Kitabı oku: «Die Seelen der Indianer», sayfa 3

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Lübeck, 2012

Es dauerte fast eine Woche, bis wir einen Termin bei Dr. Joachim Stein, einen renommierten Anwalt für Erbrecht, bekamen.

In dieser Woche bekam ich natürlich kein Auge zu. Immer wieder nahm ich mir das Foto und begutachtete das Haus. Es sah gepflegt aus, hatte gehäkelte Gardinen vor den Fenstern und Blumentöpfe auf der schmalen Veranda. Mit dem Daumen strich ich über das Bild. Schade, dass ich kein Foto von Brian und Mary-Ann hatte oder sogar von Sue-Ann. Wie gerne hätte ich gewusst, ob ich eine gewisse Ähnlichkeit mit ihnen hatte.

Wenige Stunden vor dem Anwaltstermin machte mein Herz einen Satz. Ich war so aufgeregt und doch hatte ich ein mulmiges Gefühl im Magen. Ich versuchte, die Aufregung zu unterdrücken, denn ich wusste, dass Mama das Herz blutete. Sie war schließlich die Frau, die mir zum ersten Mal das Gefühl gab, zu irgendjemand dazuzugehören. Im Herzen war sie meine Mutter.

Mit einer dicken Mappe unterm Arm stieg ich in den bordeauxroten Fiat Stilo.

Obwohl Kevin immerzu nach dem Auto fragte, durfte er ihn nie fahren. Unser Vater wollte das Lenkrad nicht aus der Hand geben, denn sonst würde er das Auto nie mehr wiedersehen. Was ja auch stimmte, denn wenn man erst einmal auf den Geschmack gekommen war, dann war es schwer sich wieder zu trennen. Ich schmunzelte bei dem Gedanken, mit meinem Vater morgens zur Bushaltestelle zu gehen, während Kevin hupend an uns vorbeifuhr.

Wir fuhren am Holstentor, dem wohl bekanntesten Wahrzeichen Lübecks, vorbei.

Das spätgotische Gebäude gehörte zu den Überresten der Stadtbefestigungsanlage. Im späten Mittelalter war man der Ansicht, die Stadt vor Bedrohung schützen zu müssen, und erbaute daher eine Stadtbefestigung mit vier Stadttoren. Zwei von ihnen standen heute noch. Das Burgtor im Norden und das Holstentor im Westen.

Wir fanden zähneknirschend einen Parkplatz, nachdem uns dreimal der Parkplatz vor der Nase weggeschnappt wurde.

»Komm, wir sind spät dran.« Papa blickte auf seine Uhr und zog uns mit sich durch die Altstadt, bis wir in einer Einkaufsstraße standen und nach dem Eingang zwischen den vielen kleinen Geschäften Ausschau hielten.

Ein schäbiges Treppenhaus führte uns ins Dachgeschoss, wo eine modern eingerichtete Anwaltskanzlei uns empfing. Eine Sekretärin öffnete uns die Tür und begrüßte uns mit einem breiten Lächeln. Sie trug eine weiße Bluse und einen schwarzen Rock mit hochhackigen Schuhen, auf denen sie besonders gut laufen konnte. Sie bot uns Kaffee an und bat uns im Wartebereich Platz zu nehmen, bis Dr. Stein uns aufrief.

Ich blätterte in den neusten Illustrierten, als ein kahlköpfiger Mann mit großer Nase und kleiner Brille zu uns kam und meinen Namen rief: »Jordan Vogel.«

»Ja, das bin ich.« Ich meldete mich wie in der Schule und stand auf.

Wir folgten Dr. Stein in ein kleines Büro mit vielen Familienfotos an den Wänden. Er nahm hinter einem großen Mahagonischreibtisch Platz und bat seine Sekretärin durch eine Sprechanlage, einen weiteren Stuhl zu bringen, da nur zwei schwarze Sessel vor dem Schreibtisch standen.

»Also.« Er faltete die Hände. »Erzählen Sie mir, warum Sie mich aufgesucht haben.«

»Ich hatte Ihrer Angestellten schon erzählt, dass wir Post von einer Erbermittlungsagentur aus Gera bekommen haben. Sie müssen wissen, dass wir Jordan mit zehn Jahren aus dem Waisenhaus zu uns geholt haben«, sagte Mama und setzte sich auf den Klappstuhl, den die Sekretärin ins Büro gestellt hatte.

»Danke, Vivien«, sagte Dr. Stein.

Nickend lehnte sie die Tür an, um wenig später mit zwei Kaffeebechern und einem Wasserglas zurückzukommen.

Ich reichte Dr. Stein meine Mappe und beobachtete, wie er die Unterlagen darin studierte.

»Das klingt doch alles ganz positiv, vorausgesetzt, Sie wollen das Erbe annehmen.«

Ich fühlte mich auf dem großen Sessel fehl am Platz und rutschte so weit nach hinten, dass meine Beine in der Luft hingen. »Ach, bevor ich es vergesse…« Ich nahm meine Handtasche und holte das Foto, welches ich sorgfältig in die Seitentasche gesteckt hatte, heraus. »Hier, dieses Foto hat die Agentur mitgeschickt.«

»Mm, nett.« Er räusperte sich. »Wenn Sie möchten, kann ich die Erbangelegenheiten für Sie übernehmen. Ich werde mich mit der Agentur in Verbindung setzen und die Unterlagen anfordern.«

»Das klingt gut.« Mein Vater saß schweigend in dem Sessel neben mir und rieb sich das Kinn.

»Falls Sie das Erbe annehmen, verlangt die Agentur 25% vom Erbe. Das ist aber im normalen Bereich. Und wie ich es hier ablesen kann, haben Sie ganz gut geerbt, Frau Vogel.« Er blickte mich an. Mir war das alles sehr unangenehm. Sollte ich wirklich Hausbesitzerin in Amerika werden?

»Mir ist nur wichtig, dass meine Tochter keine Schulden erbt«, sagte mein Vater und richtete sich gerade auf.

»So wie ich es hier sehe, wird sie definitiv keine Schulden haben. Zwar ist das kleine Häuschen keine Villa, doch haben ihre Großeltern eine hohe Ersparnis, die jetzt auf Jordan übertragen wird.«

Er drückte auf den roten Knopf der Sprechanlage und bat Vivien Kopien von den Formularen zu machen. »Am besten melde ich mich bei Ihnen, wenn ich Bescheid von der Agentur habe. Sicher wollen Sie dann auch nach Amerika und sich das Haus ansehen, oder?« Dr. Stein stand auf und suchte in einem Regal hinter sich ein Buch über Amerika heraus. »Ich bin wirklich beeindruckt, wie ein Kind aus Amerika nach Deutschland kam und hier adoptiert wurde.«

»Wir wissen nicht viel über Jordans Vergangenheit«, sagte Angela. Sie rieb sich über die Nase.

»Ich habe hier noch ein Buch über Amerika, vielleicht möchten Sie einen Blick hineinwerfen.« Er legte es vor mir auf den Schreibtisch. Es war so dick, dass ich Mühe hatte, die ersten Seiten aufzuschlagen. Im Register suchte ich nach Oklahoma und wurde schnell fündig. Das Haus lag in Midwest City, die vor zwei Jahren die achtgrößte Stadt in Oklahoma war.

»Bevor Sie nach Amerika reisen, sollten Sie sich ein bisschen informieren, schließlich sind Sie gebürtige Amerikanerin und sollten etwas über das Land wissen.« Er schob seine Brille auf dem Nasenrücken zurecht. »Wenn Sie möchten, dürfen Sie sich das Buch ausleihen und bringen es mir zum nächsten Termin wieder mit.«

»Wirklich?« Ich freute mich und mir fiel wieder ein, wie meine Mutter mich vor einigen Wochen wegen Erdkunde ermutigt hatte. Jetzt war mein Kampfgeist geweckt und ich wollte mich in dem Fach mehr anstrengen.

»Was Sie natürlich bedenken sollten«, unterbrach Dr. Stein meine Gedanken. »Ein Haus muss man pflegen, man muss viel Geld hineinstecken. Strom, Wasser, Heizung, alles muss bezahlt werden. Das erfordert eine Menge Arbeit. Ich weiß nicht, ob Sie das von Deutschland aus schaffen.« Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Es sei denn, Sie verkaufen das Objekt.«

Mein Herz setzte aus. Ich rutschte auf dem Sessel nach vorne und nahm einen Schluck Wasser. Verkaufen wollte ich auf keinen Fall. Es war das Letzte und Einzige, was ich von meiner leiblichen Familie hatte.

»Ja.« Mama seufzte.

»Falls Sie meinen letzten Vorschlag in Erwägung ziehen sollten, könnte ich Ihnen dabei helfen. Ich habe Kontakte in die Staaten.« Dr. Stein bedachte mich mit einem Blick, den ich nicht deuten konnte.

»Ja, danke. Das ist sehr lieb von Ihnen.« Ich hielt das Buch fest umschlungen und blickte zur Tür, als Vivien meine Akte nahm, zum Kopierer im Flur ging und ein Blatt nach dem anderen vervielfältigte.

Dabei summte sie eine Melodie vor sich hin, die wahrscheinlich nur ich hören konnte, denn niemand anderes sagte etwas.

Der restliche Nachmittag war entspannt. Ich saß in meinem Zimmer und blätterte in dem ausgeliehenen Buch. Es machte mir plötzlich richtigen Spaß, die einzelnen Städte in Oklahoma zu suchen. Währenddessen fuhr ich meinen Laptop hoch und gab ins Suchfeld Midwest City ein. Der größte Arbeitgeber war United States Air Force. Wirklich interessant.

Vielleicht hatte mein Großvater dort gearbeitet? Vielleicht gehörte er zu einer der Fliegertruppen, doch konnte er im Zweiten Weltkrieg nicht beteiligt gewesen sein, da war er ja erst sieben Jahre alt.

Jetzt ging meine Fantasie aber mit mir durch. Ich schüttelte den Kopf und überhörte, dass meine Mutter mich zum Essen rief. Erst als es an der Tür klopfte und Lukas seinen Kopf ins Zimmer steckte, stand ich auf und folgte ihm in die Küche.

»Heute gibt es Lasagne«, sagte Mama erfreut und stellte die Auflaufform auf den Tisch.

Es war Freitag und Lena war zu Besuch. Diesmal saßen wir in der Küche, obwohl es hier noch enger war als in der Wohnstube.

»Also, erst einmal muss ich sagen, ich bin froh, dass es doch sehr gut klappt mit unserer Besuchsregelung«, sagte unser Vater, nachdem Mama seinen Teller aufgefüllt hatte. »Und dann seid ihr sicher neugierig, wie es heute beim Anwalt war.«

»Ich sterbe vor Neugierde«, sagte Lena und füllte sich ebenfalls auf.

Kevin schmunzelte und küsste Lena auf die Wange.

»Möchtest du erzählen, Jordan?« Mein Vater blickte mich an.

»Gerne.« Ich zog den Stuhl an den Tisch heran. Danach hielt ich meiner Mutter den Teller zum Auffüllen hin. »Der Anwalt meinte, ich hätte nicht nur das Haus geerbt, sondern auch viel Geld. Ich sollte mir aber überlegen, ob ich das Haus nicht lieber verkaufen möchte, da es ja in Amerika steht.« Ich steckte eine Gabel mit Lasagne in den Mund. »Recht hat er ja, doch weiß ich nicht, ob ich das kann. Es ist wahrscheinlich das Einzige, was mir von meiner leiblichen Familie geblieben ist. Vielleicht könnte man es vermieten«, schlug ich vor.

»Das ist unmöglich. Du musst vor Ort sein, um bei Gelegenheit Dinge zu reparieren oder Sachen zu klären.« Unser Vater trank einen Schluck Wasser.

»Aber ich möchte dort so gerne mal hin.« Ich machte einen Schmollmund. »Was wäre, wenn wir in den Sommerferien alle nach Amerika fliegen? Wir könnten uns das Haus ansehen und vielleicht einige Sachen mit nach Deutschland nehmen. Vielleicht gibt es irgendetwas Wertvolles. Etwas, das besser als ein Haus ist.«

»Wir alle?« Lena fiel die Kinnlade herunter.

»Ja, der Anwalt meinte, ich hätte genug Geld, also warum nicht?«

»Wann hast du denn Urlaub, Kevin?«, wollte unsere Mutter wissen.

»Mittig der Ferien habe ich drei Wochen.« Kevin blickte zu Lena, die ihm zunickte.

»Er hat die dritte, vierte und fünfte Woche Urlaub.«

»Du hast die letzten drei Ferienwochen Urlaub, oder?« Unsere Eltern tauschten einen Blick

»Ja. Wir wollten doch Last-Minute buchen.«

»Na ja, sozusagen wäre das Last-Minute, Papa.« Ich schmunzelte. Es war Ende des Schuljahres. Die letzten Tests waren geschrieben und die Zeugniskonferenzen standen unmittelbar bevor.

5

Oklahoma, 2012

Der Flug war die Hölle. Ich war zuvor noch nie bewusst geflogen und hatte panische Angst, in ein Flugzeug zu steigen.

Meine Eltern waren schon etwas erschrocken über meinen Vorschlag, nach Amerika zu fliegen. Zum Glück hatte meine Mutter Reisetabletten dabei. Schon allein in das Flugzeug zu steigen, die engen Sitzbänke vor mir zu sehen und mich bis zum kleinen Fenster vorzuarbeiten, trieb mir die Schweißperlen auf die Stirn. Ich durfte am Fenster sitzen, was mir aber auch nicht viel half. Als das Flugzeug abhob, drückte ich mich in den Sitz, krallte mich an den Armlehnen fest und hoffte, dass ich nicht bis zum Mond fliegen würde. Neben mir saßen Lukas und mein Vater, während eine Reihe vor uns Kevin, Lena und meine Mutter Platz nahmen.

Über den Wolken ließ ich die letzten Wochen noch einmal Revue passieren. Es war alles so surreal. Ich saß mit meiner Familie in einem Flugzeug und folgte den Spuren meiner leiblichen Familie in den Westen. Eigentlich total aufregend, wäre dort nicht die Unsicherheit vor dem, was kommen mochte.

Als unser Entschluss, in die Staaten zu fliegen, feststand, rief ich meinen Anwalt an und erzählte ihm von meinem Vorhaben, was ihn nicht verwunderte, denn er hatte sich schon gedacht, dass die Neugierde siegen würde. Dr. Stein hatte mir sogar einen Flug herausgesucht, den mein Vater am selben Tag noch buchte. In der Zeit waren wir noch zweimal in der Kanzlei, um die wichtigen Formalitäten wegen des Erbes zu besprechen. Da ich noch nicht volljährig war, mussten meine Eltern natürlich alles als meine Erziehungsberechtigten unterschreiben.

Langsam wirkten die Tabletten, die ich während des Fluges eingenommen hatte, und ich döste ein, bis ich in einen tiefen Schlaf fiel.

Doch nach fast zwei Stunden stiegen wir aus und mussten uns in Paris auf dem Charles De Gaulle Flughafen für fast drei Stunden aufhalten, bis es mit dem nächsten Flugzeug Richtung Detroit ging. Ich war müde, die Tabletten hatten mich ausgeknockt, so dass ich während der Wartezeit auf einem der harten Plastikstühle, mit meinem Kopf auf Lukas’ Schulter, einschlief.

Zurück im Flugzeug spürte ich, wie sich meine Muskeln entspannten. Ruhig blickte ich aus dem Fenster und war fasziniert von den Wolken, die sich wie Watte ans Flugzeug schmiegten.

Von Detroit bis nach Oklahoma nahm der Flug kein Ende. Ich nahm meinen MP3 –Player, doch fand ich kein passendes Lied, ich startete einen Film, doch waren die alle nur auf Englisch. Zwar beherrschte ich die Sprache, jedoch nicht so gut, dass ich mir einen ganzen Film ansehen konnte.

Irgendwann läutete die Sprechanlage, welche eine Ansage des Piloten ankündigte.

»Meine Damen und Herren«, sagte eine raue, aber doch charmante Stimme, »wir werden in Kürze landen. Ich bitte Sie daher Ihre Plätze aufzusuchen und den Anweisungen der Stewardessen zu folgen. Ich danke Ihnen, dass sie mit uns geflogen sind. Schönen Aufenthalt in Oklahoma City.«

Das Signal zum Anschnallen blinkte auf und das Rauschen und Klicken der Gurte übertönte das laute Triebwerk. Ich drückte mich beim Landeanflug in den Sitz und schloss die Augen.

Endlich. Der große Albatros fuhr seine Rollen aus und schlug mit einem großen Grollen auf dem Boden auf. Als das Flugzeug zum Stillstand kam, begann erneut das Läuten der Sprechanlage.

»Meine sehr geehrten Damen und Herren. Leider haben die Arbeiter ihre Mittagspause verlängert, so dass wir uns noch einige Minuten gedulden müssen. Für diejenigen, die in Eile sind, haben wir im Lagerraum noch einige Fallschirme liegen.« Die Reisenden lachten laut auf.

Am liebsten hätte ich mich abgeschnallt und meine Beine ausgestreckt, doch das Zeichen zum Anschnallen leuchtete immer noch. Ich atmete einmal tief durch und blickte aus dem Fenster.

Das Flughafengebäude war riesig und die Fensterfront glänzte in der vollen Sonne, die wie ein bulliger Schneeball am Himmel hing. Als ich mich etwas nach vorne beugte, sah ich ödes Land, wo ab und an ein Baum stand.

Am Flughafen in Hamburg hatte ich mir noch einen Reiseplaner gekauft, den ich nun aufschlug. Ich fand aber keine Fotos um den Flughafen. »Will Rogers World Airport«, flüsterte ich. Wer war Will Rogers? Gab es den Mann wirklich? Ich schlug nach. Will Rogers war ein legendärer Cowboy und Komiker, der bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen war.

»Jordan. Jordan.« Meine Mutter holte mich aus meinen Gedanken, zurück ins Flugzeug.

»Ja. Wie bitte?« Ich setzte mich gerade auf, als hätte man mir einen Stock in den Po gesteckt.

»Es geht los.« Sie griff nach meiner Hand, denn mittlerweile hatten wir die Plätze getauscht. Nun saßen Angela und Lena neben mir und die Männer in der Reihe vor uns. So schnell konnte ich mich gar nicht abschnallen, so dass ich am Gurt hängen blieb und polternd auf den Boden aufschlug.

»Aua.« Dabei stieß ich ein kleines Mädchen zur Seite, die wie ein Schlosshund angefangen hatte zu weinen.

Ich schmeckte Blut auf meiner Lippe. Beim Sturz hatte ich mir die Lippe aufgeschlagen.

»Hast du dir wehgetan?« Mein Vater half mir auf.

»Nein, ich habe nur nicht aufgepasst.« Ich tastete meine Lippe ab. »Alles in Ordnung.«

»Okay, komm wir müssen uns beeilen. Das Reinigungspersonal steht schon am Eingang.« Ich nahm mein Handgepäck und folgte meiner Familie, die mit dem Strom von Passagieren zum Flughafen ging.

Im Gebäude selbst, warteten wir vor einem der vielen Förderbänder, bis unsere Koffer kamen. Menschen drängelten sich wie beim Sommerschlussverkauf vorbei, um ja die Ersten zu sein. Als würde ihr Gepäck plötzlich verschwinden. Obwohl dies ja schon des Öfteren vorgekommen war. Bei so einem langen Flug und den Zwischenstopps musste auch das Gepäck von einem Flugzeug ins nächste transportiert werden. So kam es schon mal vor, dass Gepäckstücke abhandenkamen. Dann konnte man sich nur an einen Strohhalm klammern, um es überhaupt wiederzubekommen, andernfalls fand man seine Sachen bei Ebay wieder.

»Jordan. Jordan.« Leise Laute drangen an mein Ohr und ließen mich erschauern.

»Was?« Ich blickte auf. In den letzten Stunden hatte ich viele Tagträume. Vielleicht waren dies die Nachwirkungen von den Schlaftabletten oder einfach nur der Jetlag.

»Sag mal, wo bist du bloß mit deinen Gedanken?« Meine Mutter strich mir eine Strähne hinters Ohr.

Ich nahm meinen Koffer vom Band, der jetzt schon seine dritte Runde drehte.

Als wir in die Eingangshalle traten, blickte uns eine Traube von Menschen entgegen. Einige winkten hysterisch, andere hielten Schilder mit Namen hoch. Sie alle warteten auf die Reisenden, die entweder zu Besuch, auf Geschäftsreise oder einfach nur nach Hause kamen.

Da keine Großraumtaxen vor dem Flughafen standen, teilten wir uns auf.

Ich setzte mich zu Lena auf die Rückbank, meine Mutter auf den Beifahrersitz.

Verstohlen blickte sie in den Rückspiegel und beobachtete, wie die beiden Fahrer mit meinem Vater plauderten. Vermutlich erzählte er ihnen, in welches Hotel wir einchecken wollten.

Wir hatten uns für ein Hotel in der mittleren Preisklasse entschieden, welches im Internet sehr gute Bewertungen bekommen hatte.

Während der Fahrt blickte ich hinaus. Unzählige Autos brausten an uns vorbei. Hupend überholte das zweite Taxi, in welchem unser Vater, Kevin und Lukas saßen. Beide Taxen waren quietschgelb, wie im Fernsehen, nur hübscher. Warum musste ich alles mit amerikanischen Serien oder Filmen vergleichen?

Die Fahrt dauerte ungefähr zwanzig Minuten, bis die Autos vor einem großen Gebäudekomplex hielten, welches abwechselnd in Eigelb und Bordeauxrot gestrichen worden waren.

Unser Vater bezahlte und half dem Fahrer die schweren Koffer aus dem Auto zu hieven.

Ich rüttelte Lena an der Schulter. Die Reise war so ermüdend, dass sie eingeschlafen war. Der Jetlag hing uns allen noch in den Knochen, doch hatte ich mir vorgenommen, wach zu bleiben, denn sonst würde ich die Nacht über nicht schlafen können.

Nachdem wir von einer Blondine mit großen Brüsten und breiten Hüften unsere Schlüssel bekamen, folgten wir einem Flur, der uns bis zu den Fahrstühlen brachte. Dort konnte ich meinen Koffer abstellen und einmal durchatmen. Lena gähnte, meine Mutter drückte auf den Knopf, für den dritten Stock. Die Fahrstuhltüren sprangen auf und wir betraten einen weiteren Flur. Es war dunkel, die Beleuchtungen an den Wänden waren aus, doch die Zimmer waren farbenfroh und sauber, die Matratze weich und im Bad gab es sogar eine Badewanne.

Zuhause badete ich kaum, deshalb überlegte ich, ob ich lieber ein Bad nehmen sollte, anstatt mich auf dem Bett auszuruhen. Da würde ich sowieso nur einschlafen und wie Lena in einem Traumgeflecht herumirren.

Deshalb ließ ich genug Wasser in die Wanne und glitt hinein, ohne die Oberfläche zu kräuseln, und schloss genussvoll die Augen, als die Wärme mich wie in einem Kokon einnahm. Ich muss gestehen, dass ich eingedöst war und erst erwachte, als es an der Tür klopfte.

»Moment.« Ich kletterte aus der Wanne, warf mir einen Bademantel über und lief in den Flur, um die Tür zu öffnen.

Lena!

»Hey, was machst du denn hier? Wo ist Kevin?« Ich blickte an ihr vorbei.

»Der schläft. Kann ich reinkommen?« Sie schob sich an mir vorbei in den Wohnbereich und steuerte den großen Lehnstuhl an.

»Setz dich doch.« Ich schloss die Tür und ging zu meinem Koffer.

»Du hast gebadet. Das ist cool. Zuhause haben wir keine Badewanne.«

Ich suchte mir Unterwäsche und einen Jogginganzug. »Hat euer Bad keine Wanne?« Ich ging mit den Sachen zurück ins Bad, schlüpfte in meine Kleidung und kämmte mir in Windeseile die Haare, um sie danach lufttrocknen zu lassen.

»Ich hab mir gedacht, wir könnten zusammen in die Stadt fahren und ein paar Sehenswürdigkeiten ansehen. Kevin schläft, von Lukas weiß ich nichts und deine Eltern haben sich auch zurückgezogen. Morgen wollen wir ja erst nach Midwest City. Also haben wir noch den Nachmittag vor uns. Ich versuche jetzt wach zu bleiben, um in der Nacht schlafen zu können.« Sie grinste.

Oh, mein Gott. Hält Lena auch mal die Luft an? Seit unserem Treffen in meinem Zimmer taute sie regelecht auf und plapperte ohne Punkt und Komma.

Zurück im Wohnbereich setzte ich mich aufs Bett.

»Hier, ich habe einen Flyer auf unserem Zimmer gefunden. Wir könnten uns das Wildwest - Museum ansehen.«

»Ich weiß nicht. Ich glaube, ich werde lieber hierbleiben.« Ich nahm den Flyer. »Außerdem weiß ich nicht, wie wir dort hinkommen. Und, sieh her.« Ich deutete auf die Route. »Du kannst sehen, dass es nicht weit von Midwest City liegt. So würde ich eher vorschlagen, dort morgen oder den Tag darauf hinzufahren.«

»Okay.« Lena zog einen Schmollmund. »Dann gehe ich jetzt wieder zurück zu Kevin. Wir sehen uns morgen früh.«

»Lena, warte doch. Sei nicht beleidigt.«

»Nein, bin ich auch nicht.« Damit verschwand sie aus meinem Zimmer und ließ mich mit einem schlechten Gewissen zurück.

Ich zog die Vorhänge zu und beschloss mir über den morgigen Tag Gedanken zu machen. Dr. Stein hatte uns telefonisch mit Mr. Ralph Norris bekannt gemacht, ebenfalls ein Anwalt. Er war bis zum Ende der Familienanwalt meiner Großeltern. Ihm war es zu verdanken, dass ich gefunden worden war und mein rechtmäßiges Erbe antreten durfte. Über die Jahre war Ralph Norris eine Art Ersatzkind von Mary-Ann und Brian geworden. Deswegen war es ihm persönlich auch sehr wichtig, die einzige Verwandte, also mich, zu finden. Morgen früh würden wir uns mit ihm hier im Hotel treffen und alles Weitere besprechen, doch bis dahin wollte ich mich ausruhen.

Mr. Norris saß schon an unserem Tisch, als meine Eltern mit mir am nächsten Morgen ins Restaurant kamen. Die Sonne schien durch die großen Fenster und erhellte den Raum, durch die Boxen an den Wänden erklang eine beruhigende Melodie. Als er uns erkannte, stand er auf und kam auf uns zu. Dabei nahm er seinen Hut ab, der ihn wie Sherlock Holmes hatte aussehen lassen. Durch sein lichtes Haar schien seine weißliche Kopfhaut. »Hallo, ich bin Ralph«, sagte er und reichte zuerst mir, dann meiner Mutter und meinem Vater die Hand. »Ist es nicht ein wunderschöner Tag? Ich liebe diese Jahreszeit, wenn einem die Sonne den Tag versüßt.« Er schloss kurz seine Augen. »Setzt euch, setzt euch.« Er schob mir einen Stuhl zurecht. »Es ist so aufregend, dir endlich ins Gesicht sehen zu können. Du siehst deiner Mutter so ähnlich.« Ralph setzte sich mir gegenüber.

»Wirklich?«

»Hier, such dir etwas aus.« Papa reichte mir die Frühstückskarte, obwohl er wusste, dass ich Buffet wollte. »Ja, danke, aber ich nehme vom Buffet.« Ich gab ihm die Karte zurück.

»Frühstück ist die wichtigste Mahlzeit des Tages«, sagte Ralph und deutete zum Buffet. »Das Essen ist hier vorzüglich, besonders für Gäste des Hauses, denn sie bekommen natürlich einen Sonderpreis.« Er blinzelte.

»Ralph, hast du ein Foto von meiner Mutter?«

Die Kellnerin kam und nahm die Bestellung unserer Getränke auf.

»Nicht hier, aber im Haus gibt es mehr als genug Fotos. Gerne bin ich bereit, dir alle Fragen zu beantworten. Deine Großeltern waren meine Ersatzfamilie.«

»Begleitest du uns denn?«, fragte meine Mutter und bedankte sich, als die Kellnerin eine Thermoskanne Kaffee auf den Tisch stellte.

»Ja, selbstverständlich. Dr. Stein hat mir erzählt, dass ihr noch zwei Söhne habt.«

»Das ist richtig.« Mein Vater schenkte sich ein. »Sie sind auch hier im Hotel. Mein Sohn Kevin hat sogar seine Freundin mitgebracht. Doch wollten wir das erste Gespräch klein halten.«

»Eine Großfamilie ist immer etwas Schönes.«

»Dr. Stein hat dir viel von uns erzählt.« Mama trank einen Schluck Kaffee und strich sich über die Nasenspitze.

»Eigentlich nicht viel. Wir haben uns mehr über das Wichtige unterhalten. Ich hatte ihm alle Formulare zugemailt und er mir mit der Unterschrift versehen zurück. Das ging ja alles recht fix, obwohl ich die Erbermittlungsagentur einschalten musste. Es war schwer, dich zu finden, aber ich bin sehr froh.«

»Ja, ich auch.« Der Geruch von Bacon stach mir in die Nase und ich entschuldigte mich, um das Buffet unsicher zu machen. Ich nahm von jedem Teller eine Kleinigkeit, zum Schluss sogar eine kleine Schüssel mit Frühstücksflocken. Würstchen, Spiegeleier mit Bacon und Pancakes mit Ahornsirup. Bei so vielen leckeren Sachen konnte ich nicht widerstehen.

»So, ich bin wieder da.« Ich schob mir den Stuhl zurecht, und schnitt den Pancake klein, um ihn danach tief in den Ahornsirup zu tauchen. »Mm, lecker.«

»Ja, das amerikanische Frühstück.« Ralph nippte an seinem Kaffee und ich hatte das Gefühl, dass er die Augen nicht von mir nahm.

Eine halbe Stunde später trafen wir Kevin, Lukas und Lena in der großen Lobby.

Ralph begrüßte sie höflich. Mittlerweile hatte er seinen Hut wieder aufgesetzt und einen Mantel angezogen, der zwar dünn, doch viel zu warm für dieses Wetter war. Ich trug ein gestreiftes T-Shirt und eine Dreiviertelhose mit Ballerinas.

»Ich habe einen großen Van, in dem wir alle Platz finden. Ich fahre euch zum Autoverleih und von dort folgt ihr mir einfach.« Unser Vater setzte sich auf den Beifahrersitz, während die Jungs hinter ihnen Platz nahmen und wir Mädchen uns im hinteren Teil des Autos auf die Schlingelbank setzten.

Ralph fuhr sehr langsam, ob es beabsichtigt war oder ob er immer die Straßen entlangkroch, war mir ein Rätsel. Ich öffnete das Fenster und hatte sofort einen leicht sandigen Geschmack im Mund, also schloss ich es wieder.

Wieso macht er die Klimaanlage nicht an?

Als mir der Schweiß wie Suppe von der Stirn tropfte, schloss ich die Augen und hoffte, dass wir bald da wären. Wer weiß, wärmer konnte es ja wohl nicht werden.

Als wir in den Leihwagen stiegen, schaltete Papa sofort die Klimaanlage an und Mama suchte verzweifelt die Frischhaltetücher in ihrer Tasche. »Oh Mann, ist das heute warm.« Sie reichte Lena und mir ein Tuch. »Hier, damit könnt ihr euch etwas frischmachen.«

»Ich weiß gar nicht, wie Ralph das in seinem Mantel aushält«, sagte ich.

»Das möchte ich auch wissen. Vielleicht hat er ja keine Wärmeempfindung oder keine Schweißdrüsen.« Lena fächerte sich mit ihrem Flyer Luft zu.

»Mm, vielleicht.«

Mein Vater fuhr in eine Straße mit einem Wendehammer und hielt auf einer Auffahrt mit einem weißen Garagentor und einer amerikanischen Flagge im Vorgarten gleich hinter dem Van.

Es war das Haus auf dem Foto, ein Bungalow!

Ralph stieg aus und kam auf uns zu. »Bevor wir reingehen…« Er holte ein Schlüsselbund aus seiner Manteltasche. »möchte ich dir den Schlüsselbund geben. Dieser da, ist der Haustürschlüssel.« Er deutete auf einen Schlüssel mit roter Silikonhülle. »Dort sind alle Schlüssel, die zu diesem Haus gehören. Es wurde nichts ausgeräumt oder verändert. Ich hatte gedacht, dass du dir alles so ansehen möchtest, wie sie es hinterlassen haben.«

Ich nickte stumm. Mein Herz hämmerte und meine Füße fühlten sich an wie Blei. Wenn ich durch diese Tür gehen würde, dann öffnete ich das Tor zu meiner Vergangenheit. Ich könnte Dinge erfahren, die mir den Boden unter den Füßen wegziehen könnten, doch war es für einen Rückzieher zu spät. Die Formulare waren unterschrieben und das Haus gehörte mir. Da ich aber noch nicht volljährig war, sollten meine Eltern bis dahin mein Erbe verwalten. Erst fand ich das ungerecht, doch nachher war ich froh, dass mein Vater den ganzen Papierkram übernahm und ich nur ab und zu unterschreiben musste.

Ich öffnete die Tür und wir fanden uns in einem geräumigen Wohnzimmer mit angrenzender großer Wohnküche wieder. Es war altmodisch eingerichtet, alte, vielleicht schon antike Schränke standen an den Wänden und eine große dunkelbraune Vitrine, passend zu dem Rest der Möbel, stand in der Küche.

»Einmal in der Woche kommt Señora Diaz und macht hier ein bisschen sauber. Staub wischen, lüften.«

»Das klingt gut.« Ich beobachtete, wie Ralph seinen Mantel abnahm und auf die Garderobe hängte. Er trug ein schwarzes T-Shirt mit dem Logo der Band Kiss. Seine Arme waren mit einem weißen Verband verbunden. »Was ist denn mit dir?«, fragte Lena.

»Ich habe eine Sonnenallergie. Der Verband kühlt meine Arme. Ich liebe die Jahreszeit, doch für meinen Körper ist sie tödlich. Darüber bin ich auch sehr traurig. Der Mantel verdeckt meine Haut, der Kragen meinen Hals und der Hut mit der Krempe mein Gesicht.«

»Oh, das tut mir sehr leid.« Sie ging zu Kevin, der nach ihrer Hand griff.

»Ach, das ist schon in Ordnung. Ich habe es ja nicht erst seit gestern.« Er winkte ab. »Also, wie gefällt es dir?«

»Also, mir gefällt die Kochinsel«, gestand Mama und fuhr mit dem Finger über die Arbeitspatte.

»Mir gefällt es auch.« Genau genommen war ich überwältigt von der Gemütlichkeit des Hauses. Ich fühlte mich sofort heimisch und wollte so viel wie möglich über meine leibliche Familie erfahren.

»Hier auf dem Kaminsims stehen Familienfotos, auch welche von deiner Mutter.« Ralph deutete zum Kamin.

Meine Beine kribbelten, als wären sie eingeschlafen, und ich hatte Mühe, einen Fuß vor den anderen zu setzen.

»Hier ist sie.« Ralph gab mir einen Bilderrahm mit einem kleinen, leicht verzerrten Foto. Eine Frau mit dunklen Haaren, Augenringen und erschöpftem Lächeln. Auf dem Arm hielt sie ein kleines Bündel, in dem ein Baby lag und die Augen geschlossen hatte.

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