Kitabı oku: «Das Geheimnis der Madame Yin», sayfa 3

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Südlich von Westminster Bridge Zur Mittagsstunde

Drei Stunden später hatte die Nachricht von der Toten in der Themse die Runde gemacht. Die Polizei hatte Pier 14 abgesperrt, an dessen Ende die Princess vertäut lag. Inzwischen war eine große Menschenmenge zusammengekommen, die neugierig Richtung Fluss starrte. Eine Hansom-Kutsche hatte am Ende der Straße gehalten und ein Mann war ausgestiegen. Er war hochgewachsen, breitschultrig, mit schwarzem Haar, welches er seitlich gescheitelt trug. Die energisch zusammen gepressten Lippen beschattete ein Oberlippenbart. Er sah zum Himmel. Nieselregen flirrte durch die Luft und tauchte die Silhouette Londons in einen trüben Schleier. Den Kragen hochgeschlagen und die Hände tief in den Taschen seines Mantels vergraben bahnte er sich einen Weg durch die Menge, die gaffend die Köpfe in die Höhe reckten oder auf Fässern, Karren und Mauern hockten, um besser sehen zu können.

„Sie können hier nicht durch“, sagte einer der Bobbys, die den Durchgang versperrten. Der Custodian-Helm, der die Nummer seines Reviers auf einer Plakette trug, drückte ihm auf die Augenbrauen. Sein blauer Mantel glänzte vor Nässe.

„Inspector Robert Edwards“, sagte der Mann und fügte bedeutungsschwer hinzu: „Scotland Yard.“ Er zeigte seinen Ausweis.

„Verzeihung, Sir. Ich wusste ja nicht …“

„Schon gut, Constable. Machen Sie weiter.“ Edwards betrat den Pier und ging zum Boot.

An Bord konnte er zwei Beamte ausmachen. Einer von ihnen wandte ihm zwar den Rücken zu, doch seine affektierten Gesten, mit denen er seine Monologe gerne unterstrich, waren unverkennbar: Inspector Kippwell von der L-Division. Auf seinem Kopf thronte ein schwarzer Bowler, der ihm das Aussehen einer Kanonenkugel verlieh.

Edwards konnte diesen blasierten Affen nicht ausstehen, der zwei Jahre lang sein Ausbilder gewesen war. Schon fragte er sich, warum ihn Chief Inspector DeFries überhaupt herbestellt hatte.

„Guten Tag, Gentlemen“, sagte er und zwang sich, freundlich zu bleiben.

Kippwell schien wie vom Donner gerührt. Einen Moment lang suchte er nach Worten, dann zuckten seine Mundwinkel. „Edwards. Was wollen Sie denn hier?“

„Wollte mir mal die Füße vertreten und sehen, was Sie so treiben.“

„Ich brauche Sie nicht. Gehen Sie.“

Edwards grinste herausfordernd. „Ist wirklich zu dumm, was, alter Knabe?“

„Was zum Teufel meinen Sie?“

„Nun, dass die Leute immer sterben, wenn Sie gerade Dienst haben. Wo Sie doch bequem vor dem Ofen sitzen könnten, um ihre Pfeife zu rauchen.“

Kippwell erstarrte. „Gibt es nicht irgendwo eine Prügelei, die Ihre Anwesenheit erfordert?“

„Nein, momentan nicht. Es sei denn, Sie wollen eine mit mir anfangen.“

„Verschwinden Sie. Scotland Yard ist hier überflüssig.“

„Das sieht der Chief Inspector wohl anders.“

„Ich bin der leitende Beamte“, schnappte Kippwell, missgünstig sein Revier bewachend.

„Sie können ihn ja selber fragen, alter Knabe. Er will herkommen. Solange werde ich Ihrem messerscharfen Verstand bei der Arbeit zusehen.“

Kippwell pustete eine Rauchwolke in die Luft und glich dabei einem Drachen, der seinem nächsten Opfer giftigen Odem entgegen spie. Es bereitete Edwards eine diebische Freude zu sehen, wie er seinen ehemaligen Vorgesetzten aus der Fassung brachte. Dann erstarrte er, als er einen Blick auf das Gesicht der Toten erhaschen konnte. Sofort schob er Kippwell beiseite, um neben ihr niederzuknien.

„Kennen Sie die Frau?“, fragte der Sergeant, der bis dahin schweigend daneben gestanden hatte.

„Würde mich nicht wundern, wenn er so eine abgetakelte Schabracke kennen würde.“

„Halten Sie den Mund, Kippwell“, schnaubte Edwards. Für ihn war der Blick in das Gesicht der Toten wie ein Blick in die Vergangenheit. Damals, als er noch als Constable Dienst in Whitechapel getan hatte. Er schloss ihr die Augen. „Das ist Madame Yin.“ Ein seltsames Gefühl der Verbundenheit überkam ihn.

„Und wer soll das sein?“, knurrte Kippwell.

„Sie war eine der wichtigsten Frauen in Lambeth und Whitechapel. Opium, Huren, Glücksspiel. Sie hatte überall ihre Finger drin. Sollten Sie Ihr Klientel nicht etwas besser kennen, Kippwell?“

„Ersparen Sie mir Ihre verfluchte Klugscheißerei und hauen Sie endlich ab. Sie stören mich.“

„Wobei? Beim Rauchen?“

„Jetzt hab ich aber genug von Ihnen. Runter vom Schiff.“

Edwards sah auf Kippwells geballte Fäuste. „Versuchen Sie es doch. Den ersten Schlag gestatte ich Ihnen.“

„Gentlemen, sollten wir uns angesicht der Toten nicht ein wenig beherrschen?“ Die Worte des Sergeant fielen wie Blei auf Deck.

Kippwell nagte an seiner Pfeife wie ein Hund an seinem Knochen.

„Ihr Sergeant hat recht, aber an einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit stehe ich Ihnen gerne zur Verfügung.“ Edwards hatte Mühe sich zu beherrschen. Er sah wieder zu der Toten. „Armes Ding.“

„Armes Ding?“, höhnte Kippwell. „Dass ich nicht lache. Wie sie selbst gerade sagten, war sie ja wohl eine Kriminelle. Dass sie tot ist, bedeutet nur eine weniger, um die wir uns Sorgen machen müssen.“

„So sehen Sie das also? Und was ist mit dem Schwein, das sie umgebracht hat? Der hat der Stadt dann wohl einen Gefallen getan?“

Zwei Kutschen hielten am Pier und zogen die Aufmerksamkeit aller auf sich, ehe der Streit erneut aufflammen konnte.

Doktor Noah Aeglewood, der Polizeiarzt des Yard, und Chief Inspector Hendrik DeFries stiegen aus.

DeFries war wie immer tadellos gekleidet. In den schwarzen Hosen, mit Mantel, Gehrock, Weste und Zylinder schien er eher für die Oper oder den Gentlemen's Club gekleidet als für einen Tatort. Sein langes Gesicht mit der spitzen Nase war, ebenfalls wie immer, ausdruckslos.

Seite an Seite kamen die beiden Männer auf die Princess zu.

Kippwells Miene verriet tiefe Verunsicherung, als sich der Doktor unverzüglich mit der Leiche beschäftigte und ihm nur knapp zunickte. DeFries bedachte ihn mit einem adlergleichen Blick. „Inspector Kippwell. Kann ich Sie einen Moment sprechen? Unter vier Augen.“

„Ja … natürlich, Sir.“

Sie entfernten sich ein Stück, bis DeFries stehenblieb und die Hände hinter dem Rücken verschränkte.

„Ich möchte es kurz machen. Scotland Yard übernimmt von jetzt an die Ermittlungen.“

„Was? Das können Sie doch nicht machen!“ Das mopsige Gesicht lief puterrot an.

„Sie sind in dem einen Monat seit dem letzten Mord nicht ein Stück vorangekommen. Ihre Berichte sind absolut nicht befriedigend und jetzt gibt es ein zweites Opfer mit dem gleichen Stück Stoff im Mund. Aber deswegen entziehe ich Ihnen den Fall nicht.“ Er zog ein Heft aus billigem Papier aus der Manteltasche.

Das Titelbild zeigte einen riesenhaften Schatten, der über einer jungen Frau stand, die er mit langen Krallenhänden erwürgte. „Der Würger im Schatten von P.D. Wolkins“, las DeFries die Überschrift.

Kippwell blinzelte überrascht. „Woher haben Sie das?“

„Diesen Schund kann man bei jedem Zeitungshändler kaufen.“

„Damit habe ich nichts zu tun.“

„Ach nein? Und woher weiß der Kerl dann so viel über diesen Fall? Die Strangulation? Das Stück Stoff, die Haarlocke? Verdammt noch mal. Sie sind der leitende Beamte. Sollte ich nachweisen können, dass Sie Informationen an diesen Schmierfinken weitergegeben haben, sind Sie die längste Zeit Ihres Lebens Polizist gewesen. Haben Sie mich verstanden, Inspector?“

Kippwells Halsmuskeln zuckten, während er nach einer Antwort suchte und doch nur ein klägliches „Ja, Sir“ zustande brachte.

„Gut. Sie werden die Akten zum Mord an Estelle Wiggins unverzüglich zum Yard bringen lassen. Inspector Edwards wird von nun an übernehmen.“

„Ja, Sir.“ Kippwell knirschte mit den Zähnen.

„Sie können jetzt gehen.“

Ohne ein Wort wirbelte der Inspector herum und rauschte davon. Sein Sergeant folgte ihm und hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten.

Edwards sah den beiden hinterher. Als sein Vorgesetzter neben ihn trat, sagte er: „Kippwell sah nicht gerade glücklich aus.“

„Dazu hat er auch keinen Grund. Sie übernehmen jetzt seinen Fall. Wollen wir?“

„Sicher, Sir.“

Die beiden Watermen, Dorsey und Potts, standen da wie Salzsäulen und hatten sich die ganze Zeit über nicht gerührt. Dabei machten sie Gesichter, als wären sie die unschuldigsten Burschen in ganz London.

„Dann erzählen Sie mal“, begann Edwards, „was ist passiert?“

Dorsey machte den Mund auf und spie ihm seinen Gin-Atem entgegen. „Wir schippert 'n da so in der Midde der Themse, da fand der Potts so was, was im Wasser rumschwamm.“

„War aber nur 'n toter Köter. Hab ihn noch da, wenn'se 'n sehen woll'n.“

„Der Herr Inspector interessiert sich 'n Scheiß für dein' Drecksköter, Potts.“

„Schon gut, schon gut“, schlichtete Edwards. „Was passierte dann?“

„Die Schiffsschraube hing fest. Da ham wa 'se dann geseh'n. Tot wie meine alte Mutta. Wir ham 'se dann rausgefischt.“

„Und das Bein?“

„Hat sich wohl der Fluss geholt. Der Fluss holt sich imma sein' Anteil.“

„Wo haben sie die Tote gefunden?“

Dorsey drehte sich, um den Fluss hinauf zu zeigen. „War'n nich' weit weg, vom Parle … Perliamee …“

„House of Parliament?“, fragte DeFries.

„Ja, genau. Da schwamm sie einfach so rum. Fast inner Midde. Da zerrt die Strömung an dir, wie ne Nutte im Salt'n'Fish.“

Edwards verkniff sich ein Grinsen, während DeFries den Waterman mit strengem Blick maßregelte.

„Du bis' doch verheiratet, Dors“, flüsterte Potts.

„Halt die Schnauze“, raunzte Dorsey seinem Partner zu.

„Ich werde Ihrer Frau nichts sagen“, versprach Edwards. „Hatte sie etwas bei sich?“

„Ja, hab' ich doch schon erzählt. Das hier.“ Dorsey gab ihm das gelbe Stück Stoff mit der Haarlocke. DeFries nickte. „Wie bei Estelle Wiggins.“

„Das hat 'se zwisch'n den Zähnen gehabt“, erklärte Dorsey.

„Noch was?“

„Nein, nix.“ Die Antwort kam Edwards zu schnell. „Gentlemen, Sie wollen doch keinen Ärger mit uns, oder?“

Widerwillig griff Dorsey ein weiteres Mal in seine vor Schmutz starrende Jacke und hielt einen Haarkamm aus Schildpatt in der schwieligen Hand, der in der Mitte durchgebrochen war.

„Wo ist die andere Hälfte?“

„War nich' da.“

Edwards hob eine Augenbraue.

„Nein, ehrlich. Die hadde nich' mal Schmuck. Das da war alles. Hätt's fast überseh'n.“

„Na schön.“

Edwards betrachtete den Kamm. Er hatte die Form eines Schmetterlings, der in den Farben des Regenbogens schimmerte. Ein paar chinesische Schriftzeichen aus irgendeinem weißen Material waren in den Kamm eingelegt. Dem Schmetterling war ein Flügel abgebrochen. Ein paar Zacken fehlten. Er steckte ihn ein und widmete sich dann der Haarlocke und dem Stück Stoff. „Die Haarsträhne ist ordentlich verknotet. Sehr weicher Stoff. Rosenmuster.“

War das vielleicht Seide? Er konnte nur raten. Er hatte noch nie Seide in der Hand gehalten. Dann hielt er es sich an die Nase und atmete tief ein. Es stank fürchterlich nach Themsewasser, der Kloake Londons, und er roch den fauligen Gestank des Todes, der jeder Leiche anhaftete. Hinzu kamen die Ausdünstungen eines ungewaschenen Körpers und einer noch seltener gewaschenen Hose. Aber da war noch etwas anders? Ein Hauch Jasmin.

„So wie das hier verschnürt ist, hat sich der Mörder große Mühe gegeben. Die Schleife um die Haarlocke ist perfekt gebunden. Das hat er geplant. Sicher hat er seine Opfer vorher beobachtet.“

Edwards offen ausgesprochener Gedankengang wurde jäh unterbrochen, als Aeglewood von einem heftigen Niesanfall heimgesucht wurde.

„Entschuldigung. Jedes Jahr das Gleiche“, schniefte er, „dieser verdammte Herbst bringt mich eines Tages noch um.“

Edwards grinste. „Du klingst furchtbar, Noah. Vielleicht solltest du mal zu einem richtigen Arzt gehen.“

„Ich bin ein richtiger Arzt“, erwiderte Aeglewood verschnupft. „Ich kann auch den Coroner kommen lassen, wenn dir der lieber ist.“

„Nein, nein“, beschwichtigte Edwards. „Der sagt uns nur, dass sie tot ist, und das kann ich selbst sehen.“

Aeglewood schnäuzte sich ein weiteres Mal und zupfte am Revers seines Jacketts, ehe er sich neben dem Kopf der Toten niederkniete.

„Gentlemen. Sie ist erwürgt worden. Hier, diese Male auf dem Kehlkopf sind eindeutig. Dafür kommt nur ein dünner Strick in Frage. Er hat vermutlich ein dünnes Holz benutzt, das er in ihrem Nacken in eine Schlaufe gesteckt hat, um den Strick dann langsam enger zu drehen. Durch den Hebel braucht man nicht viel Kraft. Irgendwann hat es ihr den Kehlkopf zerquetscht.

„Starb sie schnell?“, wollte Edwards wissen.

„Das lässt sich schwer sagen. Ich weiß nur, dass sie sich sehr gewehrt hat. Sehen Sie hier. Die Quetschungen am Handgelenk, die Schnitte und Blutergüsse. Das kommt von eisernen Handschellen. Offensichtlich sehr scharfkantig. Außerdem wurde ihr die Nase gebrochen. Vermutlich durch einen einzigen Schlag ins Gesicht. Ich werde sie mir aber noch genauer ansehen. Vielleicht finde ich noch etwas anderes, was für Sie von Interesse sein könnte.“

DeFries blieb sachlich. „Wir wären schon einen Schritt weiter, wenn wir wüssten, wer die Frau ist.“

„Das ist Madame Yin“, erklärte Edwards, ohne den Blick von der Toten zu nehmen.

„Als ich bei der H-Division anfing, arbeitete sie noch als einfache Straßendirne. Es gab damals ziemlich oft Ärger mit Freiern, die handgreiflich wurden, dabei sind wir uns ein paar Mal begegnet. Dann hat sie sich hochgearbeitet. Ein paar Jahre später führte sie bereits ein Bordell in Lambeth. Als ich dann zu Kippwell kam, habe ich sie aus den Augen verloren … aber ich habe noch gelegentlich von ihr gehört. Es schien gut für sie zu laufen.“

„Eine junge Frau aus gutem Hause und eine Bordellbesitzerin. Beide auf die gleiche Weise getötet. Wie passt das zusammen?“, hörte er DeFries fragen.

„Um das zu beantworten, müsste ich mehr über das erste Opfer wissen.“ Edwards hatte vom ersten Mord nur am Rande erfahren.

„Ich habe Kippwell befohlen, Ihnen alles zu diesem Fall zukommen zu lassen.“

„Hmm“, machte Edwards bloß, während er noch einmal zur Leiche sah, die inzwischen von zwei Helfern von Deck getragen wurde. Ein weißes Leinentuch lag über ihr.

Doktor Aeglewood tippte sich an den Rand seines Hutes. „Gentlemen. Wenn es Neuigkeiten gibt, lasse ich es Sie wissen.“

„Ich denke, wir sind hier fertig“, sagte DeFries. „Wir kommen mit Ihnen.“

Einer der Watermen räusperte sich und klang dabei wie eine Katze, die ein Fellknäuel hochwürgte.

„T'schuldig'n Sie die Störung, Sörs, aber ich hätt' da mal 'ne Frage.“

„Ja, guter Mann?“, sagte DeFries.

„Sör, ahem. Wir hab'n jetzt ziemlich lang gewartet und konnten nich' arbeiten. Gibt's vielleicht so was wie 'n … Finderlohn? Versteh'n Se? Wir woll'n nich' gierig sein, aber wir kommen sons' nich' rum.“

„Ich verstehe schon. Aber nein, wir zahlen Zeugen nichts, wenn sie uns zu einem Tatort rufen. Tut mir leid.“

„Und was is' mit dem Schaden am Schiff? Der Motor hat was abgekriegt und die Schraube is' sicher auch hin. Wie soll'n wir denn den Kram bezahl'n, den wir brauch'n?“

„So gerne ich Ihnen helfen würde, aber Sie hatten Pech und Scotland Yard übernimmt nicht die Haftung für entstandene Schäden, noch für ihren entgangenen Lohn.“

„Zum Teufel“, kam es Dorsey in ehrlicher Wut über die Lippen, was ihm sofort leidtat. „Tschuldigung“, beeilte er sich zu sagen. „Is' nur so, dass wir dann heute Abend nix zu beißen ham. Und wenn die Princess nich' fahren kann, verdien' wir auch nix. Ich hab vier Mäuler zu stopfen.“

Für DeFries war das Gespräch beendet. Er nickte knapp und schloss sich Aeglewood an.

Edwards hingegen nahm drei Schillinge aus seiner Geldbörse und steckte sie den Männern zu.

„Wenn ihr noch was habt, was ich wissen müsste, fragt bei Scotland Yard nach Robert Edwards. Verstanden?“

„Ja, Sör. Vielen Dank. Sie sin' ehrvoller Kerl, ja wirklich, dass sin' Se .“

„Euch noch einen guten Tag.“

Als Edwards zu DeFries in die Kutsche stieg, erwartete der ihn mit einem väterlich tadelnden Blick, den er bereits zur Genüge kannte.

„Zurück zum Yard“, sagte DeFries und klopfte an die Decke der Hansom-Kutsche.

Der Fahrer schnalzte mit der Zunge. Das Pferd schnaubte und sie fuhren los.

„Sie sollten nicht so freigiebig sein, Robert. Wenn Sie auf jede traurige Geschichte reinfallen, sind Sie bald arm wie eine Kirchenmaus.“

„Ja, ja, ich weiß.“ DeFries konnte ihn nicht verstehen. Er musste das tun. Er hatte Glück gehabt. Vom Gossenkind zum Polizisten. Er musste nicht hungern und auf der Straße schlafen musste er auch nicht mehr. Es lief gut für ihn. Zu gut? Wie schnell konnte er wieder in der Gosse landen? Ein einziger Fehler genügte. Ein falsches Wort an der falschen Stelle. Menschen wie Dorsey und Potts erinnerten ihn daran, dass es schneller bergab als bergauf ging. Nachdenklich strich er sich über seinen Schnurrbart.

„Woran denken Sie, Robert?“

Edwards zuckte zusammen, als hätte DeFries ihn mit einer Nadel gestochen. „An nichts wirklich Bestimmtes.“

„Sie sind ein schlechter Lügner, Robert. Ich sehe immer, wenn Sie etwas beschäftigt. Sie tragen Ihre Stärken und Schwächen offen mit sich herum. Eine erfrischende Eigenschaft, aber … riskant. Besonders in unserem Beruf. Es macht Sie angreifbar. Seien Sie also auf der Hut.“

„Ich werd's nicht vergessen.“

DeFries sah ihn schräg an. „Sie vergessen meine Ermahnungen doch ständig.“

Edwards schwieg.

Eine halbe Stunde später erreichte ihre Kutsche Whitehall Place Nr. 4.

Sie fuhren durch ein Tor, das sie in einen Innenhof brachte. Dort lag der Eingang zum Gebäude von Scotland Yard. Die Mauern bestanden aus rotem Backstein. Auf den Fensterscheiben spiegelten sich die vorbeiziehenden Wolken und die beiden Straßenlaternen, die den kurzen Weg zum Eingang flankierten. Auf dem Platz, vor dem Gebäude, stand eine Black Maria. Vor der schweren Gefangenenkutsche waren zwei schwarze Friesen angespannt, die unruhig mit den Hufen scharrten. Ein paar Bobbys unterhielten sich mit dem Kutscher und rauchten.

Die Hansom hielt vor dem Eingang. Edwards und DeFries stiegen aus und verabschiedeten sich voneinander. Edwards ging in sein Büro. Dort machte er sich einen Tee, schrieb Notizen zu Madame Yin, betrachtete mehrfach den Kamm aus Schildpatt, die Haarlocke, das Stück Stoff mit dem Rosenmuster und wartete während dieser Zeit auf Kippwells Akten.

Er wartete geduldig bis in den späten Nachmittag hinein. Dann allerdings platzte ihm der Kragen.


Southampton Am Nachmittag

Die M. S. Cumberland hatte vor einer Stunde im Hafen von Southampton angelegt. Tiefgraue Wolken zogen über sie in Richtung Küste hinweg. Ein kühler Wind ließ den Union Jack flattern, der an einem Fahnenmast über der Hafenanlage hing. Die Luft roch nass und salzig nach den Wellen, die gluckernd in den Hafen rollten. Eine Dame im Pelzmantel befand näselnd, dass es für die Jahreszeit zu kühl und zu nass war. Neben ihr hatten sich nur wenige Passagiere an Deck eingefunden, um den Wartenden am Pier zuzuwinken.

Celeste und Dorothea gehörten zu diesen wenigen. Sie standen nebeneinander an der Reling und sahen zu, wie die Hafenarbeiter johlend und fluchend die Aufgänge an der Cumberland befestigten.

„Werden uns deine Eltern abholen kommen?“, fragte Celeste.

„Vater wird sicher keine Zeit haben und Mutter ist zu krank. Er wird einen Diener schicken, wie üblich.“

„Bist du denn gar nicht froh, nach Hause zu kommen? Du warst die ganze Überfahrt so still.“

Dorothea schüttelte den Kopf, sodass ihr die blonden Locken ins Gesicht fielen. „Ich wäre lieber bei Tante Anette geblieben. Bei ihr habe ich mich wohlgefühlt.“ Sie sah hilfesuchend zu Celeste, die sich des Gefühls nicht erwehren konnte, dass das Mädchen etwas sagen wollte, es aber nicht herausbrachte.

Plötzlich nahm Dorothea ihre Hand und drückte sie. „Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie bei mir sind.“

Celeste antwortete nicht, stattdessen legte sie ihre andere Hand über die des Mädchens.

Das Nebelhorn der Cumberland erschallte und mit einem Mal schien es, als hätten die Kabinen, Salons, Restaurants, Cafés und Aufenthaltsräume ihre Besucher auf einen Schlag freigegeben. Die Luft vibrierte vom Klappern unzähliger Schuhe auf den polierten Decks, vom Lärm hunderter Stimmen, die mal laut, mal leise durcheinander plapperten. Das gestochene Oxford-Englisch mischte sich mit dem geschwungenen Akzent aus Cornwall und dem gerollten „R“ eines Schotten aus Glasgow. Dazwischen hörte man Fetzen von Italienisch und Französisch. Ein Paar sprach sogar Deutsch.

Noch war etwas Zeit und Celeste nutzte den Augenblick, um Dorotheas Gesicht zu studieren. Ihre Haut war blass und wirkte kränklich. Die dunklen Ringe unter ihren Augen verrieten den Mangel an Schlaf. Seit sie New York verlassen hatten, litt Dorothea unter Albträumen. Nacht für Nacht war Celeste zu ihr geschlichen, hatte ihr über das Haar gestrichen und ihre Hand gehalten, bis die Dämonen der Nacht wieder ins Dunkel zurückgekrochen waren.

„Ich will nicht zurück nach London. Ich hasse diese Stadt. Warum kann Vater mich nicht in Frieden lassen?“

Celeste verstärkte den Druck auf Dorotheas Hand. „Ich nehme an, deine Eltern haben Sehnsucht nach dir.“

„Sie kennen Vater nicht. Er ist kein Mensch, der Sehnsucht nach etwas … oder jemandem hat. Wenn er etwas tut, gibt es dafür immer einen guten Grund.“

„Und was ist mit deiner Mutter?“

Bei der Erwähnung ihrer Mutter schwand die Härte aus Dorotheas Augen. „Oh doch. Sie freut sich ganz bestimmt. Und … ich mich auch auf sie. Aber es geht ihr nicht gut. Sie leidet sehr und es tut mir weh, sie so zu sehen.“

Celeste wollte nicht fragen, was ihr fehlte. Sie fand, das ging sie nichts an, aber Dorothea erzählte es von sich aus. „Sie leidet seit Jahren an einer Schwäche der Muskeln, die von Jahr zu Jahr schlimmer wird. Früher konnte sie noch ohne Hilfe gehen. Aber zuletzt ging es nicht mal mehr ohne einen Stock.“

„Gibt es denn keine Aussicht auf Heilung?“

„Nein, bis jetzt nicht. Vater hat schon jeden Spezialisten aus England und sogar aus Frankreich konsultiert. Keiner konnte etwas für sie tun.“ Sie schwiegen beide.

Celeste bemerkte, wie sehr es dem Mädchen zusetzte, über die Mutter zu reden, und sie befand, dass es an der Zeit war, das Schiff zu verlassen. „Komm, Dorothea“, sagte sie mit einer Fröhlichkeit, die nur ein Stück weit gespielt war. „Gehen wir von Bord. Ich kann es kaum erwarten, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.“ Lachend zog sie Dorothea hinter sich her, die sich von ihrer fröhlichen Unbekümmertheit anstecken ließ. Sie liefen die Gänge entlang, hielten ihre Hüte fest, an denen der Wind zerrte, jauchzten und kicherten und ernteten dafür strafende Blicke von älteren Paaren, die ihr Verhalten mit einem „Unerhört!“ oder „Was für ein Benehmen“, kommentierten.

Celeste und Dorothea liefen die Treppe hinunter, bemüht, nicht über ihre eigenen Röcke zu stolpern, die mit jedem Schritt von einer Seite zur anderen schwangen.

So erreichten sie die Laufgänge, die inzwischen festgebunden waren. Es gab derer sechs. Zwei waren für die dritte, zwei für die zweite und zwei für die erste Klasse reserviert.

„Bitte … bitte … anhalten. Ich … kann … kaum noch atmen“, keuchte Dorothea lachend und mit vor Freude geröteten Wangen.

Celeste hielt Dorothea bei den Händen, strahlte mit ihr um die Wette und ignorierte dabei die Blicke der Schiffsoffiziere, die wie Zinnsoldaten dastanden und die Passagiere mit eingemeißeltem Lächeln verabschiedeten.

An Land wurden die beiden Frauen bereits von zwei Bediensteten erwartet.

„Miss Dorothea“, sagte der ältere der beiden, der so aussah, als würde er schon seit Ewigkeiten als Butler im Dienste der Familie Ellingsford stehen. „Seine Lordschaft wird entzückt sein, Sie wieder im Kreis der Familie begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Heimreise?“

„Haben Sie vielen Dank, Mr. Peacock. Ich … mein Vater hatte wohl keine Zeit, mich persönlich zu begrüßen?“

Der Butler legte die faltigen Hände ineinander. „Seine Lordschaft bedauert es zutiefst, sich entschuldigen zu müssen, aber dringende Termine haben sein Kommen unmöglich gemacht.“

Dorothea nickte schwach und Celeste gewann den Eindruck, dass das Mädchen nicht einmal enttäuscht war.

Dann wandte der Butler seine Aufmerksamkeit ihr zu. „Sie müssen Miss Summersteen sein.“

Sie nickte und er deutete eine Verbeugung an. „Willkommen in England. Ich war so frei und habe die Karten für die Weiterfahrt bereits besorgt. Der Zug geht in einer Stunde. Gestatten Sie mir vorzuschlagen, dass wir aufbrechen? Andrew wird mit dem Gepäck nachfolgen.“ Der zweite Diener nickte und trottete in Richtung Schiff.

Mr. Peacock zeigte auf die wartende Kutsche. „Ich kann mir vorstellen, dass die Damen von der Reise erschöpft sind. Ich habe mir erlaubt, eine kleine Erfrischung zuzubereiten, die in Ihrem Abteil auf Sie wartet.“ Während er sprach, hatte er ihnen die Tür geöffnet und half ihnen beim Einsteigen.

„Sie sind wirklich eine gute Seele, mein lieber Peacock“, sagte Dorothea höflich. „Wie geht es meiner Mutter?“

„Ausgezeichnet, Miss Dorothea. Mit der Gewissheit, Sie wiederzusehen, ging es ihr von Tag zu Tag besser.“

Kurz darauf setzte sich die Kutsche mit einem Ruck in Bewegung und sie folgten der Hauptstraße, die sie aus dem Hafengebiet von Southampton zur Central Station bringen würde. Von dort aus ging ihr Zug nach London.

Neugierig blickte Celeste nach draußen. Das dreckige Grau der Hafengebäude, wo Ziegel nur noch wackelig im Mauerwerk steckten und Grasbüschel aus den Regenrinnen wucherten, verschmolz mit dem Wolkeneinerlei über der Stadt zu einem wenig einladenden Bild.

Die Schornsteine der nahen Fischereibetriebe stießen öligen Ruß in den Himmel. Der Geruch legte sich auf die Lunge und mischte sich mit dem Gestank fauliger Fischabfälle, die sich vor den Fabriken auftürmten. Für die kreischenden Möwen, die sich um die besten Stücke balgten, war es ein reich gedeckter Tisch. Angewidert zog Celeste die Nase kraus. Ihr erster Eindruck von England war nicht der Beste.

„In London riecht es auch nicht besser.“ Dorotheas Stimme schreckte sie auf.

„Wirklich? Das kann ich kaum glauben.“

„Wenn der Wind ungünstig steht, riecht man die Schlachtereien, in Surrey, wenn sie ihre Abfälle verbrennen, oder die Themse verpestet die Luft. Das Wasser ist so schmutzig. Wenn man es trinkt, wird man krank. Im Winter ist es in London besonders schlimm, dann zieht der Rauch aus den Schornsteinen nicht ab und sammelt sich in den Straßen. Der Nebel ist dann so dicht, dass Sie kaum die Hand vor Augen sehen können.“ Celeste machte ein ungläubiges Gesicht und Dorothea lächelte milde. „Warten Sie es nur ab. Sie werden es ja bald selbst erleben.“


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