Kitabı oku: «Dattans Erbe», sayfa 2

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Leider hatten wir von Wladiwostok nicht viel gesehen, weil wir gleich weiterfuhren. Die Stadt gehörte zu den „Geschlossenen Städten“, die für Ausländer absolute Tabuzonen waren. Sogar Sowjetbürger brauchten eine Genehmigung für Wladiwostok, wenn sie dort nicht gemeldet waren. Im Hafen von Wladiwostok lag die russische Pazifikflotte, deshalb galt strengste Geheimhaltung. Ich weiß nicht, ob die Regelung damals noch galt, die Sowjetunion brach zusammen, es war die chaotische Übergangsphase, eine Zeit der Ungewissheit, in der jeder alles und nichts bestimmen konnte. Erst im Sommer hatte ich bei meiner Ankunft in Simferopol erlebt, dass ein unangenehm aufdringlicher Typ sich als Verwaltungsbeamter ausgab und uns direkt auf dem Bahnsteig abkassieren wollte, sozusagen als Eintrittsgebühr für die Krim.

Also vermieden wir möglichst jedes kleinste Risiko und fuhren schnurstracks zum Bahnhof. Bloß nicht auffallen, bloß nicht verhaftet werden. Aber auch ohne viel von der Stadt gesehen zu haben, blieb Wladiwostok in meinem Gedächtnis. Wie überhaupt die ganze Reise. Vielleicht, weil China ein Schock war und sich komplett anders präsentierte als Qiang uns vorausgesagt hatte. Vielleicht, weil wir den Rückweg tatsächlich mit der Transsib antreten mussten und die sechs Tage todkrank auf unseren Schlafwagenpritschen darniederlagen, weil wir in China, wo selbst in besseren Hotels die Leitungen eingefroren waren, ununterbrochen gefroren hatten. Wahrscheinlich hatte genau deshalb diese mysteriöse Anzeige eine solche Anziehungskraft auf mich gehabt. Sie hatte mich in diese wilde Zeit zurückkatapultiert. Nun saß ich wieder hier in Moskau auf dem Flughafen. Aber diesmal hatte ich ein anständiges Visum, ein korrektes Flugticket und sogar ein im Voraus gebuchtes Hotel. Siegfried Bornecker hatte für alles gesorgt.

Post aus München

Drei Wochen nach meiner übereilten Postkartenaktion bekam ich einen Brief. Es war ein edler Umschlag, mit Sorgfalt ausgewählt, nichts aus dem gängigen Schreibwarensortiment. Ich hatte diese Episode fast schon wieder vergessen. Nun war ich gespannt. Hatte meine eilig hingehuschte Nachricht tatsächlich Erfolg gehabt? Ich öffnete den Brief und las:

München, der 30. Mai 2013

Sehr geehrte Frau Stehr,

vielen Dank für Ihr zugegebenermaßen eigenwilliges Schreiben. Uns haben zahlreiche Zuschriften erreicht, viele von hochkarätigen Wissenschaftlern mit besten Referenzen. Ich habe mich ungeachtet dessen dafür entschieden, den Kontakt zu Ihnen zu suchen, auch wenn ich kaum etwas von Ihnen und Ihren fachlichen Qualifikationen weiß. Ich tue dies, weil Sie in kühner Weise reagiert haben und ohne auch nur die geringste Ahnung zu haben, worum es mir gehen könnte, eine Brücke zu meinem Anliegen geschlagen haben: die Karte vom Handelshafen. Zudem hat mir ein befreundeter Journalist erzählt, dass es Anfang der 1990er Jahre für Ausländer strengstens verboten war, nach Wladiwostok zu reisen. Es war eine geschlossene Stadt und es war gänzlich unmöglich. Wenn Sie dennoch dort waren, sind Sie vielleicht genau diejenige, die ich suche.

Ich würde Sie gern persönlich kennenlernen, Frau Stehr, um einschätzen zu können, ob Sie die Richtige für dieses ambitionierte Vorhaben sind. Bei der Recherche geht es um eine Familiengeschichte, konkret um meinen Großvater Adolph Dattan. Er war einer der Pioniere, der vor etwa hundertfünfzig Jahren ein ganzes Handelsimperium in Russisch Fernost mit aufgebaut hat. Das erste deutsche Kaufhaus gab es nicht in Deutschland, sondern in Wladiwostok.

Ich selbst habe die achtzig bereits überschritten und es ist mir ein Herzenswunsch, unsere Familienchronik abzuschließen. Ich habe unzählige Firmenunterlagen ausgewertet, aber mir fehlt der russische Teil der Überlieferung. Leider bin ich des Russischen nicht mächtig. Zudem habe ich das Gefühl, dass mir die Zeit davonläuft.

Wissen Sie, ich bin sehr stolz auf meinen Großvater. Er hat Großes vollbracht, hat viel erdulden müssen, aber heute kennt ihn kaum einer. Ich will versuchen, ihn mit dieser Chronik dem Vergessen zu entreißen. Und ich will die Wahrheit ans Licht bringen. Dazu brauche ich fundierte Hilfe. Aber nicht nur das. Ich brauche jemanden, der das nicht nur als Auftrag sieht, weil er sonst gerade nichts zu tun hat, sondern jemanden, der hundertprozentig dahintersteht, jemanden, der kämpft, selbst wenn es brenzlig wird.

Ich würde mich freuen von Ihnen zu hören.

Mit freundlichen Grüßen

Dr. Siegfried Bornecker

Ich musste mich hinsetzen. Was war das denn? Dieser Brief war kryptisch und aufschlussreich zugleich. Er war formell und trotzdem persönlich. Und er legte sofort den Rahmen fest. Siegfried Bornecker suchte keinen Rechercheur, sondern einen Verbündeten und er glaubte, ihn in mir gefunden zu haben. Ich schrieb gern Briefe und ich sah, dass sich hier jemand gründlich Gedanken gemacht hatte. Siegfried Bornecker sprach in Andeutungen, er legte Fährten und offenbar war er sich sicher, dass ich sie zu lesen verstand. Seit fast zehn Jahren tat ich nichts anderes, als Menschen dem Vergessen zu entreißen oder ihrer Geschichte überhaupt ein Gesicht zu geben. Wusste er davon? Etwas nahm mich sofort gefangen und als ich den Brief das dritte Mal gelesen hatte, war für mich klar, dass ich für Siegfried Bornecker nach Wladiwostok fliegen würde. Wenn es dort etwas gab, würde ich es für ihn finden.

Ich hätte nie erklären können, warum gerade Russland diese Faszination auf mich ausübte. Vielleicht war es einfach nur, weil ich meine Zeit des Studiums, verrückte Reisen, wilde Männergeschichten, kurz meine Jugend, damit verband. Aber das hätte wohl nicht gereicht, mich aus meinem bisherigen Leben zu reißen. Nach zehn geordneten Jahren in der deutschen Verwaltung war es vielleicht einfach die Lust auf ein Abenteuer, die Sehnsucht nach Irrationalem, nach einer geheimnisvollen Welt, in der sich nicht alles sofort erschloss. Wie hatte Tjutchew doch gleich gesagt? „Verstehen kann man Russland nicht, und auch nicht messen mit Verstand. Es hat sein eigenes Gesicht. Nur glauben kann man an das Land.“ Was er im 19. Jahrhundert postuliert hatte, schien unverändert. Und so oft ich mich über Russland geärgert und mir fast die Zähne daran ausgebissen hatte, so sehr liebte ich das Land. Es war eine Hassliebe. War ich dort, wollte ich weg, war ich weg, wollte ich hin. Nun erhielt ich vielleicht die Gelegenheit, dort zu sein und das Land wieder nicht zu verstehen.

Ankunft in Wladiwostok

Die Lautsprecherstimme der Stewardess meldete den bevorstehenden Landeanflug. Leider war kaum etwas von der Stadt am Pazifik zu sehen, ein dichter Nebel hing über der Bucht. Ich spürte, wie die Aufregung in mir hoch kroch. Dabei gab es gar keinen Grund. Alles war geregelt. Mein Visum galt drei Monate. Für die ersten drei Nächte hatte ich ein Hotel. Siegfried Bornecker hatte komplett durchbuchen wollen, aber ich war dagegen. Ich wollte mir vor Ort selbst ein Bild machen. Schließlich konnte ich mir dann immer noch etwas Besseres suchen. Vielleicht würde ich gar nicht die ganze Zeit in Wladiwostok bleiben.

Ich folgte dem Menschenstrom.

Passkontrolle, Gepäckband, Ausgang.

Alles war unkompliziert. Der Flughafen wirkte hochmodern. Das hatte ich so nicht erwartet. Ich hatte zwar gelesen, dass man für den APEC-Gipfel, der hier im letzten Jahr zusammengekommen war, alles auf neuesten Stand gebracht hatte, aber diese futuristisch anmutende Welt irritierte mich. Die lichtdurchflutete Eingangshalle und die riesige Glasfront blendeten mich. Die Weite der Halle und die spiegelnden Oberflächen hatten etwas Künstliches und Beängstigendes. Man fühlte sich wie eine winzige Ameise, endlose Strecken überwindend, für alle weithin sichtbar. Ich kam mir vor wie in einer Computeranimation. Überall moderne Technik, edles Design und erlesene Materialien. Das musste Millionen gekostet haben. Schön war es trotzdem nicht. Unweigerlich musste ich an das Debakel um den Berliner Großflughafen denken und plötzlich überfiel mich ein Gefühl der Scham. Warum waren wir immer so arrogant und hielten uns für etwas Besseres? Es war so provinziell und peinlich, was die Berliner seit Jahrzehnten abzogen. Sie bekamen es einfach nicht hin, einen Flughafen zu bauen. Tempelhof hatte man bereits bei Baubeginn geschlossen. Tegel und Schönefeld sollten in Kürze folgen. Der BER war Politposse und Milliardengrab. 75 000 Baumängel hatte man gefunden. Trotzdem war ich mir sicher, dass sich die Berliner – zum Flughafen in Wladiwostok befragt – abfällig äußern würden. Sie würden eine Holperpiste als Landebahn erwarten und eine muffig-dunkle Halle für den Check-in. Und die Flugzeuge? Hatten die Russen nicht immer Hühner und Ziegen auf dem Schoß? Reichten die Sitzplätze überhaupt? Mussten in Russland nicht immer Passagiere im Gang stehen?

Ich war noch nicht einmal richtig angekommen und schon überfiel mich ein komisches Gefühl. Ich ahnte, dass wir nichts von dem Leben hier wussten. Wir, die aufgeklärten Westeuropäer.

Sogar die aufdringlichen Taxifahrer, erstes Begrüßungszeichen am Eingangsbereich eines jeden russischen Flughafens, waren mittlerweile fast verschwunden. Früher war es ein Krampf, sich zu einem öffentlichen Verkehrsmittel durchzuschlagen. Man wurde förmlich von Taxifahrern umzingelt, die einem im Chor ein „Taksi“, ein „Kuda?“ oder „Kuda vam nado?“ – Wohin? Wohin müssen Sie? – entgegen riefen. Verwies man auf den Bus, erhielt man als Antwort, dass er nur alle drei Stunden führe oder heute gestreikt würde. Wenn man es nicht gerade eilig hatte, bot dieses Ritual sogar gewissen Unterhaltungswert.

Ich brauchte kein Taxi, denn ich hatte gelesen, dass man bequem mit dem Bus ins Stadtzentrum fahren konnte. Oder mit dem kürzlich eröffneten Aeroexpress. Ich ging zum Express und kaufte mir ein Ticket. „Businessclass?“, fragte die Dame am Schalter. Ich entschied mich für ein normales Ticket für 200 Rubel, umgerechnet fünf Euro. Auch das hatte sich verändert. Damals war der Flug von Moskau nach Wladiwostok billiger als der Zubringer in die Stadt heute.

Treffen in Naumburg

Das erste Mal hatte ich Siegfried Bornecker in Naumburg getroffen. Wir hatten nach unserem brieflichen Erstkontakt ein paar Mal hin und her gemailt und ich wusste im Groben, worum es ihm ging. Dennoch hatte er sich mit seinem „Auftrag“ noch nicht hundertprozentig für mich entschieden. Mir war klar, dass dieses Treffen die Nagelprobe sein würde. In Naumburg, in der Heimat seines Großvaters, sollten wir uns nun persönlich kennenlernen und er wollte unbedingt seine Schwester Ursula dabei haben.

Unsere Verabredung erinnerte an ein konspiratives Agententreffen.

Bornecker reiste aus München an, seine Schwester aus Berlin, ich aus Dresden. Bornecker hatte alles geplant. Er und seine Schwester hatten nur ein kleines Zeitfenster für unser Treffen. Ich war flexibel. Wenige Tage vor unserer Verabredung erhielt ich einen Ablaufplan:

Liebe Frau Stehr,

wir bitten Sie, den Zug zu nehmen, der um 10.21 Uhr in Naumburg ankommt (vgl. Ihre Mail vom 5.6.). Meine Schwester wird um 10.24 Uhr ankommen. Wir schlagen vor, dass Sie sich in der Bahnhofshalle vor dem Zeitungsladen treffen. Dann können Sie beide gegenüber beim Bäcker ein Tässchen Kaffee trinken, bis ich mit Ankunft 11.17 Uhr dazu komme. Wir stellen uns vor, dass wir in einer Taxe zum Domplatz fahren, wo es zwei Cafés gibt, von denen wir uns eins für unser Gespräch aussuchen. Um 14 Uhr haben wir einen Termin bei einer der Dattanschen Villen und danach haben wir noch weitere Termine. Daher können wir Sie zum Familiengrab, falls Sie dieses sehen möchten, leider nicht begleiten.

Wir freuen uns darauf, Sie kennenzulernen und mit Ihnen ausführlich und in Ruhe über unsere Pläne zu reden. Ich werde etwas Material, insbesondere die Verbannungsgeschichte, mitbringen.

Mit freundlichen Grüßen, auch von meiner Schwester,

Siegfried Bornecker

Ich mochte konspirative Treffen und ich war gespannt darauf, was mich erwarten würde. Ich hatte recherchiert und zur Vorbereitung einiges über Adolph Dattan gelesen. Wahrscheinlich war das Unglaubliche daran der Grund dafür gewesen, warum ich mich nach meiner spontanen Sympathie für den kryptischen Briefeschreiber Bornecker, sogleich mit Feuereifer in dieses Vorhaben gestürzt hatte, ohne auch nur annähernd zu wissen, was meine Aufgabe sein würde. Bornecker hatte es geschafft, mit seinen spärlichen Hinweisen nicht nur meine Neugier zu wecken, sondern auch eine besondere Verbundenheit herzustellen. Denn ob ich wollte oder nicht, ich spürte eine innere Verpflichtung, der Geschichte auf den Grund zu gehen und der Wahrheit ans Licht zu verhelfen.

Borneckers Großvater war ein Abenteurer. Im 19. Jahrhundert war er nach Russland gegangen. Dort, im Fernen Osten, hatte er unter widrigen Bedingungen nach und nach ein riesiges Handelsimperium aufgebaut. Den Anfang machten Gustav Kunst und Gustav Albers. Als sie 1864 in Wladiwostok ihr erstes Geschäft eröffneten, gab es dort gerade einmal vierundvierzig Holzhütten. Hier lebten ein paar Fischer, die den Ort Hǎishēnwǎi nannten, die Seegurkenbucht. Dattan kam 1875. Er übernahm bald die Leitung der Wladiwostoker Zentrale und wurde nach elf Jahren Teilhaber der Firma. In wenigen Jahren entstand unter seiner Regie ein Netz von Kaufhäusern und Handelsvertretungen in Russisch Fernost, in der Mandschurei und im chinesischen Grenzgebiet. In der Blütezeit waren es an die vierzig Handelsstandorte. Kunst & Albers schufen eine Infrastruktur, die Handel und kulturelle Entwicklung erst möglich machten. Die Zentrale in Wladiwostok war dabei nicht nur Verkaufsstelle, sondern, wie ich las, auch Bank, Schifffahrtsagentur und Versicherungsunternehmen. Und bald schon besaß das Unternehmen sogar eine eigene Flotte. Ich hatte noch nie etwas von diesen Kaufhaus-Königen gehört und mir war es fast ein wenig peinlich, nichts darüber zu wissen. Bornecker hatte schließlich schon in seinem ersten Brief daran erinnert: „Das erste deutsche Kaufhaus stand nicht in Deutschland, sondern in Wladiwostok!“ Ich hatte es damals für einen abwegigen Gedanken gehalten, für einen Scherz. Jetzt wusste ich, dass es stimmte, jetzt ahnte ich, was alles hinter diesem Satz stand. Aber wer wusste schon davon? Wer kannte diese Geschichte?

Kaufhäuser … diese altmodischen Einkaufstempel, in die heute keiner mehr ging. Wann war ich das letzte Mal in einem Kaufhaus? Vor Jahren bei Harrots in London, im Lafayette in Paris oder bei Maceys in Los Angelos. Die typischen Touristenmagnete. Man kaufte nichts, sondern staunte nur. Zu Hause ging ich ab und zu in die gut sortierte Lebensmittelabteilung des KaDeWe, ansonsten kaufte ich nichts in Kaufhäusern.

Früher war das anders. Namen wie Karstadt, Wertheim und das berühmte KaDeWe, das Kaufhaus des Westens, waren jedem ein Begriff. Vielleicht wusste nicht jeder, dass Hertie ursprünglich Tietz hieß, in jüdischem Besitz war, von den Nazis arisiert und dann in Hertie umbenannt worden war. Hertie – eine Wortschöpfung aus den Anfangsbuchstaben des Eigentümers Hermann Tietz. Aber Kunst & Albers? Die kannte nun wirklich niemand. Zumindest ich hatte noch nie davon gehört.

Nach meinen ersten Recherchen im Internet besorgte ich mir allerhand Literatur und versank in den nächsten zwei Wochen in einer mir völlig fremden Welt. Fremd vor allem auch deshalb, weil die reiselustigen Unternehmer damals offenbar einen anderen Blickwinkel hatten. Sie hatten eine Region für sich entdeckt, die fernab von begehrten Karriere-Hotspots oder beliebten Urlaubsrefugien lag. Noch heute ist für die meisten der Osten Russlands eine Terra incognita – unerreichbar weit weg und gänzlich unbekannt. Und es stört niemanden, denn eigentlich interessiert sich keiner für diese Welt, die für rückständig und hinterwäldlerisch gehalten wird. Damals war das offenbar anders. Denn obwohl der Ferne Osten tatsächlich rückschrittlich war, schien er auf Gustav Kunst und Gustav Albers keine hinreichend abschreckende Wirkung gehabt zu haben. Je mehr ich las, umso klarer wurde mir, dass sie eine ganz eigene Geografie im Kopf hatten. Auf einer firmeneigenen Landkarte sah ich, dass Russisch Fernost genau in der Mitte ihrer Welt lag, eingebettet von Europa im Westen und Amerika im Osten. Diese für uns Mitteleuropäer ungewohnte Sicht gefiel mir. Vielleicht auch, weil ich in Geografie nie gut war, immer nur mit links und rechts, statt mit West und Ost operierte. Auf dieser Karte fand ich mich endlich darin bestätigt, dass jede Position relativ war und der östlichste Osten irgendwann westlichster Westen sein konnte. Vielleicht war das der Schlüssel. Gustav Kunst und Gustav Albers sahen sich gar nicht im Osten, sondern am westlichsten Zipfel des Westens. Mich beeindruckte, welch abenteuerliche Reisen beide auf sich genommen hatten, um nach Wladiwostok zu gelangen. Sie taten es, obwohl es so unvergleichlich viel komplizierter war als heute und obwohl dort nicht gerade das Schlaraffenland auf sie wartete. Anfangs hatte ich angenommen, dass sie betuchte Kaufleute waren, die dem Zeitgeist folgten und auf Entdeckungsreise nach Fernost aufbrachen. Einfach, um ihrer Hamburger Geschäftsroutine zu entfliehen, um den Alltag mit einer Prise Exotik aufzufrischen und in Geschäftskreisen als verwegen zu gelten. Dann las ich, dass sie alles andere als vermögend waren. Albers war einfacher Seemann und Weltenbummler. Er war fast noch ein Kind, als er anheuerte. Mit vierzehn stach er in See, fuhr nach Chile, Südafrika und Indien. Nach sechs Jahren kehrte er nach Hamburg zurück und legte seine Prüfung zum Steuermann ab. Bei seiner zweiten Fahrt in den Fernen Osten strandete sein Schiff kurz vor der mandschurischen Küste. Albers schlug sich daraufhin nach Shanghai durch. Kunst hingegen war Kaufmann. Nach seiner Kaufmannslehre in Hamburg war er mit zwanzig nach Ostasien gegangen. In Shanghai hatte er eine kleine, mäßig erfolgreiche Handelsfirma gegründet. Als er 1864 von einem Besuch in Hamburg nach Shanghai zurückkehrte, wählte er nicht die gängige Schiffsroute ums Kap der Guten Hoffnung, sondern eine alternative Strecke. Wochenlang war er durch Russland gereist, von einer Poststation zur nächsten. Mit Schlitten oder Kutsche, auf alten Handelsrouten oder Pelzjägerpfaden. Bevor er mit dem Schiff Richtung Pazifik aufbrechen konnte, musste er die Frühjahrshochwasser des Amur abwarten. Dann schipperte er 2 000 Kilometer auf dem mächtigen Strom entlang, immer Richtung Süden. Nach Monaten der Reise lernte er in Shanghai Albers kennen. Beide wurden Freunde und beschlossen, gemeinsam ein Unternehmen zu gründen. Sie waren damals Mitte zwanzig. In Deutschland schienen sie keine Zukunft für sich zu sehen. Aber auch von Shanghai versprachen sich beide nichts. Auf der Suche nach einem günstigen Standort kamen sie schließlich auf eine Gegend, die sie beide als Durchreisende kennengelernt hatten: die Amur-Bucht. Sie kauften eine Warenladung Lebensmittel, Stoffe und Werkzeuge. Dann charterten sie ein Schiff, die Meta. Sie war der Anfang von allem.

Ich versuchte mir das vorzustellen. In den Artikeln hatte ich nichts darüber gefunden, ob beide Russisch konnten. Aber selbst wenn. Man wäre damit nicht weit gekommen, lebten doch vor allem Chinesen, koreanische Fischer und irgendwelche nordsibirischen Ureinwohner in Wladiwostok. Stämme, von denen ich noch nie etwas gehört hatte: Jurchen, Mandschu und Golden.

Was also mochte sie damals dazu bewegt haben, sich in dieser gottverlassenen Einöde anzusiedeln? Eine Gegend, in der von September bis Mai Winter herrschte, wo es gerade einmal ein paar Holzhütten mit nicht einmal hundert Einwohnern gab? Mir war es unbegreiflich, denn Wladiwostok war ein winziger Marinevorposten, der gerade zwei Jahre zuvor gegründet worden war. Dort gab es weder die Verlockungen einer Großstadt, die die gebürtigen Hamburger aus eigenem Erleben kannten, noch die klimatischen Vorzüge südlicher Gefilde. Vielleicht war es einfach der Erfolg, der sie beflügelte und die unendlichen Möglichkeiten, die sie als Unternehmer in Wladiwostok hatten. Sie waren jung, hier konnten sie ausprobieren, was in Hamburg nie gegangen wäre. In kürzester Zeit wurden sie unsagbar reich. Mit dem Ersten Weltkrieg kam der Niedergang. Die Deutschen waren schließlich Kriegsgegner. Adolph Dattan wurde wegen Spionage verhaftet und für Jahre ins Innere Sibirien verbannt. Dann kamen die Bolschewiki an die Macht. Wladiwostok erreichten sie 1925. Sie läuteten unwiderruflich das Ende ein. Das Unternehmen hielt sich trotzdem noch bis 1930.

Was passierte in den letzten Jahren und wie konnte das alles überhaupt gehen?

Mit diesen Fragen und den ersten, eher diffusen Eindrücken kam ich nach Naumburg, wo ich Siegfried Bornecker und seine Schwester Ursula treffen sollte. Die Bahn machte dem perfekten Ablaufplan Borneckers einen Strich durch die Rechnung. Beide hatten Verspätung. Ich wartete wie verabredet in der Bahnhofsbäckerei.

Zuerst kam Ursula, eine kleine, zierliche Dame mit offenem und interessiert verschmitztem Blick. Ursula ging am Stock. Den habe sie nur, erklärte sie lachend, weil die Passanten so furchtbar nett wären. Seitdem sie den Stock habe, würde man in der Bahn für sie aufstehen und ihr sogar die Einkäufe in ihre Wohnung tragen. Im rauen Berlin war das etwas wert. Eigentlich bräuchte sie ihn nicht, denn sie sei noch gut zu Fuß. Und in der Tat, vor mir stand eine agile Person, die ich deutlich jünger geschätzt hatte. Ursula lächelte und ihre wachen Augen verliehen ihr trotz ihres hohen Alters einen Hauch Jugendlichkeit. Kaum hatte sie Platz genommen, erzählte sie von ihrem Leben und überhäufte mich mit einem Schwall an Fragen. Dann hielt sie plötzlich inne, griff meinen Arm, schüttelte den Kopf und lachte über sich selbst.

„Ich weiß, ich weiß. Ich bin immer so. Aber ich kann mich nur schwer zurückhalten, denn mich interessiert so vieles … Was mich aber am meisten interessiert, ist, wie Sie zu Russland gekommen sind? Was hat Sie zu den Russen gebracht?“

Ich fand sie großartig und dachte etwas beklommen an Paul, meinen achtzehnjährigen Sohn, und an diese Facebook-Generation, die so überhaupt nicht neugierig schien und offenbar nie den Drang verspürte, jenseits von Wikipedia einer Sache auf den Grund zu gehen. Die Gemütlichen, die kaum noch aus ihren Zimmern rauskamen, die keine Fragen stellten, nicht provozierten, sondern sich mit einem Brei aus Filmchen, lustigen Spots und den Posts der „Freunde“ begnügten. Dieses Rumhängen machte mir manchmal Angst.

Ich erzählte Ursula wie alles angefangen hatte. Nach einer Viertelstunde waren wir so ins Gespräch vertieft, dass sich Siegfried Bornecker vor uns stehend durch lautes Räuspern bemerkbar machen musste. Alle drei lachten wir. Auch Bornecker sah viel jünger aus, als ich ihn mir vorgestellt hatte. Er trug einen Rucksack, der überhaupt nicht zu seinem Mantel aus edlem Zwirn passte. Bornecker war braun gebrannt und wirkte insgesamt sehr vital, keineswegs wie ein Rentner jenseits der achtzig. Er meinte, er käme gerade aus Italien – Skifahren in den Dolomiten. Von München aus sei das ja nicht weit …

Wie geplant fuhren wir mit dem Taxi zum Dom und gingen in eines der beiden Gasthäuser. Siegfried Bornecker ging zielstrebig voran und wählte einen geeigneten Tisch für unser Vorhaben – hell genug und groß genug. Es war bizarr, denn er betrachtete den Schankraum als sein ausgelagertes Büro. Bornecker nahm den Tisch in Beschlag, breitete Unterlagen darauf aus und schickte den Kellner, der unsere Bestellung aufnehmen wollte, zwei Mal weg. Ich fragte mich, ob das der übliche Gang der Dinge war, wenn sie für ein paar Stunden nach Naumburg einflogen, um ihre Geschäfte zu erledigen. Der Kellner tat mir leid, aber ich wollte mich nicht einmischen. Wir hatten so viel zu erzählen, dass auch ich es als störend empfunden hätte, etwas zu essen. Als der Kellner den dritten Anlauf nahm, bestellten wir schließlich.

Ich mochte beide auf Anhieb. Die Art, wie sie von ihren Großeltern sprachen, die Ernsthaftigkeit, mit der Siegfried Bornecker versuchte, die letzten Rätsel des Verschwindens seines Großvaters zu entschlüsseln, ohne dabei verbohrt zu sein, imponierte mir. Und mir gefiel eines ganz besonders. Obwohl die Familie damals den Großteil ihres Besitzes verloren hatte, Adolph Dattan ohne Grund in der Verbannung hatte ausharren müssen und dann von Sowjets zur Geschäftsaufgabe gezwungen wurde, hegten sie keinen Groll gegen Russen. Vielleicht war es einfach zu lange her. Siegfried und Ursula waren in Hamburg groß geworden, sie hatten nie einen unmittelbaren Bezug zum Naumburger Familiensitz gehabt, weil dieser in der „Ostzone“ lag. Sie hatten nie in einer Diktatur gelebt und deshalb betrachteten sie das Unrecht, das der Familie angetan wurde, nie als ihrige. Es war etwas, das nicht unmittelbar sie betraf. Wahrscheinlich lag es auch daran, dass Adolph Dattan trotz des immensen Verlustes nicht als Armer zurückgekehrt war. Er hatte seiner Familie einiges hinterlassen, zumindest schienen sie nicht an materieller Not zu leiden. Was sollten sie also verflossenem Geld nachtrauern?

Kaum hatten wir gegessen, kam auch schon der Schornsteinfeger, um die Kehrmodalitäten für verschiedene Immobilien zu klären. Auf dem Tisch häuften sich die Papiere. Einzugsermächtigungen wurden erteilt, Rechnungen geprüft, Gutachten in Auftrag gegeben. Immerhin durfte der Kellner jetzt ohne zweite Nachfrage einen Kaffee bringen. Es amüsierte mich, Ursula und Siegfried bei ihren Geschäften zu beobachten, weil sie so normal bodenständig waren und fast beschaulich wirkten, obwohl sie hier am Tisch Millionenobjekte verwalteten.

Der Handwerker verschwand und uns blieb nur noch eine Viertelstunde bis zum nächsten Termin in der Dattan-Villa. Bislang hatten wir nur geplaudert, aber nichts Handfestes verabredet. Ich wusste nicht einmal, ob ich nun die Richtige war. Offenbar hatte Siegfried Bornecker bemerkt, dass ich darüber nachdachte.

„Wissen Sie Frau Stehr, wir wollen niemandem schaden. Wir wollen nichts zurückhaben. Jahrzehntelang haben wir nicht einmal gewusst, dass es das alles noch gibt – die Kaufhäuser, die Wohnhäuser, das Elektrizitätswerk und die Landhäuser. Meine Mutter hatte mir von klein auf eingetrichtert, dass ich nie nach Russland fahren dürfe, weil dort das Böse warte. Ich musste ihr das hoch und heilig versprechen. Und daran habe ich mich gehalten. 1997 ist sie dann gestorben und drei Jahre später bin ich das erste Mal gefahren. Es war wie eine Reise in eine andere Welt. Die Vorstellung, dass mein Großvater dies alles mitgeschaffen haben sollte, kam mir fast unheimlich vor. Ab da begann mich das ganz konkret zu interessieren, weil ich ein Bild im Kopf hatte. Ich fing an, nach allen nur denkbaren Hinweisen zur Familiengeschichte zu suchen. Und ich erfuhr, dass mein Großvater offenbar Tagebuch geführt hatte. Ich wusste es von Georg Albers. Er hatte die Geschäfte von seinem Vater übernommen. Und dieser hatte damals eine Firmenchronik zum 75-jährigen Geschäftsjubiläum herausgegeben. Georg Albers war im Besitz der Unterlagen. Bei meinem Besuch merkte ich sofort, dass ich nicht sonderlich willkommen war, auch wenn er sich höflich und korrekt verhielt. Es war eine kühle Atmosphäre, eine unnahbare Stimmung, die vor allem von seiner Frau ausging. Vielleicht hätte er allein sich ganz anders verhalten, aber seine Gattin ließ nur ein kurzes Gespräch unter vier Augen zu. Irgendetwas schien ihr zu missfallen. Mir war klar, dass ich Albers bei diesem Treffen regelrecht ausquetschen musste. Ich wollte so viel wie möglich erfahren und alle verfügbaren Materialien bekommen, ahnte ich doch, dass es keinen zweiten Besuch geben würde. Albers gab mir einiges, darunter ein paar lose Seiten, die wie Tagebuchnotizen aussahen, jedoch fehlten Datums- oder Ortsangaben. Jahre später sortierte ich den Nachlass meines Onkels Gori.“

Siegfried Bornecker hielt inne.

„Warum erzähle ich Ihnen das, Anna?“ Er schaute mich eindringlich und auffordernd an. Doch ich wollte nichts sagen, sondern einfach nur zuhören. Deshalb zuckte ich bloß mit den Schultern und machte ein fragendes Gesicht.

„Weil Gori etwas hatte, worum es uns hier und heute geht. Wissen Sie, was ich zwischen dem ganzen Schriftkram, den er gehortet hatte, fand?“ Ich schüttelte den Kopf.

„Tagebuchnotizen von meinem Großvater. Er hatte in der Verbannung Tagebuch geschrieben. Es waren keine hastigen Notizen, handschriftlich mit dem Bleistift gekritzelt, sondern ausführliche Reflexionen, säuberlich mit der Schreibmaschine getippt. Darunter auch die Blätter, die ich bereits von Albers erhalten hatte und nicht einordnen konnte. Nun wusste ich, was es damit auf sich hatte. Diese Notizen hatten ein Deckblatt. Und nur wegen dieser einen Seite sitzen wir heute hier zusammen.“

Ich grübelte, was auf dieser einen Seite gestanden haben mochte. Es musste etwas gewesen sein, das nun von außerordentlicher Bedeutung war. Was steht auf so einem Deckblatt? Der Name, vielleicht auch noch Ort und Zeitpunkt der Aufzeichnung. Was sollte daran also so besonders, so außergewöhnlich sein? Bornecker wusste doch, wo sein Großvater in der Verbannung gesteckt hatte. Auch den Zeitraum hatte er mir genannt. Was also bewegte ihn so dermaßen?

Dann holte er dieses eine, dieses wichtige Blatt aus einer Mappe und legte es vor mir auf den Tisch. Ich schaute auf das Blatt und Bornecker beobachtete mich dabei ganz genau. Und auf einmal war mir klar, dass das die Prüfung war. Das, was ich nun sagen würde, entschied darüber, ob ich den Auftrag erhielt oder nicht. Ich las:

A. Dattan

MEINE VERBANNUNG IN DEN NARYMER KREIS,

Gouvernement Tomsk, West-Sibirien.

IV. Teil

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