Kitabı oku: «Der wandernde Krieg - Sergej», sayfa 5
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Der Mann, der sich Bodo von Reudh nannte, stand vor dem Tor zu seinem neuen Heim und schaute in den Sonnenuntergang. Bald, bald, wenn das glühende Rot des Himmels gänzlich zu Dunkelheit geworden war, würde die Nacht kommen. Viele Nächte. Er hatte Zeit. Noch zahlreiche Monate würden vergehen, bis er die erste Verbindung schaffen musste. Das erste Opfer. Er dachte an die Journalistin, die ihn heute besucht hatte. Vielleicht die vierte Verbindung? Oder gar die letzte, die große? Nein, wohl nicht. Sie würde kaum die Voraussetzungen erfüllen. Er lächelte. Nur nichts überstürzen, bis dahin war noch so viel Zeit. Zeit zu planen. Zeit vorzubereiten. Zeit zu beobachten. Zeit, es richtig zu machen.
Er lächelte nicht mehr.
Oh ja, er musste es richtig machen, diesmal.
Keine Fehler mehr.
Diesmal musste es gelingen.
Teil 2
Karten und Träume (2006)
I had to close everything,
I had to close down my mind
(Moby, Extreme Ways)
So when you’re all alone,
and you hear a knocking at your door
And the air is full of promise
Well, sister, you’ve been warned
(Nick Cave, Let Love in)
1
Nach der Landung in Köln verließ ich das Flugzeug ohne Hast und ließ die ausgelassenen Mallorcafahrer an mir vorbeiströmen. Als ich aus der grauen Gangway in das Flughafengebäude trat, zog ich meine Sonnenbrille aus der Tasche und setzte sie auf. Eine Baseballkappe verdeckte meine Narbe.
Die zwei Jahre auf Mallorca waren eine gute Zeit gewesen. Das Haus der Bengers lag hoch in den Hügeln, am Ende eines langen, steinigen Weges. Miguel, ein Freund von John und Shirley, der in Manacor wohnte, kannte die Geschichte vom verfolgten Weißrussen und versorgte mich mit Lebensmitteln. Ich hatte meinen Lebensrhythmus bald komplett umgestellt, schlief tagsüber und streifte nachts durch die Gegend. Es gelang mir, ein paar Strände zu finden, für die sich kein Tourist zu interessieren schien. Dort verbrachte ich viele Nächte, schwamm manchmal, saß aber meistens nur an der Wassergrenze und sah auf das Meer hinaus. Ich lernte ein paar Leute kennen, Nachtschwärmer wie ich. José, Ines und Mercedes, eine der Nachtcrews eines kleinen Radiosenders. Duncan, einen Australier, der ein Haus mit Bucht besaß und den Tag ebenfalls mied. Ich hatte ihn bei einem meiner Spaziergänge in den Hügeln getroffen, wo er mitten auf dem Weg gesessen, Dosenbier getrunken und die Sterne betrachtet hatte. Duncan brachte mir das Tauchen bei, mit Ines schlief ich manchmal. Als mir Mark nach eineinhalb Jahren signalisierte, dass es langsam Zeit wäre, den Bengers das Haus zurückzugeben, zog ich bei Duncan ein. Doch meine Nächte verbrachte ich immer noch meist alleine, in den Hügeln, an den Stränden. Einen Platz zum Schlafen zu finden war nie schwer: In Duncans Haus, in Ines’ Bett, auf Josés Sofa. Niemand wollte wissen, warum ich auf der Insel war und den Tag scheute, genauso wie es mich nicht interessierte, woher Duncan sein Geld hatte oder warum er nur nachts lebte. Die Nächte verflossen und wurden eins, ein stetiger, langsamer Fluss, auf dem ich ruhig trieb. Ich gewöhnte mich an den friedlichen Strom und lebte in seinem Rhythmus. Ich hatte Frieden. Doch eines Tages brachte Miguel einen Brief von Mark und Sandra, in dem sie die Vorbereitungen beschrieben, die sie für meine Rückkehr getroffen hatten, und ich stellte wehmütig fest, dass meine Zeit der Ruhe in weniger als einem Monat zu Ende gehen würde. Das war am 24. Mai gewesen.
Zwei Nächte vor meiner Abreise saßen wir alle auf Duncans Veranda – im Laufe der Zeit hatten der Australier und meine spanischen Freunde sich zwangsläufig kennengelernt. Ich hatte ihnen gesagt, dass ich bald abreisen würde, und zum ersten Mal eine Erklärung für mein Leben auf der Insel angedeutet, die mit Abstrichen dem glich, was Miguel glaubte. Die Stimmung war daher leicht melancholisch, aber nicht eigentlich gedrückt. Trotzdem stellte ich im Laufe des Abends fest, dass ich so traurig war wie seit sehr langer Zeit nicht mehr. Ich erkannte, dass ich in diesen zwei Jahren glücklich gewesen war.
Ich traf einige Zeit nach meinen Mitpassagieren bei den Gepäckbändern ein. Die meisten von ihnen hatten schon eine seltsame Metamorphose durchgemacht. Aus den lauten Mallorcaveteranen waren wieder deutsche Alltagsmenschen geworden. Das breite Grinsen war aus ihren Gesichtern ebenso verschwunden wie ein gewisser Erobererstolz. Es wurde gemurmelt, die ersten Paare keiften sich an. Ich betrachtete das langweilige Treiben mit Desinteresse, mich interessierte nur mein Gepäck. Ich wollte schnell hier raus und mit Sandra und Mark zu dem Haus, das sie für mich gekauft hatten. Ich brannte darauf, die beiden wiederzusehen. Hatte ich mich über ihren Brief im Mai fast noch geärgert, so freute ich mich nun umso mehr, endlich nach all der Zeit eine Weile mit ihnen verbringen zu können.
Es passierte, als ich, einen Gepäcktrolley schiebend, aus dem langen Gang von der Gepäckausgabe zur Wartehalle trat. Ich ging einige Schritte, glaubte aus dem Augenwinkel Sandra zu erkennen, drehte den Kopf nach rechts und ging mechanisch geradeaus weiter. Ich hatte gerade noch Zeit zu erkennen, dass es nicht Sandra war, dann krachte es metallisch. Ich hörte einen hellen, halblauten Schrei, mein Trolley zog nach rechts, ich stolperte, kippte den Gepäckwagen mit um, fiel, stieß an meinen Koffer, und die Sonnenbrille flog in hohem Bogen durch die Luft. Die Welt wurde hell, und ich landete mit der Brust auf einem Haufen aus Koffern und Taschen, der eben noch nicht da gewesen war. Auf der anderen Seite des Haufens hörte ich etwas.
„Outchdammit.“
Ich zog mich etwas hoch und an dem Gepäckchaos entlang. Da hockte sie, auf der anderen Seite, und hielt sich das Knie. Eine Frau, ziemlich klein und sehr schlank, mit einem kurzen, blonden Schopf. Dann drehte sie ihr Gesicht zu mir, das bis jetzt durch den hochgeschlagenen Kragen ihrer Lederjacke verdeckt gewesen war, und ich sah die Augen. Klare, große, dunkelblaue Augen. Ich versank augenblicklich darin. Halb über die heruntergefallenen Koffer gestreckt verharrte ich wie eingefroren und starrte nur. Und sie wendete sich nicht ab. Sie sah mich nur an. Sie zog mich immer tiefer hinein. Von irgendwoher kamen Stimmen.
„Erin.“
„Sergej! He, Sergej.“
Hintergrundmusik. Sie sagte mir nichts.
Schritte, Rufe, etwas tauchte über ihr auf, eine Hand fiel auf meine Schulter. Ich schüttelte sie ab. Ich wollte nicht.
„Sergej …“ „Erin, ist alles …“ „ … wach auf …“ „ … in Ordnung, hast …“ „ … verdammt, was …“ „ … du dir weh …“ „ … ist los …“ „ … getan, was …“ „ … mit dir, du …“
Wortgewirr, das ich nicht verstand. Aber langsam zog es uns beide zurück in die Welt um uns. Sie kam als Erste an.
„Sorry, ich …“
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, nein, es war meine Schuld.“
Wir standen auf, ich reichte ihr über den Gepäckhaufen eine Hand zur Hilfe, die sie nicht brauchte, aber nahm. Als wir standen, nahm ich zum ersten Mal wahr, welches Chaos ich angerichtet hatte, als ich mit meinem Gepäckwagen in ihren gelaufen war. Die umgestürzten Trolleys bildeten den Rahmen, die durcheinandergefallenen Gepäckstücke die Mitte, und dazwischen standen wir. Neben ihr hatte sich inzwischen eine Frau eingefunden, Ende zwanzig, Anfang dreißig, wie sie selbst, ebenfalls blond, aber groß. Offenbar eine Freundin, die sie besorgt ansah. Auf der anderen Seite meines Gepäckwagens stand Sandra und hielt sich eine Hand vor den Mund. Ich verdächtigte sie zu grinsen. Mark war neben mir, und ich konnte Gott sei Dank seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen.
„Was ist mit Ihrem Knie?“, ignorierte ich meine Freunde.
Sie lächelte und machte mit der freien Hand eine wegwerfende Bewegung. „Halb so schlimm.“ Ich registrierte zum ersten Mal, dass sie einen amerikanischen Akzent hatte. Ich fand ihn süß. Wie die Handbewegung. Und das Lächeln.
Irgendwie lösten sich unsere Hände voneinander, wir richteten unsere Gepäckwagen wieder auf und begannen synchron, sie zu beladen. Ihre Freundin und meine Freunde besahen sich das Spiel, ohne daran teilzunehmen. Ich war zuerst fertig und half ihr, dann standen wir alleine zwischen unseren Wagen. Sie fuhr sich mit der Hand durch die Haare.
„Okay, dann … Danke fürs Helfen.“
„Keine Ursache. Ich habe Sie ja immerhin über den Haufen gerannt.“
Sie lachte.
„Nein, nein, war gar nicht so schlimm. Ich habe ja auch nicht geschaut.“
Wir sahen uns noch eine kurze Weile an, dann streckte sie die Hand aus.
„Gut … Tschüss dann.“
Ich nahm die Hand. „Tschüss.“
Sie löste sich langsam von mir, lächelte noch einmal, nickte mir zu, drehte sich um, nahm den Gepäckwagen, flüsterte ihrer Freundin etwas ins Ohr, und sie gingen in Richtung Ausgang. Ich sah ihnen nach. Bevor sie verschwand, drehte sie sich noch einmal um und winkte. Ich hob langsam meine Hand und grüßte zurück. Dann drehte sie sich um und war weg.
„Na, sind wir jetzt wieder ansprechbar?“
Ich wandte um und sah in dem heftigen Widerstreit zwischen Besorgnis und Belustigung in Marks Gesicht, wie ich aussehen musste.
„Oh Mann.“ Mehr konnte ich nicht sagen.
Jetzt brach er in Gelächter aus und schloss mich in die Arme. „Herzlich willkommen zu Hause, alter Freund.“
Sandra umarmte mich ebenfalls und drückte mir meine Sonnenbrille in die Hand. „Es ist so schön, dass du wieder da bist.“
Ja, sie grinste, und zwar unverhohlen und von einem Ohr zum anderen.
Mark nahm meinen Gepäckwagen und ging voraus, Sandra und ich folgten Arm in Arm. Ich war zu Hause.
Verdammt, verdammt! Ich hätte sie nach ihrem Namen fragen sollen. Und der Telefonnummer.
2
Von allen unbemerkt im Trubel der Halle stehend hatten zwei kleine Gestalten die Szene beobachtet. Hätten Sergej oder Sandra sie sehen können, hätten sie sie sofort erkannt. Sie trugen dieselben Kleider wie damals. Und sie sahen nicht einen Tag älter aus.
3
Aus Recha Golds Tagebuch
Mittwoch, 21. Juni, 4.15 Uhr, morgens
Hatte gerade wieder einen von diesen Träumen, und ich kann nicht wieder einschlafen. Muss immer über den Traum nachdenken. Ich habe das Gefühl, dass er mich an etwas erinnert. Dasselbe Gefühl, das ich immer habe, wenn ich einen von diesen Träumen habe. Kann es nicht greifen. Werde einmal versuchen, den Traum aufzuschreiben, vielleicht hilft es etwas. Vorher aber Kaffee.
Der Traum begann wie immer: Ich ging von der Redaktion aus zu Fuß nach Hause. Dann schien die Stadt sich irgendwie zu drehen, die Straße führte nicht mehr nach Hause, sie war auch gar nicht mehr die Leverkusener Straße, sie war plötzlich die Neurather Landstraße. Ich ging in Richtung Neurath, und es schien ein Gewitter aufzuziehen, jedenfalls wurde es immer düsterer. Als ich an der Stelle stand, an der es links zum Gut geht, traf ich auf zwei kleine Kinder, ganz in Weiß gekleidet. Sie sagten mir, ich solle mich setzen und zusehen, also setzte ich mich auf die Bank. Das Tor zum Gut öffnete sich, und Reudh kam heraus. Er sah aus wie immer, scheißfreundlich und scheißfalsch. Um die Schultern trug er einen langen roten Mantel, wie ein St. Martinsdarsteller beim Martinszug. Reudh sah allerdings weniger wie die Sorte aus, die den Mantel mit einem Bettler teilt, als wie die, die den Bettler teilt. Er warf trotz der Dunkelheit einen gewaltigen Schatten, der nicht wie der Schatten eines Menschen aussah, sondern wie von irgendwas, das ich schon mal gesehen habe. Ich sehe ihn vor mir, aber ich komme nicht drauf. Jedenfalls hob er die Hand und winkte. Er winkte nicht mir. Ich sah mich nach den Kindern um, aber die waren weg. Stattdessen kamen die Bewohner von Neurath aus ihren Häusern und gingen in einer langen Reihe, einer hinter dem anderen, über die Straße und zum Gut hinüber. Im Traum versuchte ich, sie anzusprechen. Aber sie gingen stumm an mir vorbei, den Blick auf Reudh geheftet. Endlich waren sie alle drüben und stellten sich hinter ihm auf, ein stummer Chor mit weit aufgerissenen Augen. Von meinem Platz aus konnte ich erkennen – im richtigen Leben wäre ich viel zu weit weg gewesen –, dass sie alle rote Tränen weinten, als würden sie aus den Augen bluten. Reudh rief etwas. Ich sah die Straße hinauf, und aus dem Dunkel kamen sechs seltsame Paare: ein kleiner Junge, der einen Hund führte, ein alter Mann und eine etwas jüngere Frau, zwei Jungen, die genau gleich aussahen, offensichtlich Zwillinge, ein junger Mann und eine junge Frau, die sich an den Händen hielten, dann wieder ein erwachsenes Paar und zuletzt ein Mädchen, das ein Baby trug. Diese seltsame Gemeinschaft ging an mir vorbei und bog in den Weg ein, der zum Gut führte. Kurz bevor sie Reudh erreichten, hob er die Hand, und sie sanken entlang des Weges zu Boden, die ersten drei Paare rechts, die zweiten drei links. Dann rief Reudh erneut, diesmal verstand ich ihn.
„Seht, die Mutter des großen Tores.“
Aus dem Dunkel kam ganz alleine ein junges Mädchen, höchstens siebzehn. Sie trug schwer an einer Schwangerschaft und sah sehr krank aus. Sie nahm denselben Weg wie die anderen, ganz langsam, und als sie vor Reudh stand, kniete er nieder und sagte: „Dies ist das große Tor.“
In diesem Moment fiel von hinten ein anderer, gewaltiger Schatten über mich. Ich versuchte, mich umzudrehen, aber es ging nicht. Der Schatten hatte eine klare Form: die eines großen Turmes, wie im Schachspiel, und darauf eine Gestalt.
Reudh stand auf und sah über mich hinweg. „Du bist schwach“, rief er. Dann war es eine ganze Weile still, bis eine Stimme zu sprechen begann. Sie kam von hinten, daher, von wo der Schatten kam. Es war eine leise Stimme. Voll Hass.
„Du vergisst, wer ich bin, Knecht!“
Dann begann mit einem Mal alles in Flammen aufzugehen, Häuser, Bäume, Straße, Menschen, alles verbrannte in ungeheurem Getöse, das Haus begann in sich zusammenzufallen, die Menschen, Menschen, die ich schon lange kenne, verbrannten schreiend. Reudh war verschwunden, ebenso der Schatten des Turmes. Nur noch Feuer überall, die Flammen rasten von allen Seiten auf mich zu, und ich erwachte mit einem Schrei auf den Lippen. Wenn ich ihn nicht runtergeschluckt hätte, hätte ich wahrscheinlich das ganze Haus zusammengeschrien. Was für ein beschissener Traum.
6.07 Uhr
Wie konnte ich nur so blind sein?
Ich habe mir alles, was ich aufgeschrieben habe, noch mal durchgelesen. Wie konnte ich das nur übersehen? Aber bisher habe ich den Traum immer vergessen, vom Anfang abgesehen. Und jetzt habe ich meine Aufzeichnungen mit dem Traum verglichen und frage mich, wie ich so dermaßen blind sein konnte. Recha Gold, die Investigative. Blind wie ein Maulwurf.
Oder habe ich doch nur verarbeitet, was in den letzten zwei Jahren passiert ist?
Reudh, der das Gut kauft. Der sich in dieser Stadt einnistet, mit seinem Geld und seinem Grinsen, wie ein verdammter Vampir. Der ganz Neurath dermaßen in seinen Bann zieht, dass einem nach und nach alle Neurather vorkommen wie Halbkretins, auch die, die nicht von Anfang an welche waren. Über Gustav Wegner habe ich mich nur kurz gewundert, er ist der Typ, der einem Charismaten wie Reudh nachläuft. Aber Steffen Bennig? Oder die Bewenungs? Und sogar Melanie. Ich habe sie in letzter Zeit kaum noch getroffen und wenn, schwärmt sie mir von IHM vor, wie toll er ist, wie gut er aussieht, wie er das Gut wieder aufgebaut hat (früher ging ihr das Gut am Arsch vorbei), was er für tolle Partys gibt (offenbar sind es exklusive Neurath-Partys), es ist, als hätte sie sich „NIMM MICH, BODO VON REUDH“ in großen roten Buchstaben auf die Stirn tätowiert.
Und dann haben die Morde angefangen. Alle drei Monate einer. Und ich will verdammt sein, wenn es keinen Zusammenhang gibt, auch wenn weder Opfer noch Hergang noch sonst irgendwas übereinstimmt. Gut, nur der zweite und der vierte haben direkt hier in Langenrath stattgefunden, aber die anderen beiden direkt in der Nachbarschaft, in Solingen und Opladen.
„Tolle Theorie, Recha“, hat Schümer gesagt. „Schreib ein Drehbuch für den, Tatort‘, vielleicht kaufen die dir das ab. Mich lass damit bitte in Ruhe.“
Das war nach dem dritten Mord, dem an der Frau in Opladen. Natürlich werden ständig Leute ermordet. Aber nicht hier, nicht so oft. Und der Zeitpunkt hat gestimmt. Und einige Sachen, die ich Schümer lieber nicht gesagt habe, sonst hätte er mich nicht nur aus dem Büro geschmissen. Ich bin drangeblieben. Ich habe an einen Serienkiller gedacht, einen Irren. Und jetzt der Traum. Wenn man es richtig interpretiert, kann es stimmen. Mit einer Ausnahme. Oder vielleicht …
Ich habe noch mal nachgesehen. Vielleicht waren es gar nicht vier Morde. Vielleicht waren es fünf. Dann würde es passen. Wollen wir ehrlich sein, Recha: Dann hast du es dir passend gemacht. Und was spricht dafür, dass Reudh etwas damit zu tun hat? Auch ehrlich bleiben: nichts als der Traum und meine Abneigung gegen ihn.
Aber es ist vieles anders geworden in den letzten zwei Jahren, nicht wahr? Ich kenne niemanden, der sich nach Einbruch der Dunkelheit alleine raustraut. Jedenfalls nicht, wo es etwas einsamer ist, am Wald oder auf den Dörfern. Es passieren zu viele seltsame Dinge. Und die Leute aus Neurath? Wann sieht man sie überhaupt noch mal? Und machen nicht alle einen Bogen um das Dorf und das Gut?
Nichts Greifbares, Recha. Gefühle. Stimmungen. Nervosität. Und Phantastereien.
Da sitze ich nun, mit meiner Serienkiller-Akte, auf die ich so stolz war. Was soll ich tun, Tagebuch? Herrje, bei Licht betrachtet kann ich es Schümer nicht mal übel nehmen …
Nur ein Traum.
Nur ein Traum.
Heute ist der 21. Juni.
In diesen Tagen müsste es wieder passieren, wenn ich Recht habe, egal in welcher Hinsicht. Vier Morde oder fünf? Ich werde mich noch einmal umhören.
Ich werde nach dem Hund suchen.
Und die Leute aus Neurath? Wann sieht man sie überhaupt noch mal?
Selbstverständlich sah man die Neurather noch, die Langenrather trafen sie jeden Tag. Sie kamen zum Einkaufen in die Stadt, denn in Neurath gab es kaum Geschäfte, sie gingen ihren Berufen nach, die wenigen Kinder und Jugendlichen gingen zur Schule, ganz wie immer. Und doch nicht wie immer. In den zwei Jahren, seit Bodo von Reudh das Gut gekauft hatte, hatten die Neurather sich mehr und mehr auf sich selbst zurückgezogen. So schien es zumindest. Doch selbst eine aufmerksame Beobachterin wie Recha Gold hätte nicht sagen können, wann und wie es genau begonnen hatte, wie weit es fortgeschritten war und wie weit es damit noch gehen konnte oder würde. Es war langsam geschehen, unmerklich, so wie Pflanzen wachsen, Kinder altern, Gebäude verfallen.
Melanie Seiler, Rechas Freundin und Kollegin, mit der sie früher so oft im Schwimmbad gewesen war und mit der sie sich die Recherchen geteilt hatte, arbeitete kaum noch für die Langenrather Neuesten Nachrichten. Es hatte damit angefangen, dass sie immer öfter Aufträge aus anderen Quellen bekam. Für eine freie Journalistin war das nichts Außergewöhnliches, auch Recha arbeitete hin und wieder für andere Blätter als die LNN. Früher hatten sie sich davon erzählt, sich Tipps gegeben und Kontakte vermittelt. Doch Melanie hatte begonnen, sich bedeckt zu halten, geheimnisvolle und wichtige Aufträge anzudeuten, obwohl Recha nie ein Ergebnis dieser Arbeit sah oder las. Dann hatte sie begonnen, unzuverlässig zu werden, hatte Absprachen nicht eingehalten und Termine verpasst. Recha war zuerst verärgert gewesen, dann besorgt. Thomas Schümer allerdings, Chefredakteur der LNN, hatte sich mit Besorgnis nicht lange aufgehalten. Er hatte Melanie einmal gewarnt und sie dann aus dem Pool der regelmäßigen freien Mitarbeiter geworfen, er rief sie nur noch an, wenn die Personaldecke allzu dünn war.
Melanie hatte das alles scheinbar nicht berührt. Sie hatte die Sorge ihrer Freundin ebenso schweigend und lächelnd hingenommen wie den Zorn ihres Chefs. Als es Recha eines Nachmittags endlich gelang, Melanie zu einem Spaziergang in den Hügeln zu überreden, prallte jeder ihrer Versuche, zur Ursache des seltsamen Verhaltens ihrer Freundin vorzudringen, an dieser ab. Stattdessen schaute Melanie in den Himmel und begann, von Bodo von Reudh zu sprechen und davon, wie gut nun alles in Neurath war, wie ihr eigenes Leben sich zum Guten gewendet hatte und wie viel besser alles noch werden würde. Dabei schaute sie Recha niemals an. Und es war völlig klar, dass all die großartigen Dinge, die geschehen würden, Neurath und die Neurather betrafen. Melanie schien zu den Wolken zu sprechen, nicht zu der Frau, die neben ihr ging und mit der sie seit der Grundschule befreundet war. Recha fröstelte. Sie versuchte nicht mehr, zu Melanie durchzudringen, und sie war nicht überrascht darüber, dass sie sich immer seltener sahen. Und Recha begann, Neurath zu meiden.
Recha wusste nicht, dass Steffen Bennig, der mit ihnen beiden zur Schule gegangen war und der Schwimmmeister im Waldbad war, nun mit Melanie zusammenlebte. Die beiden waren sich auf einer der Zusammenkünfte im Gut nähergekommen. Einer dieser Zusammenkünfte, an die sich danach alle nur vage erinnern konnten – worüber niemand je sprach. Die Zusammenkünfte gaben Kraft und Selbstbewusstsein und das Gefühl, Teil von etwas Großem und Wichtigem zu sein, sie halfen, alles andere zu meistern. Nach dieser besonderen Zusammenkunft im März war Melanie neben Steffen aufgewacht, in seinem Bett. Sie wussten beide nicht genau, wie es dazu gekommen war, aber sie wussten, wussten ganz sicher, dass es richtig war so, dass es nicht anders sein konnte, dass sie füreinander geschaffen waren. In all den Jahren zuvor hatten sie nichts dergleichen gespürt, nun aber wussten sie es ohne jeden Zweifel.
Manche waren so begeistert von den Zusammenkünften, zu denen Bodo von Reudh lud, dass sie ihn baten, im Gut bleiben und dort arbeiten und leben zu dürfen. Und manchen erfüllte er ihren Wunsch, andere wies er mit Worten ab, die so freundlich und bedauernd waren, dass niemand sich verletzt oder abgewiesen vorkam. Die aber, die er aufnahm, sah man danach nicht mehr außerhalb der Mauern des Gutes. Was sie innerhalb der Mauern machten und was dort mit ihnen geschah, danach fragte niemand.
Eine von denen, die Bodo von Reudh abgewiesen hatte, war Paula Wilms. Sie war dem jungen Herrn von Reudh, wie sie ihn nannte, schon wenige Tage nach seiner Ankunft im Dorf begegnet – und sie war erstaunt gewesen, wie viel er von ihren geheimen Leidenschaften verstand, von Horoskopen und von der Weisheit der Karten, und wie ernsthaft man sich mit ihm darüber unterhalten konnte. Dabei war er doch so ein junger Mann, sicherlich keinen Tag älter als 35. In ihrer eigenen Familie hatte Paula stets Unverständnis geerntet. Als 40-Jährige hatte sie erfahren, wie viel es über die Heilkraft der Steine und die Sprache der Pflanzen zu entdecken gab – und als ihr damaliger Mann darauf bestand, ihr trotz aller Überzeugungsversuche bei ihrer Selbstverwirklichung im Weg zu stehen, da hatte sie sich getrennt. Er war mit den Kindern in Solingen geblieben, sie war nach Neurath gezogen und hatte sich in alles vertieft, was ihr Weisheit und Bedeutung zu haben schien. Bei den Sternen und den Karten war sie geblieben, und sie hatte als versponnen und sonderbar gegolten, auch in Neurath. Bis Bodo von Reudh gekommen war. Von Reudh, der sie verstanden hatte. Von Reudh, der selbst eine tiefe Weisheit ausstrahlte. Für einen Moment war Paula verletzt und enttäuscht gewesen, als er ihr Anliegen, ihm und seiner Sache ganz zu dienen und in das Gut zu ziehen, abgelehnt hatte. Doch seine Worte waren voll des Trostes gewesen, klug und verständig. Natürlich – ihre Familie würde vielleicht doch Fragen stellen, besonders die Tochter, die Paula mit ihren ständigen Versuchen, den „Kontakt wiederherzustellen“ auf die Nerven fiel. Zu viel Aufmerksamkeit war nicht gut, das spürte Paula, auch wenn sie nicht hätte sagen können, warum das so war. Und von Reudh würde sie nicht vergessen. Sie war ihm wichtig. Er würde sie ganz bestimmt noch brauchen. Das spürte sie. Das sagte er. Und hätte sie gewusst, dass sie schon im kommenden Winter für ihn sterben würde, niedergestochen in einem nächtlichen Kampf im Wald, dann hätte sie sich womöglich sogar darüber gefreut.
Nicht alle teilten diese Begeisterung. Neurath erlebte einen Bevölkerungsrückgang, so schleichend wie all die anderen Geschehnisse, doch nicht weniger bedeutend. Wem das Verhalten seiner Nachbarn zu unheimlich wurde, wer diese neue Art von Dorfgemeinschaft beunruhigend fand und die fiebrige, ziellose Euphorie nicht teilen konnte, der verließ das Dorf und zog fort, wenn er konnte. Andere versuchten, auf Distanz zu bleiben. Kerstin Blech war Lehrerin für Mathematik und Religion an der St. Elisabethschule in Langenrath. Sie beobachtete mit Unbehagen, dass die wenigen Schülerinnen und Schüler aus Neurath sich immer mehr vom Rest der Schülerschaft, auch von ehemaligen Freunden, abkapselten und eine immer engere Gemeinschaft bildeten. Und wer dabei nicht mitmachte, wie zum Beispiel Jens und Carmen Halburger, die mit ihren Eltern erst vor wenigen Monaten nach Neurath gezogen waren, bekam Druck. Kerstin selbst behandelten die Jugendlichen wie eine Mitverschworene, und das machte ihr manchmal mehr Angst als alles andere. Shazi Aydin mied die Zusammenkünfte im Gut und berichtete ihrem Bruder Hakan von dem überdrehten Verhalten ihrer Nachbarn, dem Getuschel und den Veränderungen und den Menschen, die ins Gut gingen, um nie mehr außerhalb davon gesehen zu werden. Hakan nahm die Sorgen seiner Schwester ernst. Doch aus polizeilicher Sicht gab es keinen Grund, in irgendeiner Form einzuschreiten. Niemand beschwerte sich. Niemand wurde vermisst. Niemandem war ein Leid geschehen. Zumindest niemandem aus Neurath.
Denn natürlich gab es da die Morde, die Recha für eine Mordserie hielt. Aber noch sah niemand außer ihr und ein paar anderen Spinnern, die niemand ernst nehmen konnte, darin ein Muster. Die letzten Opfer, zwei kleine Jungen, die Dietrich-Zwillinge, hatte man zuletzt lebend in der Nähe des Kottenhofes gesehen. Die Polizei hatte einige Neurather als Zeugen vernommen, Steffen Bennig zum Beispiel. Aber nichts sprach dafür, dass Neurath eine besondere Rolle bei dieser traurigen Geschichte spielte. Oder in einer der anderen. Im März hatte es viele Zusammenkünfte im Gut gegeben. Diese Zusammenkünfte, an die sich danach alle nur vage erinnern konnten. Und niemand sprach darüber. Denn die Zusammenkünfte gaben Kraft und Selbstbewusstsein und das Gefühl, Teil von etwas Großem und Wichtigem zu sein. Sie halfen, alles andere zu meistern.