Kitabı oku: «Die Seelen der Indianer», sayfa 4

Yazı tipi:

»Weißt du, wer das ist?«

»Mm, nein.«

Hinter mir erschien Lukas. Ich spürte seinen Atem in meinem Nacken. »Das bist bestimmt du, Jordan.« Er kaute Kaugummi und machte gerade eine Blase, um sie danach platzen zu lassen.

»Vielen Dank auch.« Damit hatte er diesen magischen Moment gerade zerstört.

»Das stimmt. Deine Mutter durfte dich nach der Geburt kurz auf den Arm nehmen, bevor dich deine Adoptiveltern bekamen.«

»Wer hat das Foto gemacht?«

»Das war ich.« Ralph räusperte sich.

»Und warum hat sie mich abgegeben? Warum haben mich meine Großeltern nicht aufgenommen?«

»Sue-Ann wollte nicht, dass ihre Eltern von der Schwangerschaft erfuhren. Sie kam eines Nachts zu mir, denn sie wusste, dass ich sie nicht zurückbringen würde.«

»Wohin zurück?« Ich zog die Stirn kraus.

»Puh.« Ralph kratzte sich am Nacken. »Es ist so, Sue-Ann war drogenabhängig. Mary-Ann und Brian hatten immer wieder versucht sie in eine Klinik zu stecken. Sie brauchte Hilfe, doch entließ sie sich immer wieder selbst. Sue-Ann brach den Kontakt ab.«

»Oh, das ist sehr traurig.« Ich schluckte. So eine Geschichte hatte ich natürlich nicht erwartet. »Und was geschah dann?«

»Hey, Jordan, wir sehen uns ein bisschen um«, hörte ich Stimmen hinter mir, die ich nur mit einem Nicken beantwortete.

»Wollen wir uns kurz setzen?« Ralph deutete auf die Couch, die so weich war, dass sie mich fast verschluckte. Angela gesellte sich dazu.

»Eines Nachts stand Sue-Ann im vierten Monat schwanger vor meiner Tür.« Ralph kratzte sich an der Nase. Er wirkte nervös, vielleicht musste er sich deshalb überall kratzen? »Na ja, sie brauchte meine Hilfe, also bat ich sie herein und stellte ihr mein Bett zur Verfügung.«

Ich zog die Augenbrauen hoch.

»Ich schlief natürlich auf der Couch«, sagte er abwehrend und hob die Hände.

»Und meine Großeltern schöpften keinen Verdacht?«

»Nein, überhaupt nicht. Es war fast schon unheimlich, denn ich bin kein guter Lügner«, sagte er. »Ich hatte gehofft, dass sie mich durchschauen würden und mich auf mein komisches Verhalten ansprechen würden.« Ralph setzte sich auf die andere Couch uns gegenüber und faltete die Hände ineinander. »Doch sie taten es nicht.«

»Und warum hat sie mich denn weggegeben?« Ich strich mit meinem Finger über das Bild. Das Glas war glatt und kühl.

»Du musst verstehen, dass Sue-Ann nichts hatte. Sie hatte kein Geld, keinen Wohnsitz. Sie schlief mal hier und mal dort. Wo es günstig den nächsten Schuss gab.« Ralph hielt inne und beobachtete mich. Ein Strudel von wirren Gefühlen wirbelte an mir vorbei. Ich stieß einen Seufzer aus, blinzelte, um mir die Tränen zu verkneifen, und versuchte gleichzeitig stark zu wirken. Doch meine Schale knackste, bröckelte und fiel langsam zu Boden. Eine Träne löste sich und rann mir die Wange hinab. Es konnte doch nicht stimmen? Warum nur habe ich mich dafür ausgesprochen, das Erbe anzunehmen? Ich wollte das alles nicht mehr, nichts mehr hören, nichts mehr sehen. Am liebsten wäre ich hinausgelaufen und mit dem nächsten Flieger zurück nach Hause. Doch natürlich wusste ich, dass dieser Wunsch im Moment nicht mal annähernd möglich war.

Als ich die Haustür aufgeschlossen hatte, öffnete ich das Tor zu meiner Vergangenheit und somit die verbundenen Verluste meiner leiblichen Familie. Das hätte ich alles vorher bedenken müssen und nun war es zu spät. Ich wischte mir die Träne weg. Meine Mutter legte mir eine Hand auf die Schulter und streichelte sie, sagte aber nichts. Vielleicht wusste sie nichts zu sagen, denn ich weinte hier schließlich um eine Frau, die ich gar nicht kannte, die mich aber geboren hatte.

»Ich weiß, dass es schrecklich für dich sein muss, erst jetzt, da alle verstorben sind, etwas über deine leibliche Familie zu erfahren. Deine Mutter wollte nur das Beste für dich, deshalb hat sie dich weggegeben. Zuerst musstest du einen Entzug machen, bevor sie dich zu einer Familie vermitteln konnten.«

Ich war drogenabhängig? Ich schluckte und dachte darüber nach. Natürlich, wenn meine Mutter abhängig war, war ich es bis zum Tag meiner Geburt auch. »Wie, wie war sie denn so?«

»Bevor sie drogenabhängig wurde, war sie ein ganz normaler Mensch. Sie war beliebt, herzlich und liebte Bücher und Geschichten. Ein falscher Freundeskreis und sie kam aus dem Sumpf nicht mehr heraus.«

»Sie mochte Bücher?«

»Ja, unheimlich gerne. Deine Großmutter hatte das Zimmer von Sue-Ann so gelassen, wie sie es verlassen hatte. Jetzt gehört es dir, so dass du dir gerne gleich alles selbst ansehen darfst.«

»Mm, wie lange kennst du meine Familie denn schon?« Ich reichte das Bild an meine Mama weiter.

»Schon sehr lange.«

»Mochtest du Sue-Ann?«

»Ja, doch. Ich versuchte nach deiner Geburt noch Kontakt zu ihr zu halten, doch sie verschwand wieder. Zuletzt kam nur noch der Anruf von Brian, dass man Sue-Ann tot aufgefunden hatte.«

»Also haben die Drogen sie getötet?«

»Ja.« Ralph blickte mich nicht an. »Eine Überdosis.«

»Oh Gott.« Mir blieb der Kloß im Hals stecken, obwohl ich mir schon gedacht hatte, dass sie an einer möglichen Überdosis gestorben war. Meine Mutter legte das Bild auf den Tisch und nahm mich in den Arm.

»Meine Kleine, es tut mir alles so leid.« Dann küsste sie mich auf die Wange.

»Ja, mir auch.« Vielleicht war die jetzige Situation besser für mich. Ich kannte niemanden von meiner leiblichen Familie. So konnte ich keine persönliche Bindung aufbauen und auch nicht so einen tiefen Schmerz empfinden wie Ralph, der sie all die Jahre gekannt hatte.

»Wie geht es dir denn? Wie kommst du mit der Situation zurecht?« Ich schniefte.

»Mir geht’ s gut. Ich war am Boden zerstört, denn sie waren wie eine Familie für mich. Schon damals, als Sue-Ann und später Mary-Ann von uns gingen, brach etwas in mir. Ich.« Ralph schluckte. »ich bereue es immer noch, dass ich ihnen nach Sue-Anns Tod nicht von dir erzählt habe. Deine Mutter hat dir sogar noch deinen Namen gegeben, das war eine ihrer Bedingungen.«

»Und wie erfuhren sie dann von mir?«

»Das Foto lag bei Sue-Anns persönlichen Sachen, die sie von der Polizei bekamen.«

Wenn ich dachte, es könnte nicht schlimmer werden, zerbrach eine weitere Nachricht meinen Wunschtraum. »Hast du ihnen dann von dem Wissen, was du die ganze Zeit mit dir herumgetragen hast, erzählt?«

»Ja. Ich habe ihnen erzählt, dass ich wusste, dass Sue-Ann schwanger war, und ein kleines Mädchen namens Jordan zu Welt gebracht hatte. Ich erzählte ihnen ebenfalls, dass ich Sue-Ann versprochen hatte ihnen nichts zu erzählen. Natürlich waren deine Großeltern furchtbar wütend. Zu Recht.«

»Haben sie dir vergeben?« Ralph tat mir sehr leid, schließlich hatte er niemanden mehr. Ich hingegen noch meine Adoptivfamilie, die ja mehr oder weniger meine richtige Familie war. Während ich auf eine Antwort von Ralph wartete, stand ich auf und ging zurück zum Kaminsims. Dort fand ich ein Foto von vier Personen im Vorgarten des Bungalows. Zwei Frauen und zwei Männer. Die jüngeren beiden waren mir bekannt und die Älteren mussten Mary-Ann und Brian sein.

»Bist du das?« Ich drehte mich um und zeigte das Bild Ralph. »Ja, das hier bin ich, das sind Sue-Ann und deine Großeltern. Und ja, sie haben mir, nach einer eingehenden Beratung, vergeben.«

»Wann entstand das Foto? Sie sehen so glücklich aus.«

»Ja, das waren wir auch zu dem Zeitpunkt. Wir hatten Sue-Ann gerade von der Klinik abgeholt. Sie hatte ihren ersten Entzug hinter sich. Zu dem Zeitpunkt hatte sie sich so viel vorgenommen, so viel Gutes, verstehst du?«

»Ja, es tut mir so leid. Ich hätte sie so gerne gekannt.« Ich gab Mama das Foto.

»Ihr seid ja immer noch hier.« Mein Vater tauchte hinter der Couch auf. »Es gibt zwei Schlafzimmer, ein Bad und ein Nähzimmer. Und die Terrasse wird dir gefallen, Angela.«

»Ja, Mary-Ann hat Blumen geliebt. Brian meinte, dass sie erst im Frühjahr richtig aufblühte. Deshalb hat er immer darauf geachtet, dass die Blumen perfekt waren.« Ralph stand auf und zog sich sein T-Shirt glatt.

»Wir kommen gleich«, sagte meine Mama und legte ihre Hand kurz auf die ihres Mannes.

»Wollen wir denn auch einmal in die Schlafräume gehen? Nachher kannst du mir gerne weitere Fragen stellen.« Ralph legte sich seinen Mantel über den Arm und führte uns an der Küche vorbei in einen schmalen Flur, von wo aus vier Türen den Weg in weitere Zimmer freigaben.

»Möchtest du zuerst in Sue-Anns Zimmer?«, fragte er mich und ich folgte ihm zu einer der hinteren Türen. »Bitte, nach dir.«

Dankend nickte ich und ging voraus. Es war klein und spartanisch eingerichtet. Ein Bett, ein Schrank und eine Couch mit einem kleinen Tisch. An den Wänden hingen Regale, die wirkten, als würden sie die Wand halten und nicht andersherum. Bücher über Bücher, chronologisch geordnet.

»Wow.« Ich staunte nicht schlecht, Ralph hatte recht gehabt. »Das sind aber viele Bücher.«

»Ja, das sagte ich doch bereits.« Er stellte sich mit verschränkten Armen neben die Tür. »Und das Beste ist, sie gehören alle dir.«

Ich überlegte, wie ich die ganzen Bücher in meinem kleinen Zimmer unterbringen sollte, doch da fiel mir ein, dass ich es vielleicht gar nicht musste. Das Haus war so gemütlich, dass ich gleich hierbleiben könnte. Zumindest in meinem Traum, denn die Realität sah anders aus.

»Möchtest du erst einmal die anderen Zimmer sehen, bevor du dir die Bücher genauer ansiehst?«

»Ja, doch, gerne.« Ich folgte Ralph erneut. Im Schlafzimmer meiner Großeltern war es warm. Ein alter Ohrensessel stand in einer Ecke, ein Quilt war ordentlich über das Bett gelegt worden. Ein großer Kleiderschrank stand an der Wand hinter der Tür. Hier war es auch klein, aber gemütlich. Sowieso waren die Zimmer hinten im Haus allesamt kleiner, dafür der Wohnraum ebenso größer.

Weiter ging es ins Badezimmer mit einem riesigen Spiegel, der über zwei Waschbecken hing, einer Toilette, einem Bidet, einer kleinen Dusche und einer Eckbadewanne mit seniorengerechtem Einstieg.

»Das Badezimmer hatten sie ein Jahr vor Mary-Anns Tod umbauen lassen und keine Kosten gescheut. Brian war ein sparsamer Mensch, doch lebten die beiden so bescheiden, dass sie sich endlich mal ein wenig Luxus im Bad gönnten. Ich habe ihnen dabei geholfen.«

»Das sieht wirklich schön aus.« Ich bestaunte die schönen braunen Fliesen, die als Akzente an den Armaturen befestigt waren. Dazu ergaben die weißlichen mit Rautenmuster eine schöne Nuance.

»Das gefällt mir auch«, sagte Mama, die hinter mir ins Bad kam.

»Das freut mich. Wir haben wirklich lange gesucht, bis wir etwas Passendes gefunden haben, das beiden gefiel. Leider hatte Mary-Ann ja nicht lange etwas davon«, fügte er hinzu.

»Ja, woran ist sie gestorben?«

»Die Ärzte sagen, es war Herzversagen.« Er kratzte sich an der Nase. »Aber ich bin mir sicher, dass sie am gebrochenen Herzen gestorben ist. Sie hat ihre Tochter so sehr vermisst, dass ihr nicht mal Brian helfen konnte.« Er verstummte.

Irgendwie hatte ich bei Ralph ein komisches Gefühl im Bauch. Wie konnte ein Anwalt, auch wenn er ein guter Freund war, so viel über die Jamesons wissen?

Ralph hatte uns von seiner Beziehung berichtet, doch ein Puzzleteil passte noch nicht ins Bild. Vielleicht war ich im Moment auch nah am Wasser gebaut und so wurde jeder Satz und jedes Wort auf die Goldwaage gelegt.

»Wie hast du meine Familie kennengelernt?«

»Es war kurz vorm College. Ich wurde erst später ihr Anwalt. Erst war ich nur der Zeitungsjunge, der täglich die Zeitung gebracht und ihnen einen schönen Tag gewünscht hatte. Man kam ins Gespräch, sie luden mich ein, backten mir zum Geburtstag einen Kuchen. All solche Dinge, dabei erfuhren sie, dass meine Eltern schon früh gestorben waren, und nahmen mich herzlich in ihrer Familie auf. Meistens kam ich morgens und ging abends wieder nach Hause.«

»Weißt du denn, wer mein leiblicher Vater ist?« Die Frage beschäftigte mich schon, seit ich das Haus betreten hatte.

»Nein, wie gesagt, Sue-Ann kam schon schwanger zu mir. Von dem Erzeuger hatte sie nie ein Wort erwähnt. Ist das denn wichtig?«

Ich runzelte die Stirn. »Natürlich.« Dass Ralph so reagierte, hatte ich nicht von ihm erwartet. Irgendwas musste er mir doch verschweigen. »Oder bist du mein Vater?«, platzte es aus mir heraus.

»Jordan, was soll das?« Mama kam auf mich zu.

»Was denn? Ralph hatte mir doch gesagt, dass ich ihn alles fragen darf. Und es ist mir wichtig, dass ich alles erfahre, was er weiß.« Ich gestikulierte wild mit meinen Armen.

»Bitte, Jordan. Sei mir nicht böse. Ich weiß es wirklich nicht. Es muss irgendein Mann sein, der mit Sue auf der Straße gelebt hatte.« Er zuckte mit den Schultern. Ich nahm ihm die Antwort trotzdem nicht ab. »Wollen wir nicht ins Nähzimmer gehen?«

»Können wir machen.« Ich zog einen Schmollmund und trottete hinter ihm her. Ich war mir so sicher, dass er mehr wusste, als er mir erzählte.

»Deine Großmutter hat wunderschöne Sachen gemacht. Den Quilt im Schlafzimmer zum Beispiel.«

»Schade, dass ich sie nicht kannte. Vielleicht hätte sie mir auch etwas genäht.«

»Sicher, davon gehe ich aus. Du, Jordan.« Er nestelte an seinem Mantel, der immer noch über seinem Unterarm hing, herum. »Es tut mir wirklich leid. Ich hätte gedacht, dass ich dir alle Fragen beantworten kann, doch dem ist wohl nicht so.«

»Stimmt.« Ich blickte in den Handarbeitsraum. Dort befand sich ein großer Schreibtisch, der damals wohl als Nähtisch fungiert hatte, denn die Nähmaschine stand jetzt auf einer der Kommoden. »Eine Frage habe ich noch. Wie alt bist du?«

»Ich bin 55 Jahre.« Ralph fuhr sich durchs Haar. »Hab mich gut gehalten, oder?«

»Ja, könnte sein.« Ich runzelte die Stirn.

Das Verhältnis zwischen uns kühlte sich rapide ab und Ralph wurde langsam ungeduldig.

»Ich zeige euch noch den Garten. Er ist wunderschön.«

Eine große Terrasse mit zwei Liegestühlen, die eingeklappt unter einer großen Plane in der Ecke standen, Blumen sprossen aus Töpfen und Vögel zwitscherten von den Bäumen im Garten. Der Rasen war akkurat gemäht und im kleinen Froschteich spiegelten sich die Sonnenstrahlen.

Lena und Kevin knutschten unter dem Apfelbaum und Lukas stand mit unserem Vater im Schatten und begrüßte uns. »Da seid ihr ja endlich.«

»Ja, tut mir leid. Es hat etwas gedauert.«

»Jordan hatte viele Fragen, was sehr verständlich ist.« Ralph zog seinen Mantel an und trat in die Sonne. »Leider konnte ich ihr nicht alle Fragen beantworten. Wer zum Beispiel ihr leiblicher Vater ist.«

»Ist das denn wichtig für dich, Jordan? Sei doch froh, dass du überhaupt irgendetwas von deiner leiblichen Familie erfahren hast und dass es so gute Dinge sind.« Papa kam auf uns zu.

»Gut? Meine leibliche Mutter ist tot, meinen Vater kennt keiner und meine Großeltern sind auch verstorben. Ich hätte sie gerne mal kennengelernt.« Ich verschränkte die Arme vor der Brust.

»Sicher, aber du hast doch uns.« Mein Vater kam auf mich zu und nahm mich in den Arm. »Alles andere schaffen wir auch noch.«

Ich schloss die Augen, als ich in seinen Armen lag.

»Andere Kinder haben niemanden, wissen nicht, woher sie kommen. Du weißt es jetzt.« Er nahm mein Kinn, so dass ich ihm in die Augen blickte. »Und sei nicht so, denk an deine Mutter«, flüsterte er mir zu und deutete zu Mama. Was musste ihr wohl die ganze Zeit im Kopf herumgeistern? Ob sie Angst davor hatte, mich zu verlieren? Es ist doch wichtig, was ich jetzt habe, und nicht, was ich hätte haben können. Vergangenheit ist nun mal vergangen. Von Bedeutung ist nur, was mir die Zukunft bringt.

Ich ging zu meiner Mutter und nahm sie ebenfalls in den Arm. »Wollen wir einen Tee trinken? Wir können doch schauen, was Brian noch so auf Vorrat hat.« Ich trabte voran in die Küche und suchte in den Schränken nach Tee. Schnell wurde ich fündig und stellte fest, dass er noch nicht abgelaufen war. Hier in Amerika musste ich etwas umdenken, denn die Amerikaner schrieben das Datum anders als wir in Deutschland. 8/3/2012 bedeutet 3. August 2012.

Der Kessel war in einem Schrank unter der Kochinsel und pfiff schnell, nachdem ich den Herd angeschaltet hatte.

Zucker gab es reichlich und das Teeservice in einem der alten Schränke wurde von Lena, die fertig geknutscht hatte, aufgedeckt.

Alle nahmen an dem runden Esszimmertisch Platz und schenkten sich Tee ein. Dazu reichte ich den Zucker und die Teelöffel.

»Erst einmal sollten wir Ralph danken«, sagte unser Vater. »Danke für die freundliche Aufnahme hier in Oklahoma und für die nette Betreuung.«

»Ja, danke«, murmelte ich und nippte an meinem Tee. Was sollte ich sonst sagen? Ich fühlte mich immer noch unbehaglich und hatte immer noch dieses komische Gefühl gegenüber Ralph.

»Gern geschehen. Wie ich schon sagte, war mir das ein großes Anliegen. Mary-Ann und Brian konnten ihre Enkelin nicht kennenlernen, aber dafür lernt Jordan einen Teil von ihnen kennen. Auch wenn sie schon verstorben sind«, fügte er noch schnell hinzu.

»Ja, das denke ich auch.« Unsere Mutter rührte ihren Tee um.

»Verkauft ihr das Haus jetzt?«, fragte Lena, die sich über die gesamte Besichtigung ruhig verhalten hatte.

»Verkaufen?« Ralph verschluckte sich fast an seinem Tee, so dass Lukas ihm kräftig auf den Rücken schlug. »Entschuldigt.« Ralph nahm eine Serviette und wischte sich den Mund trocken. »Ihr wolltet das Haus verkaufen?«

»Nun ja, wir wohnen in Deutschland. Das ist nicht gerade um die Ecke, so dass wir hierherziehen könnten.« Meine Eltern tauschten einen Blick.

»Aber das könnt ihr nicht machen. Die ganzen Sachen, die Dinge hier.«

»Ich weiß, dass dir die Sachen viel bedeuten. Wir werden uns da sicher einig.« Ich biss mir auf die Unterlippe. Dieser Satz kam mir schwer über die Lippen, denn ich wollte, dass er aus dem Haus verschwand.

»Weißt du, dass ich nach dir gesucht habe, weil ich mir sicher war, dass du das Haus deiner Großeltern behalten würdest?«, sagte Ralph. Er hatte seine Hände fest um die Teetasse gelegt, so dass die Handknöchel weiß hervortraten.

Wie konnte ich ihm erklären, dass mir die Sachen nicht so viel bedeuteten wie ihm? Ich kannte diese Familie, mit denen ich blutsverwandt war, doch überhaupt nicht. Und nun sollte ich mich an Dingen erfreuen, die ich noch niemals zuvor zu Gesicht bekommen hatte? Es war alles so merkwürdig. Ich erlebte gerade eine Achterbahnfahrt der Gefühle. Ich trauerte um die Menschen, die ich nicht kennenlernen konnte, doch war ich mit keiner ihrer Habseligkeiten verbunden. Bei Ralph war es anders. Er kannte sie, ich verstand ihn, doch musste ich das tun, was für mich und meine Familie am besten war. »Ich kann dich verstehen.« Hilfesuchend blickte ich zu meiner Mutter.

»Ich denke wir sollten erst einmal ankommen, dann können wir immer noch darüber sprechen. Jetzt trinken wir erst mal unseren Tee.«

»Das ist gut.« Ralph schenkte sich nach.

»Du, Ralph, gibt es hier irgendwo noch ein paar Fotos? Ich würde mir gerne noch welche ansehen«, fragte ich. Ralph sprang auf und ging hinüber zu der Kommode. Eigenartig, er bewegte sich hier, als würde ihm das Haus gehören, als hätte er hier gewohnt. Ich fuhr mir mit der Hand über die Stirn.

»Hier, ich wusste doch, dass Brian einige Alben versteckt hat.« Ralph legte mir ein Fotoalbum auf den Tisch. »Musst du mal hineinschauen. Ich weiß nicht, aus welchem Jahr die stammen.« Ralph setzte sich, bis sein Handy läutete. Er suchte in seinem Mantel, den er nach der Führung zurück an die Garderobe gehängt hatte, und entschuldigte sich mit einem Nicken in die hinteren Räume.

Ich öffnete das Album und mir fiel ein großer Umschlag entgegen, auf dem mein Name stand.

»Was ist das denn?«, fragte ich und sah mich nach Ralph um. Schnell reichte ich ihn meiner Mama, die ihn in ihre große Tasche steckte.

Ralph kam zurück. »Es tut mir leid. Ich muss leider los.« Er leerte seine Teetasse und zog seinen Mantel an. Dann blieb er an der Tür stehen. »Ich muss gehen«, wiederholte er nochmal.

Was erwartete er von uns? War das jetzt eine Aufforderung, das Haus zu verlassen?

»Ja, dann wünschen wir dir noch einen schönen Tag. Warte, ich bringe dich zur Tür.« Unser Vater stand auf, tauschte einen Blick mit seiner Frau und ging hinüber zu Ralph.

»Ja, danke.« Ralphs Stimme brach. Er wurde nervös und kratzte sich wieder an der Stirn. »Dann also bis morgen.« Er setzte seinen Hut auf und ging hinaus. Papa schloss die Tür.

»So, endlich!«

»Danke, irgendwie ist er unheimlich geworden.« Ich strich mir mit den Händen über die Oberarme.

»Ja, deswegen telefoniere ich gleich nochmal mit Dr. Stein und frage, was er von Ralph hält, und als Zweites lassen wir noch heute jemanden kommen, der uns die Schlösser hier im Haus austauscht. Garage, Haustür und die Terrassentür.« Papa suchte in seinem Portemonnaie nach der Visitenkarte von Dr. Stein.

»Bevor du anrufst, schau mal auf die Uhr. Wir sollten erst morgen früh bei ihm anrufen. In Deutschland ist es bestimmt schon nach acht. Ich habe den Zeitunterschied nicht im Kopf«, sagte ich und blickte auf die Uhr.

»Ja, gute Idee.«

Es läutete an der Tür.

Mir lief ein Schauer den Rücken hinunter.

»Oh, hoffentlich ist das nicht Ralph«, sagte Lena und blickte Kevin an, der die Hand über ihre Schulter gelegt hatte. Lukas sprang auf und ging hinüber.

»Sei nett, Lukas«, mahnte unser Vater, der ebenfalls zur Tür ging.

»Hallo«, sagte eine ältere Dame mit Lockenwicklern in den Haaren. »Ich bin Dolores Grimes, aber nenne mich Dolores. Ich war eine gute Freundin von Mary-Ann und wohne direkt gegenüber. Ich habe gesehen, dass ihr vorhin mit Mr. Norris ins Haus gegangen, aber nicht wieder mit ihm herausgekommen seid.« Sie blickte über ihre Schulter. »Da habe ich mir Sorgen gemacht.«

»Das ist aber nett, dass du nach uns siehst.« Thomas öffnete die Tür etwas weiter, so dass wir die Dame von unseren Plätzen begrüßen konnten.

»Oh, da sind ja die Damen des Hauses.« Sie winkte uns zu. Ich hatte Mühe, sie zu verstehen.

»Darf ich dich zum Tee einladen? Übrigens, das ist mein Sohn Lukas, meine Frau Angela, mein Sohn Kevin mit Freundin Lena und meine Tochter Jordan.« Papa deutete zum Esstisch. »Und ich bin Thomas.«

Die Dame ging zu mir hinüber, legte ihre Hand unter mein Kinn und begutachtete mein Gesicht. »Du bist also die verschollene Jordan«, murmelte sie. »Ich wusste, dass du zurückkommen würdest.«

Sie setzte sich neben mich auf den Stuhl von meinem Vater und nahm meine Hände in ihre. »Du bist so wunderschön, wie die Knospe einer Rose.«

»Oh, danke.« Ich spürte, wie mir das Blut in die Wangen lief. Lena kicherte hinter vorgehaltener Hand. Mama stand auf, um neues Wasser aufzukochen.

»Mary-Ann war so glücklich, als sie von dir erfuhr, denn auch wenn sie ihre Tochter verloren hatte, würde sie ein neues Leben in ihren Armen halten können. Ihr habt ja keine Ahnung, was sie in diesem Moment gefühlt haben musste, als sie gleich im nächsten Augenblick zu hören bekam, dass Sue-Ann dich zur Adoption freigegeben hatte.« Die Dame nahm dankend die volle Teetasse entgegen und füllte sich eine Ladung Zucker hinein. »Sie haben dich gesucht, wirklich. Doch nicht gefunden. Brian hatte sogar einen Detektiv beauftragt.«

Diese Neuigkeit flatterte wie ein verirrter Schmetterling in meinem Bauch herum, doch wusste ich nicht, wie ich es verdauen sollte.

»Darf ich dich etwas fragen?«

»Aber natürlich, mein Schätzchen. Alles, was du willst.« Sie setzte sich gerade auf und wartete.

»Ich würde gerne wissen, in welchem Verhältnis meine Großeltern zu Ralph Norris standen.«

»Ralph Norris.« Dolores schnalzte mit der Zunge.

»Denkst du, wir sollten die Schlösser austauschen lassen?«, fragte mein Vater in die Stille.

»Aber unbedingt.« Sie drehte sich eine verlorene Haarsträhne, so kurz sie auch war, zurück in den Lockenwickler. »Er ist ein furchtbarer Mensch. Es tut mir leid, was ihm in der Vergangenheit passiert ist, doch dafür kann niemand etwas. Er war regelecht besessen von einer intakten Familie, doch als er erfuhr, dass Sue-Ann falsche Freunde gefunden hatte, war er nicht zu bremsen. Er suchte sie und steckte sie mehrmals in eine Einrichtung, die ihr helfen sollte. Doch manchen Menschen kann man nicht helfen. Mary-Ann hatte ihm nie verziehen, als er eines Tages zu ihnen kam und ihnen von dir erzählte.« Sie deutete auf mich. »Da sie seit jenem Tag abweisend zu ihm war, wurde er oft laut, wenn er zu Besuch war, und Brian komplimentierte ihn hinaus. Ab und zu kam auch die Polizei«, flüsterte sie.

»Er hat sie doch nicht angegriffen, oder?« Meine Augen wurden größer.

»Nein. Um Gottes Willen. Sie liebten ihn, doch konnte er Sue-Ann nicht ersetzen. Hinter seinem Rücken holten die beiden den Detektiv. Ich glaube, dass Ralph eifersüchtig war. Sie hatten Angst vor ihm.«

»Und deshalb sagten sie nichts von der Suche nach mir?«

Dolores nickte. »Ja, davon bin ich überzeugt. Er wollte immer nur eine intakte Familie, ein Teil der Familie sein. Nun da Sue-Ann nicht mehr am Leben war, hatte er sich ausgemalt, die Nummer eins sein zu können. Doch sie erfuhren von dir und die Dinge nahmen ihren Lauf.«

»Das ist ja alles sehr spannend«, sagte Lena und lehnte sich an Kevins Schulter. Dieser beobachtete seit einigen Stunden stumm das Geschehen.

»Und wenn Sie mich fragen, hatte er gehofft, dass Brian ihn in seinem Testament bedenkt. Doch bei der Testamentseröffnung wurdest nur du benannt.« Sie trank einen weiteren Schluck und hielt unserer Mama die leere Teetasse hin. Danach häufte sie sich wieder Zucker in die Tasse. »Ich war ja da. Einer musste alles beobachten.« Ihre Fingerknöchel waren so dünn, dass die Adern bläulich durchschimmerten.

»Aber wir dachten, er ist Anwalt.« Ich runzelte die Stirn.

Dolores Lachen hallte durch den Raum. Ihre Hand auf dem Bauch. »Anwalt, hat er euch das erzählt? Grundgütiger«, sagte sie, als wir nickten. »Er wollte mal Anwalt werden, doch was er wirklich beruflich macht, weiß ich nicht. Und das will was heißen.« Sie hob den Zeigefinger. »Es wird gesagt, dass Brian viel Geld hatte. Vielleicht versucht er, durch dich etwas Geld zu erlangen. Man muss manchmal nur auf die Tränendrüse drücken.«

»Dann frage ich mich, wie er in Kontakt mit Dr. Stein kam, wie er an die Schlüssel kam. Die wurden ihm doch sicher nicht einfach so übergeben.«

»Mm?« Dolores rieb sich die Nase. »Sicher nicht und das gesparte Geld hat Brian sicher nicht im Haus.«

»Es reicht, ich rufe Dr. Stein an. Vielleicht schläft er ja noch nicht.« Mein Vater nahm sein Handy und ging mit der Visitenkarte nach hinten in den Flur.

Derweil rief Dolores von ihrem Haus aus einen Bekannten an, dessen Sohn Schlosser war.

Er sollte alle Schlösser austauschen.

Natürlich konnte er nicht sofort zu uns kommen, aber er versprach nach Feierabend vorbeizukommen.

Dolores unterhielt uns in der Zwischenzeit. Sie konnte nicht mehr an sich halten. Die Worte sprudelten wie das Wasser aus der Quelle aus ihr heraus.

Als mein Vater mit blassem Gesicht und einem geröteten Ohr zurückkam, blickten wir ihn neugierig an.

»Was ist denn los?«, fragte meine Mama.

»Ralph ist ein Betrüger. Eine Anwaltskanzlei aus Oklahoma hatte mit der Erbermittlungsagentur in Deutschland Kontakt aufgenommen. Wir haben uns an Dr. Stein gewandt, der sich wiederum an die Erbermittlungsagentur gewandt hat. Bis dahin ist alles klar.« Papa setzte sich und schob die Tasse von Ralph in die Tischmitte. »Ralph Norris muss davon Wind bekommen haben und sich ins System gehackt haben. So kam er an unsere Daten und die Daten von Dr. Stein oder aber er ist in die Anwaltskanzlei eingebrochen und hat dort Akten gestohlen oder kopiert. Na ja, auf jeden Fall hat er sich als Anwalt ausgegeben und alles mit Dr. Stein besprochen.«

»Hat Dr. Stein sich denn gar nicht gewundert, warum er plötzlich von einem fremden Anwalt angerufen wurde?«

»Nein, denn Ralph hat ihm seine Visitenkarte per Mail geschickt und dort stand, dass er ein Mitarbeiter von der Kanzlei in Oklahoma sei. Aber wir müssen uns keine Sorgen machen. Dr. Stein wollte gleich mit der Kanzlei sprechen und für morgen einen Termin ausmachen. Er wird uns dann benachrichtigen.«

»Und was ist mit den Daten? Ich meine, sind wir überhaupt im richtigen Haus? Oh, Gott.« Mama sprang auf und fuhr sich seufzend mit der Hand durchs Haar.

»Ja, die wichtigen Sachen liefen alle über die Erbermittlungsagentur, so dass Ralph keine Chance hatte, an das Geld oder an irgendwelche Dokumente heranzukommen. Die Schlüssel musste er wohl schon gehabt haben. Wir sollen jetzt mal gucken, ob irgendwas fehlt, doch wie sollen wir das machen, wenn wir noch nie hier waren?«

»Ich helfe euch. Ich hab Brian an den Tagen besucht, als Ralph nicht da war. Vielleicht sollten wir in den hinteren Räumen nachgucken.«

»Ja, gleich. Vorher möchte ich noch etwas nachsehen.« Dann zog ich den Umschlag aus der Tasche meiner Mutter und öffnete ihn.

Alle Blicke richteten sich auf mich.

₺164,78

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
430 s. 1 illüstrasyon
ISBN:
9783738086799
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre