich fertiggestellt wird, wann – bleibt mir überlassen, meistens arbeit’ ich nachts, denn vor zwei, drei Uhr morgens kann ich ja doch nicht schlafen. Richtig, das ist ein Stichwort: Sie haben hier, sehen Sie, zwei Bettgestelle – Betten kann man’s nicht gut nennen –, weil Cajus, einer unserer geschulten Arbeiter, über das Wochenende meist den Besuch seiner Frau zu erhalten pflegt. Jetzt können Sie beide Matratzen haben, auf das nackte Gestell kommt Ihr Gepäck, so …«

»Dann gehören die Dinge im grünen Schränkchen auch Herrn Cajus, darf man vermuten?«

»Ich glaub’ schon und werde ihn bitten, Platz für Sie zu machen, seine Übersiedlung erfolgte etwas plötzlich. Nun lauf’ ich schnell ins Haus hinüber, um Leintücher, Decken und Kissenbezüge zu holen, und alles übrige Zubehör. Vielleicht gibt mir Hero, die Chefköchin, einen Wasserkrug für Sie, weil sie nämlich Ihre halbe Landsmännin ist, in Nancy geboren, wenn auch hier aufgewachsen.«

»Vielen Dank für alles! Da fällt mir ein: Ich weiß ja Ihren Namen noch nicht, Sie nannten sich schriftlich und mündlich immer nur höchst unpersönlich ›die Sekretärin‹.«

»Tatjana heiß’ ich, hier nennt man mich Tatz. Wir haben jeder unseren Spitznamen, Sie werden auch einen bekommen.«

4

Als Madeleine nach den beiden ersten Lehrstunden, die ohne besonderen Unfall verlaufen sind, in ihr Zimmer hinunter will, wird sie durch einen Anruf aufgehalten. Ein schöner hochaufgeschossener Bursch, dem eine rotblonde Wotanslocke das rechte Auge verdeckt, sagt, indem er errötet: »Madame Madrus, Tristy – Herr Tristan mein’ ich«, verbessert er sich schnell, »läßt fragen, ob Sie nicht mit ihm eine Tasse Tee nehmen möchten?«

»Mit Vergnügen, wo denn?«

»Hier, gleich neben dem ›Französischen Zimmer‹.«

Über ein paar Stufen hinauf geleitet der Jüngling Madeleine in eine kleine Stube, deren Hauptwand von einem Kamin, einer Türe und einem Büchergestell beinahe ausgefüllt ist. Im Kamin flammt ein großes Feuer – sehr erwünscht, denn die Radiatoren im Französischen Zimmer geben, ungleich den Heizröhren in Madeleines Schlafzimmer, gar keine Wärme ab. Über dem Kamin hängt eine verkleinerte und etwas eingeschlagene Kopie des Wiener Giorgione, die anderen Wände tragen hausgemachten Bilderschmuck, von Tristans Schülern, läßt sich annehmen. Dem Giorgione gegenüber, der in solcher Umgebung beinahe akademisch wirkt, gibt es ein Nachtcafé mit hingelümmelten Gästen, die trübe Biesterfarbe drückt die Hoffnungslosigkeit der Situation überzeugend aus, die Formensprache ist von Daumier übernommen, aber eigenwüchsig verjüngt; daneben hängt etwas in schwärzlichem Absinthgrün, von roten und schwefelgelben Farbflecken aufgehellt, es ist – nicht gleich zu unterscheiden – ein Vorhang oder eine schimmlige Hauswand, an der zwei Nachtbummler niedergesunken sind, kaum körperlicher, als wären’s ihre leeren schwarzen Gewänder. Links davon ist etwas Solideres, etwas Altmodischeres, eine Schneelandschaft, die an den winterlichen Semmering erinnert, und dem Fenster gegenüber ein spanischer Hof, ein »patio«, mit grellem Granatbusch an der Mauer und grellblauem Himmel darüber, ein hübsches Bildchen, aber ganz ausgestochen und blind gemacht von seinem Nachbarn, einer Jahrmarktszene mit einem ockerfarbenen Zelt, einem Zirkuskomödianten auf hohen Stelzen und einem Ringelspiel im Hintergrund. Die Zeltwand auf der einen Seite – der Stelzengänger auf der anderen, neigen sich gegeneinander, so daß sie ein ausgespartes Rhomboid abgrenzen.

»Wie das«, sagt Madeleine zu Tristan, der eben mit einem Teebrett hereinkommt, »an Tiepolo erinnert! Nicht in den Farben –, Tiepolo gebrauchte weder Ocker noch gebrannte Terra di Siena, sein Blau ist heller, und sein eigentümliches Rosa fehlt hier –, aber der Form nach. Das hier gemahnt mich an eines der Passionsbilder in San Tommà in Venedig, wissen Sie, welches ich meine?«

»Ich bin leider niemals in Venedig gewesen und kenne Tiepolo nur in Auswahl; es kann aber sein, daß ich Benedict etwas von ihm gezeigt habe, das ihn nun beeinflußt hat.«

»Alles reine Erfindung, keine Naturstudien?«

»Nicht für diese Art Bilder. Ich halte einen Aktkurs, und einen Abendkurs, Kostüm mit lebendem Modell, leider kommen nicht alle zum Aktkurs, obzwar er doch so wichtig ist. Nehmen Sie Zucker, einen Löffel, zwei?«

»Zwei, wenn’s nicht zu unbescheiden ist.«

»Keineswegs, wir haben hier Zucker in Fülle, wir leben hauptsächlich von Milch und Tee, Brot, Butter und Jam, die übrige Kost heißt nicht viel, für Ihren französischen Gaumen wird sie vollends ungenießbar sein. Ich habe mir ja in Paris kein gutes Restaurant leisten können, aber in jeder Crêmerie speist man fürstlich, gegen unseren Schlangenfraß gehalten. Ich weiß nicht, warum wir so heruntergekommen sind, früher war’s recht gut, und die Köchin hat nicht gewechselt, bloß ihre Laune; noch sind wir in der Belieferung wesentlich schlechter dran, ich glaube, der wahre Grund ist Heros unglückliche Liebe.«

»Zu Spargel, Artischocken und Poulards, oder zu einem Lebewesen?«

»Schon eher das letztere.«

»Und ihr trauriges Geheimnis ist allgemeiner Besitz?«

»So ungefähr. Alle unsere kleinen Affären hier sind es. Man nimmt Herzensangelegenheiten ungemein natürlich in Télème und erkundigt sich nach ihrem Befinden, als wär’s ein Schnupfen. Wie geht es übrigens dem Ihrigen?«

»Danke, viel besser. Vielleicht sind sie dann – die Herzensangelegenheiten mein’ ich – nicht viel mehr als ein Schnupfen? Rhume au cœur. O weh, das ist die Glocke, ich muß ins Französische Zimmer hinüber. Wen hab’ ich nur jetzt?«

Madeleine blickt auf ihren Stundenplan. »Gruppe B. Das sagt mir nicht viel: Können Sie mir vielleicht verraten, was es bedeutet?«

»Gruppe B besteht aus Buben und Mädeln, die vom nächsten Juli in einem Jahr zur Prüfung kommen; A kommt heuer daran, C in zwei Jahren. B ist eine besonders erfreuliche Zusammenstellung, die Begabtesten der ganzen Schule, scheint mir. Sie haben Benedict darunter, der den Jahrmarkt gemalt hat, Diego, von dem der Patio herrührt, Beatrice, das gescheiteste Mädel der Télème-Abtei … Wissen Sie übrigens, wie Sie später ins Haupthaus und in die Speisesäle gelangen? Nein? Florizel!«

Hinter dem Vorhang, der das nächste Zimmer – die Werkstatt – abschließt, kommt ein schöner Bursch hervor, nicht der nämliche wie vorhin, wenn auch ihm eine Wotanslocke übers Auge hängt, diesem hier über das linke.

»Florizel, wollen Sie so gut sein und Madame den Weg zu den Fleischtöpfen zeigen, wenn’s soweit ist? Sie erwarten Madame um halb eins vor dem Französischen Zimmer.«

»Seheher ggegern, mit dem grogrögrösten Vergnügen, wirklich!«

Florizel, sehr vergnügt, weil er nun zu Ende gestottert und zwei ganze Worte tadellos herausgebracht hat, verneigt sich, Madeleine nickt Tristan zu und zieht sich in ihren Bereich zurück.

Nachdem sie Gruppe B und Gruppe A überstanden hat, findet sie richtig den Jüngling, ihrer wartend, auf der Schwelle. Draußen ist es kalt und neblig, die hohen Eschen tragen Wattefetzen an ihrem Gezweig, Krähen fliegen blauschwarz durch die feuchte Stille, ein Flugzeug zieht gedämpften Geräusches vorüber, es ist, als wäre man auf Meeresgrund und sähe nahe dem Spiegel die Schatten großer und kleiner Schiffe hingleiten.

»Wie gegegefällt es Ihihihnen dedenn im Krähehehennest, Madame Madrus?«

»Wo? Im Krähennest? Was ist das?«

»Ununsere Schuschule. Ein Spispitzname.«

»Ich dachte, sie heiße Télème-Abtei?«

»Offifiziell, auauf den Drucksorsorten schon, aaaber wiwiwir hahahaben sisie umumumgegetauft, haben Sie denn das Krähennest nicht gesehen?«

Florizel strahlt, er hat einen ganzen Satz fehlerlos herausgebracht.

»Eine ganze Menge Krähennester sogar, dort drüben …« Madeleine streckt die Rechte nach den hohen Eschen aus, worin, neben weißen Flocken Nebels, viele schwarze Nesterklumpen aufgehängt sind.

»Dadas sisind nicht diedie richrichtigtiggen. Bloße Nachahmung. Sie gehöhören gagar nicht uuuns. Dododort bebebeginnt schoon der Kirkirchenhohof.«

»Der Kirchhof ?«

»Der Kirchenhof, eiein Nanachbabargugut, ees heißt soso wewewegen deder Nähe deeer Kirchehe. Unununser Kräkräkrähennest ist einzig.«

»Und die Bedeutung? Ihr seht mir doch nicht gerade nach Krähen aus, seid eine zwar lärmende, aber doch eher bunte und vergnügte Volière.«

»Aaaber wiwiwir beibeiheißen eieinander wiewie diediedie dooort droooben.«

Aus dem Krähennest kommt kreischender Lärm. Zwei große schwarze Vögel trachten einander aus dem Nest zu werfen, sie schelten, schreien, krächzen einander an, kehren sich endlich den Rücken.

»Es wird, hoff’ ich«, sagt Madeleine, »zuletzt doch gut ausgehen, eine Krähe hackt, nach dem Sprichwort, der anderen kein Auge aus. Nur weiß ich freilich nicht, ob hier überlieferte Sprichwörter noch in Geltung stehen?«

»Sesehehen Sie, Madame Mamadrudrus, wir halten uns an diediedie Übüberlieferung, wenn sie uuns papaßt, in ananderen Fäfällen lelehlehnen wir uuuns dadadagegen auf. Aaber Sisie hahaben meine Frafrage nicht bebeantwowortet: wie es Ihihnen hier gefällt.«

»Das wär’ auch zu früh, ich kenn’ doch erst einen bescheidenen Teil – bescheiden soll sich natürlich nicht auf den Charakter, sondern nur auf die Anzahl meiner Schüler beziehen –, der jungen Krähen, und kenn’ mich in ihrem Nest noch so wenig aus, daß ich ohne Ihre Hilfe nicht einmal zur Krippe fände. Vielen Dank für die Führung, nur werden wir, fürcht’ ich, keinen Platz mehr bekommen.«

In der großen eichengetäfelten Halle sind drei lange Tische – einer vor dem Kamin, einer in der Nische des Treppenaufgangs, einer an der Querwand – dicht besetzt.

»Schauen wir weiter.«

Florizel öffnet eine Türe, aus der Helligkeit, Stimmengewirr und der flüchtige Blick heiterer Wandbilder kommt.

»Dededer grgroße Speispeisesasaal gegehört eieigentlich dededen Mimimittelschüschülern, wiwir nenennen ihn dedeshalb de Enenklave Dodorrit. Vivivielleicht ist im kleiikleinen nonoch etwas ffrrei.«

Florizel öffnet eine andere Tür, Madeleine erkennt zu Häupten des nächsten Tisches die Sekretärin; Tatjana winkt ihr zu.

»Ich habe einen Platz für Sie am unteren Tafelende vorbehalten, Madame Madrus. Sie, Florizel, werden vielleicht drüben bei Olivia ein Unterkommen finden.«

Madeleine findet auf dem ihr zugewiesenen Platz Gabel und Messer gekreuzt, das heißt, wird ihr bedeutet, daß dieser Platz reserviert ist. Der Tisch ist mit königsblauen Baumwolläufern von zweifelhafter Reinlichkeit umrandet und recht sorglos gedeckt, vor Tatjana steht ein Stoß dicker weißer Teller, es kommen zwei junge Mädchen mit einer riesigen Holztasse, von der sie an jedem Tisch zwei Schüsseln – Gemüse und Kartoffeln – abladen, eine dritte Schüssel steht bereits vor Tatjana, sie beginnt auszuteilen, ein hochgefüllter Teller wandert von Hand zu Hand abwärts, bis er vor Madeleine Halt macht, die es für ein Gesellschaftsspiel nimmt, und ihn weiterreichen will.

»Nein, Madame Madrus«, sagt ihr junger Nachbar, »das ist Ihr Teller.«

Madeleine begreift, daß, wer zu Häupten des Tisches sitzt, den ersten Gang austeilt, wer am Fußende sitzt, zuerst bedient wird. Mit dem Pudding geht es umgekehrt. Madeleine hat einen Stoß Dessertteller vor sich, später kommt die Reihe auszuteilen an sie.

Man erkennt zwar im Krähennest – denkt Madeleine – Überlieferungen nicht an, hat aber einige aus eigenem geschaffen, man kann offenbar ohne sie doch nicht ganz auskommen. Übrigens ist es schade, daß ich nicht von der Luft oder von Tabletten leben kann, ein voller Teller, Fleisch, Gemüse und Erdäpfel übereinandergehäuft und mit brauner Tunke begossen, dagegen kommt nicht einmal mein Luftveränderungshunger auf. Tristan hat recht: In jeder Pariser Crêmerie wird man appetitlicher bedient. –

Eine Schnitte Pain de luxe wäre mir lieber, aber freilich gibt es jetzt wohl kein Pain de luxe mehr in Paris, außer für den deutschen Generalstab, die deutsche Zivilverwaltung – und vielleicht noch für Ernest Mathieu. Für die anderen aber ist nun wohl jedes Stückchen Brot ein Luxus. Hat man hier übrigens keine festen Plätze, ist es nicht Sitte, daß jedem Tisch ein Lehrer vorsitzt? –

Sie muß das laut gedacht haben, denn ihre Nachbarin zur Linken, ein rotwangiges Mädchen mit aufgestülpter Nase, das geradewegs aus den Blättern des Struwelpeters ins Leben der Télème-Abtei getreten zu sein scheint, antwortet keck: »O nein, wer zuerst kommt, mahlt zuerst! Früher, ja, da ist jedem Tisch ein Lehrer vorgesessen, aber wir haben das abgeschafft, außerhalb der Schulzimmer sind wir alle gleich, da braucht’s keine Aufsicht.«

– Frecher Fratz! – denkt Madeleine und blickt das Struwelpeter-Mädchen still an.

– O je – denkt dieses –, es ist vielleicht besser, man läßt sich mit der Neuen nicht ein. Mademoiselle Tellier war jünger und, wenn auch manchmal sehr sarkastisch, leichter zu behandeln. Schade, daß sie jetzt in Richmond, Virginia, Französisch unterrichtet! –

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