Kitabı oku: «Das Geheimnis der Madame Yin», sayfa 2
29. August 1877 Im Hafen von New York
Die M. S. Cumberland lag mit rauchenden Schornsteinen im Hafenbecken. Gewaltige Taue hielten sie am Pier, während ihr stählerner Leib unter dem dumpfen Brummen der Maschinen erzitterte.
Bunte Fähnchen schmückten die Reling. Frauen mit ausladenden Hüten und weiten Kleidern flanierten am Arm ihrer Männer den Aufgang hinauf zum Schiff. Unter lauten Rufen, dem Ächzen von Seilwerk und dem Stampfen von Dampfmaschinen wurde die letzte Fracht verladen.
In all dem Trubel hielt eine Mietdroschke am Pier. Celeste stieg aus und atmete tief ein. Ein warmer Windhauch strich ihr über die Haut und die Luft war durchdrungen vom Geruch des salzigen Meeres. Sie liebte den Hafen, denn hier erinnerte sie alles an ihre Kindheit. Für sie bedeuteten diese Gerüche Heimat. New York war ihr Zuhause. Chicago war immer nur ihr Exil gewesen. Der Ort, an dem sie lebte, seit ihre Familie sie verstoßen hatte. Für einen Moment schloss sie die Augen und lauschte den Möwen, dem Wasser, das sich an den Schiffsrümpfen brach, und dem Gewirr verschiedenster Sprachen, die babylonisch durcheinander plapperten.
„Sie hätten sich wirklich nicht die Mühe machen müssen, mich zu begleiten.“ Die zarte Stimme gehörte Dorothea Ellingsford, die Celeste aus ihren Erinnerungen riss.
„Papperlapapp“, hörte sie Mrs. Roover keuchen. „Ich wollte es so. Außerdem hat es mir Freude gemacht. Ich bin schon ewig nicht mehr Zug gefahren.“
Celeste hielt sich etwas abseits. Sie wollte die beiden ungestört voneinander Abschied nehmen lassen.
„Ich wünschte, Sie könnten mitkommen.“ Dorothea rang mit den Tränen.
„Das wünschte ich auch, mein liebes Kind. Allein schon um das Gesicht deines Vaters sehen zu können. Er würde sicher einen riesigen Schrecken bekommen, wenn ich plötzlich vor ihm stünde.“
Beide lachten, dann deutete Mrs. Roover auf Celeste. „Miss Summersteen wird dir eine gute Freundin sein. Du bist also nicht alleine.“
Celeste fühlte, dass sie etwas sagen sollte, aber da ihr nichts einfallen wollte, lächelte sie nur aufmunternd.
Ein Nebelhorn dröhnte. Die Cumberland würde bald auslaufen.
„Es wird Zeit, mein Kind. Lass dich noch einmal ansehen.“ Die alte Dame hielt Dorothea bei den Armen. „Wir sehen uns ganz bestimmt wieder. Und solltest du Sehnsucht nach mir haben, dann schreib mir.“
Das Mädchen lächelte tapfer. „Ich schreibe Ihnen jeden Tag.“
„Du solltest kein Versprechen geben, das du nicht halten kannst.“ Ihr Lächeln verriet, dass sie die Worte nicht so ernst meinte.
Ein Diener trat hinzu. „Das Gepäck ist verladen, Madam.“
„Danke Gerald. Begleiten Sie Miss Dorothea bitte an Bord. Ich muss noch ein paar Worte mit Miss Summersteen wechseln. Gib gut auf dich Acht, mein Kind.“
Mit einer letzten Umarmung verabschiedeten die beiden sich voneinander.
„Celeste“, sagte die alte Dame gefasst.
„Madam?“
„Diese Briefe hier sind für meinen Bruder.“ In ihrer Hand hielt sie drei Umschläge.
„Der hier enthält eine Vollmacht von Mr. Pinkerton. Sie arbeiten in dieser Sache offiziell in seinem Auftrag.“ Celeste erkannte das Firmenzeichen. Ein geöffnetes Auge. Darunter der Schriftzug: We never sleep.
„Dieser hier ist von mir und erklärt, warum ich Sie angeheuert habe. Mein Bruder wird toben. Dafür kenne ich ihn gut genug. Er wird Sie nicht mit offenen Armen empfangen.“
Celeste nickte schweigend.
„Seine Ehre und sein Ansehen bedeuten ihm alles. Merken Sie sich das, wenn Sie mit ihm sprechen. Er ist ein schwieriger Mann.“
„Ja, Madam.“ Neugierig reckte Celeste den Hals und starrte auf den dritten Umschlag, den die alte Dame noch in der Hand hielt. Diese zögerte einen Moment und reichte ihn dann weiter. „Darin finden Sie alles, was ich über den Mord an Dorotheas Freundin erfahren konnte. Es ist nicht viel. Ein paar Zeitungsausschnitte, ein paar Briefe. Celeste … Ich will, dass Sie den Mörder finden und unschädlich machen. Auf amerikanische Art.“
Celeste wusste, was sie meinte. „Ich soll ihn töten?“
Die alte Mrs. Roover zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Auge um Auge, so heißt es doch in der Bibel. Ich habe kein Mitleid mit ihm. Er hat es verdient.“
„Aber ich könnte den Falschen erwischen.“
„Das werden Sie nicht. Ich weiß von Ihrer Vergangenheit, Celeste. Sie werden es richtig machen. Ich vertraue Ihnen.“
„Aber der Krieg ist längst vorbei. Das waren andere Zeiten. Ich bin keine Mörderin“
„Ich weiß, ich verlange viel von Ihnen und ich möchte, dass Sie mich verstehen. Es geht mir alleine um Dorotheas Wohl. Sie wird Albträume bekommen, sobald sie vom Tod ihrer Freundin erfährt, sie wird trauern und Angst haben. Und ich will nicht, dass sie Angst hat.“
„Aber … was ist mit der Londoner Polizei, die ermittelt doch, oder?“
„Sicher tut sie das. Und wenn sie den Mörder finden sollte, wäre ich beruhigt. Aber ich glaube nicht daran. Ein Monat ist schon vergangen und sie haben den Kerl noch immer nicht fassen können. Ich fürchte, die würden nicht einmal eine Fliege fangen, selbst wenn sie ihnen auf der Nase säße.“
Das Nebelhorn ertönte ein zweites Mal.
Mrs. Roover drängte auf eine Antwort. „Nun?“
„Sie verlangen sehr viel von mir.“
„Das ist mir bewusst.“
„Bitte alle an Bord! Letzter Aufruf! M. S. Cumberland! New York – Southampton“, dröhnte es aus einer Flüstertüte vom Schiff herüber.
Celeste sah ihre Auftraggeberin streng an. „Ich werde den Mann finden und bestrafen, das verspreche ich Ihnen, aber ich werde nicht sein Henker sein.“
Mrs. Roovers Miene blieb unbewegt. „Sie haben Moral, Celeste. Das ist selten in dieser Welt. Ich verstehe Ihre Entscheidung und akzeptiere sie. Ich weiß, Sie werden das Richtige tun.“
Sie deutete auf den Umschlag mit den Informationen. „Darin finden Sie eine Vollmacht für die Bank von England. Ich habe Ihnen dort ein Konto einrichten lassen, über das Sie frei verfügen können. Nutzen Sie das Geld, um dieses Schwein zu finden.“
„Ja, Madam, das werde ich.“
„Sie werden mich selbstverständlich auf dem Laufenden halten.“
„Natürlich. Auf Wiedersehen.“
Celeste gehörte zu den letzten Passagieren, die an Bord gingen. Kurz darauf wurden die Taue gelöst und die Cumberland machte sich auf ihren langen Weg über den Atlantik.
Eine Stunde später war alles, was von New York blieb, nur noch ein blasser Streifen am Horizont.
Celeste und Dorothea bewohnten zwei nebeneinanderliegende Kabinen in der ersten Klasse, die durch eine Schiebetür getrennt waren. Sie war nicht verschlossen, sodass Celeste immer nach dem Rechten sehen konnte.
Inzwischen war es Abend geworden. Beide hatten das Abendessen ausfallen lassen und Dorothea hatte sich schon bald darauf zur Nacht zurückgezogen.
Es dauerte nicht lange und Celeste konnte hören, wie das Mädchen leise im Schlaf stöhnte. Besorgt betrat sie auf nackten Füßen die Kabine. Das Licht einer kleinen Gaslampe warf zuckende Schatten durch den Raum.
Dorothea lag ausgestreckt in ihrem Bett, das Kissen mit beiden Armen fest umschlungen. Ihre goldenen Locken schimmerten auf den blütenreinen Laken und ihre sanft geschwungenen Lippen zuckten, als spräche sie im Schlaf. Sie träumte. So lebhaft, dass sie die Bettdecke ans Fußende gestrampelt hatte.
Celeste deckte sie wieder zu, strich ihr beruhigend über die kühle Stirn und kehrte dann wieder in ihre Kabine zurück.
Der Umschlag mit Mrs. Roovers Informationen wartete auf sie. Er lag auf dem Sekretär, vor dem sie Platz nahm. Ihre Augen brannten, sie war müde, aber noch nicht müde genug, um sich schlafen zu legen. Also öffnete sie den Umschlag und begann zu lesen, was Mrs. Roover gesammelt hatte.
Estelle Wiggins. Sechzehn Jahre alt.
Es gab keine Fotografie, nur eine grobe Beschreibung.
Blondes Haar, blaugraue Augen. Ein Meter siebenundfünfzig. Erwürgt. Seil oder Tuch. Gefunden am 29. Juli. Themse. Battersea Park.
Aus einem Zeitungsartikel erfuhr Celeste, dass ihre Eltern sie in ihrem Zimmer gewähnt hatten. Aber irgendwann in der Nacht musste sie sich hinausgeschlichen haben. Es gab keine Spuren eines Einbruchs, nichts, was auf eine Entführung hingedeutet hätte.
Wohin Estelle gegangen war oder ob sie jemanden hatte treffen wollen, verriet der Text nicht.
Die Notizen füllten nicht einmal eine Seite und Celeste fragte sich, wo sie ansetzen sollte. Mit Dorothea konnte sie nicht sprechen, wenn nicht einmal ihre Tante den Mut aufgebracht hatte, ihr von Estelles Tod zu erzählen. Hinter ihr hörte sie ein Geräusch, das sie zwang, sich hastig umzudrehen.
Fast hatte sie das Mädchen erwartet, wie es ihr über die Schulter sah. Aber sie war allein. Vielleicht war nur jemand an ihrer Kabinentür vorbei gegangen. Dennoch, sie wollte kein Risiko eingehen. Sie schob die Papiere hastig in den Umschlag zurück und versteckte ihn zusammen mit den anderen beiden Kuverts im doppelten Boden ihrer Reisetruhe.
Sie stand auf und ging zum Waschtisch. Um ihre Müdigkeit zu bekämpfen, gab sie Wasser in eine Waschschüssel, tauchte die Hände hinein und wusch sich das Gesicht. Als sie wieder aufsah, blickte sie in den goldumrahmten Spiegel an der Wand. Kleine Tropfen rannen ihre Nase entlang und glänzten auf der feinen Zeichnung ihrer Wangenknochen. Nachdem sie sich abgetrocknet hatte, ging sie zum Bett und setzte sich auf den Rand. Ihr Blick fiel auf eine kleine Fotografie, die auf einer Konsole an der Wand stand. Das Bild steckte in einem Rahmen aus dunklem Holz. Das Papier war rissig und an den Rändern schon etwas verblichen. Eine Erinnerung an zu Hause. Celeste nahm es in den Schoss und betrachtete es.
Da war ihr Vater, in seinem Lieblingssessel sitzend. Das Haar sauber gescheitelt, der Anzug wie eine Uniform und die künstliche Hand auf seinem Knie. Ihre Mutter stand hinter ihm. Ihr teures Kleid und die noch kostspieligeren Perlen um ihren Hals und an den Ohren konnten nicht darüber hinweg täuschen, dass sie unglücklich war. Ihr Lächeln war ebenso künstlich wie die Hand ihres Mannes.
Nur ihr Bruder, der auf seinem Schaukelpferd saß, lachte herzlich und ehrlich. Celeste selbst stand neben ihm, ein pausbackiges Kind im Rüschenkleid, das ihrem erwachsenen Ich nun aus großen Augen entgegensah. Ob Mom und Dad manchmal an mich denken? Ob sie sich Sorgen machen, fragte sie sich im Stillen. Doch die stummen Gesichter gaben ihr keine Antwort.
Mit einem Seufzer stellte sie die Fotografie zurück und legte sich ins Bett.
Durch die angelehnte Tür konnte sie Dorothea im Schlaf weinen hören. Wieso hatte das Mädchen nur solch panische Angst, nach Hause zurückzukehren?
4. September 1877 London Kurz nach Mitternacht
Die Straßen in Lambeth lagen still und verlassen da. Der Regen, der seit den Abendstunden über London niederging, hatte die Menschen in die Häuser getrieben. Nur die armen Teufel, die sich keine Unterkunft leisten konnten, kauerten unter tropfenden Vordächern oder in abbruchreifen Ruinen, die weder Türen noch Fenster besaßen. Die Dunkelheit hatte schon vor Stunden einen trüben Tag abgelöst.
In einer schmalen Gasse, in der sich Abfall stapelte, balgten sich ein paar Ratten um die Kadaver zweier Katzen, denen irgendjemand das Fell abgezogen hatte.
Im verwahrlosten Hinterhof eines Gerbers bellte ein Hund.
All das kümmerte Madame Yin nicht, die, wie jeden Tag, den gleichen Weg ging.
Obwohl sie schon seit über zwanzig Jahren in London lebte, kannte niemand ihren richtigen Namen, und ebenso rätselhaft wie ihr Name war auch ihre Herkunft. Ihre mandelförmigen Augen ließen keinen Zweifel daran, dass sie aus Asien stammte, doch sie sprach ein so gutes Englisch, dass viele vermuteten, sie lebte schon immer hier. Die Jahre auf der Straße, die langen Nächte und vielen Liebhaber hatten Spuren auf ihrem einst zarten Gesicht hinterlassen. Ihre Lippen waren schmal, aber auffallend rot geschminkt. Tiefe Falten zeichneten ihr Gesicht von der Nase bis hinunter zu den Mundwinkeln. Ihre Haut wirkte blass, im Licht der matten Gaslaternen sogar kränklich gelb. Sie humpelte – ein Überbleibsel aus der Zeit, als sie noch als einfache Straßenhure ihren Lebensunterhalt verdienen musste und ein Freier sie fast totgeprügelt hatte.
Die Straße war ihr Lehrmeister gewesen. Erwarte nichts und erhoffe nichts, niemand wird dir etwas schenken. Du musst es dir selbst nehmen. Nach diesem Credo lebte sie, und nach diesem Credo handelte sie. Und nun gehörten ihr drei Opiumhöhlen und zwei Bordelle, was ihr ein beträchtliches Einkommen einbrachte, sowie den Respekt der Männer und Frauen, die ihr Geld ebenfalls im Schatten verdienten.
Ihre Häuser liefen so gut, dass sie sich die edelsten Kleider hätte leisten können, aber darauf verzichtete sie ebenso wie auf einen Leibwächter oder auf eine Kutsche, die sie trocken durch den Regen gebracht hätte. Um ihre Etablissements zu besuchen und nach dem Rechten zu sehen, ging sie, wie früher, zu Fuß. Nur einen Schirm gegen den Regen und einen Stock als Gehhilfe gestattete sie sich als Luxus, denn neben ihrem lahmen Bein bereitete ihr bei nassem Wetter auch ihr Rücken Kummer. Sie bog gerade in die Newcomen Street ein, als der Regen nachließ. Die Luft roch frisch und klar, der Regen hatte seinen Dienst getan und den fauligen Gestank nach Armut und Hoffnungslosigkeit fortgewaschen. Madame Yin blieb einen Moment lang stehen und nahm einen tiefen Atemzug. Sie konnte ihr Zuhause schon am Ende der Straße sehen. Die obere Etage lag im Dunkeln, dort wohnte sie. Aus der unteren Etage, über deren Eingang ein roter Holzdrache hing und wo tiefrote Lichter in den Fenstern brannten, konnte sie leises Flötenspiel und Lachen hören.
Sie hatte also noch Gäste, wie sie ihre opiumsüchtige Kundschaft gerne nannte. Dabei machte sie keinen Unterschied, ob jemand von hohem Stand war oder tagsüber in den Werften schuftete. Ob Mann, ob Frau, alt oder jung – Hauptsache, sie konnten die drei Schillinge aufbringen, die sie für die Jagd nach dem Drachen bezahlen mussten.
Aus dem Schatten trat eine Gestalt an sie heran, die einen Strauß Blumen in der Hand hielt. Es war ein Mann mit Mantel und Zylinder.
„Verzeihen Sie. Madame Yin?“, fragte er mit sanfter Stimme.
Sie nickte höflich. „Kann ich etwas für Sie tun, mein Freund?“
Er sagte nichts, sondern reichte ihr lediglich mit gesenktem Kopf die Blumen. Es waren rote Rosen. Madame Yin nahm sie und roch daran. „Das ist aber reizend von Ihnen“, sagte sie und schenkte ihm ein seltenes Lächeln. „Haben Sie vielen Dank. Möchten Sie mich ein Stück begleiten?“
Er hob den Kopf. Seine Augen funkelten. „Nein, Madame. Das möchte ich nicht.“ Unvermittelt stürzte sich der Mann auf sie.
Der Blumenstrauß fiel zu Boden. Er zertrat ihn.
Rosenblätter rissen ab und schwammen den Rinnstein entlang, tanzten und drehten sich auf dem Wasser. Ein Reigen, den auch Madame Yin tanzte. Sie wand sich, kämpfte, wollte fliehen, um Hilfe schreien, aber er hielt sie am Hals gepackt, drückte zu und presste ihr ein Tuch auf Mund und Nase. Sie roch und schmeckte Alkohol. Ihr wurde schwindelig. Ihre Gegenwehr erlahmte. Dann wurde es dunkel.
7. September 1877 Die Themse Früher Morgen
Die Princess of the Thames war ein altersschwacher, rostiger Kahn, der nach Öl, Kohle, Ruß und Müll stank. Tuckernd spie der Motor schwarze Rauchwolken in den Himmel. Ein Geruch, der auch den beiden Männern anhaftete, die auf der Princess ihre Arbeit taten.
Sie waren Watermen und fischten den Müll aus der Themse, den andere hinein warfen. Ihre Aufgabe nahmen sie mit Humor und einer Flasche Gin, die sie schon zur Hälfte geleert hatten. Dabei hatte Big Ben erst neun Mal geschlagen. Die reich geschmückte Fassade des Parlaments erhob sich links von ihnen, aus einem Schleier von Rauch und Nebel.
Der Jüngere der beiden wischte sich mit dem dreckstarrenden Ärmel über die Nase, während er mit der Hakenstange nach einem Leinensack stocherte, der Steuerbord am Boot vorbei trieb.
Er hoffte auf einen guten Fang. Hin und wieder fanden sie tatsächlich etwas, das sich zu Geld machen ließ.
„Bei den dick'n Titten meiner Schwesser. Das sieht mir nach 'nem guten Fang aus!“, rief der Mann seinem Kameraden zu, der am Ruder stand und das Boot ruhig im Wasser hielt. Der streckte den Hals und grinste dreckig. „Deine Schwester hat sogar verdammt dicke Titten, und weich sind die auch noch.“
Der andere winkte ab, aber der Mann am Ruder war noch nicht fertig. „Hey, Potts. Egal, was es is'. Wir machen halbe-halbe. Is' klar, nich'?“
„Ja is' klar, Dorsey, sicher. Verflixt un' Teufelsauge, verdammtes … Dreck …“ Ihm rutschte der Sack nun schon zum zweiten Mal vom Haken. Erst beim dritten Mal schaffte er es, den schweren Leinensack aus dem Wasser zu ziehen.
„Der is' verflucht drecksschwer. Dors! Wenn du artig bis', geb' ich heut' einen aus!“
Sein schwerfälliger Geist gaukelte Potts alle möglichen Kostbarkeiten vor, die sich gleich auf Deck ergießen würden. Mit seinem Messer schlitzte er den Sack auf und kippte ihn aus. „Verfluchte Scheiße“, schrie er auf und prallte zurück. Träume von reicher Beute zerplatzten wie Seifenblasen.
Was da nass, aufgequollen und von Maden zerfressen vor ihm lag, war … Potts wandte sich ab, ehe er Genaueres erkennen konnte. „Dreck, Dreck, Dreck!“
„Was is'n? Machst'n für'n Geschrei?“ Dorsey kam um die Kajüte herum. Die Princess schaukelte nur noch träge auf den Wellen.
Er stieß mit Potts zusammen und beide setzten sich auf den Hosenboden.
„Da, da …“ , stammelte Potts kreideweiß.
„Du dämlicher Bastard“, fuhr er ihn an. „Das is' nur 'n verreckter Hund.“
„Echt?“
„Klar, was has'n du geglaubt?“
Potts druckste herum.
„Etwa'n Krepierten? Is' doch viel zu klein. Ney, ney. Da scheißt du dir in die Hose. Hab' schon welche gefunden. Total aufgeduns'n. Das Maul aufgeriss'n. Ich sag dir, die Seelen von denen, die sin' immer noch hier. Geh'n nich' weg. Manche machen auch Geräusche. Roorgs. Aaach“, machte Dorsey und sein Kumpel schlug ihm gegen die Schulter.
„Blöder Scheißer.“
Dorsey lachte sich kaputt, während Potts alles dafür tat, den Gin in seinen Eingeweiden zu behalten.
„Hier, mach's weg.“ Dorsey warf ihm eine Schaufel zu. „Schmeiß es über Bord, soll'n sich annere die Finger dreckig mach'n.“
Er ging zurück und gab wieder Geschwindigkeit auf den Motor der Princess.
Die Schiffsschraube wirbelte Blasen auf, nur um sofort darauf mit einem hässlichen Knacken den Dienst zu versagen. Ein paar Ventile pfiffen so laut, dass die herumfliegenden Möwen in lautes Zetern ausbrachen. Öl spritzte aus reißenden Schläuchen.
Mit der Faust schlug Dorsey auf das Steuerrad. „Was'n nu wieder?“, fluchte er lauthals und stoppte die Maschine.
Sofort war Potts zur Stelle.
„Hast du den scheiß Köter weggemacht?“, blaffte Dorsey.
„Noch nich'. Was 'n los?“
„Wir ham' was mit der Schraube aufgegabelt.“
Beide beugten sich über die Heckreling und sahen aufs Wasser. Dann starrten sie sich gegenseitig an. Sie mussten schlucken, bis Potts nach der Flasche Gin griff, einen tiefen Schluck nahm und sie dann an Dorsey weiterreichte, der sie ohne abzusetzen leer trank, sich dann über den Mund wischte und aufs Wasser zeigte. „Das da, das is'n Krepierter. Los, hol die Haken.“
„Den will'se doch wohl nich' an Bord holen?“ Potts spürte, wie ihm der Gin brennend wieder die Speiseröhre hinaufkletterte. Er schaffte es gerade noch an die Reling. Dann übergab er sich.
„Hör auf mit'm Quatsch. Komm und hilf mir.“
„Lass 'n im Wasser.“
„Geht nich'. Hängt inner Schraube fest. Und … hey. Vielleicht hat sie was dabei. Außerdem is' es unsere Menschenpflicht.“
„Häh?“
„Nächstenliebe oder wie die Scheiße heißt. Und jetz' wisch dir's Maul ab und hol die scheiß Stangen.“
Potts stapfte davon, während Dorsey auf den schwimmenden Leichnam starrte, der ihm nur seine Rückseite zeigte. Langes schwarzes Haar. Ein Kleid, das im Wasser trieb wie eine übergroße tote Qualle. Es konnte nur eine Frau sein.
Mit den Hakenstangen unter dem Arm kehrte Potts zu ihm zurück und zusammen begannen sie nach der Toten zu stochern, bis sich die Haken in dem Kleid verfingen. Sie zogen sie an die Bordwand und endlich bekam Dorsey sie mit den Händen zu packen. „Ich hab 'se!“, rief er. „Pack mit an!“
„Was soll ich? Hol's der Teufel! Nein!“ Potts sah ihn erschrocken an.
„Mach schon, du feiger Hosenscheißer! Die Jungs im Salt 'n'Fish werd'n dir ein' ausgeben, wenn du's erzählst. Deine erste Krepierte. Jetzt pack schon mit an. Sie haut mir ab.“
Freie Drinks? Das überzeugte Potts sofort und er griff beherzt zu. Er bekam die Tote am Arm zu fassen. Das Fleisch fühlte sich weich und klamm an.
Sie schafften es, sie zur Hälfte aus dem Wasser zu ziehen, dann hing sie fest. „Ihr verfluchtes Bein“, keuchte Dorsey. „Es hängt inner Schraube fest. Los noch mal. Mit … aller … Kraft.“
Beide stemmten die Füße gegen die Reling und plötzlich gab der Widerstand nach und die beiden Männer stürzten zusammen mit der Leiche auf Deck.
Potts kroch hektisch unter der Toten hervor. Sein Gesicht war vor Ekel verzerrt. Auf der Stelle springend, als hätte er sich die Füße verbrannt, wischte er sich das stinkende Themsewasser aus dem Gesicht. „Die … die Drecksschlampe hat mich angefasst.“ Schon wandelte sich seine Gesichtsfarbe in ein blässliches Grün.
Im Gegensatz zu ihm blieb Dorsey gefasst. Er stand auf, richtete seine speckige Jacke und schob sich die Mütze in den Nacken. Sein Blick hing an der Leiche. Deren Augen waren weit aufgerissen und starrten bleich in den Himmel. „Sieht aus wie 'n toter Fisch. Stinkt auch genauso.“
Ihr Bein war unterhalb des Knies abgerissen. Entweder hing der Rest noch in der Schraube fest oder trieb nun die Themse hinunter Richtung Küste.
Dann durchsuchte er die Tote nach etwas von Wert, fand aber nichts. Auf einmal stutzte er. Etwas hing der Toten aus dem Mund. „Was 'n das?“, murmelte er und fasste mit spitzen Fingern zu. Es war ein Stück Stoff, gelb und mit einem Rosenmuster, sauber zusammengefaltet und mit einer dünnen Schnur verknotet. Neugierig öffnete er es. Darin war eine blonde Haarlocke, ebenso säuberlich zu einer Schleife verknotet.
Er kratzte sich am Kopf, aber auch Nachdenken brachte keine Lösung. Also steckte er das Päckchen ein und brachte wieder Dampf auf den Kessel.
Die Princess steuerte in Richtung der Piers, die flussabwärts von Westminster Bridge lagen. Dorsey bekreuzigte sich.
„Was mach'n wir denn jetz'?“ Potts war beängstigend ruhig geworden.
„Was schon? Wir hol 'n die Copper.“