Kitabı oku: «Gesang der Lerchen», sayfa 2

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Am ersten Tag seiner Reise nach Berlin kam Philipp bis Hannover. Es war bald Mitternacht. Der Bahnhof machte einen unfreundlichen Eindruck. Im Schein der sparsamen Beleuchtung sah er überall die Spuren der Zerstörung durch den Krieg, spürte die Kühle der Herbstnacht und war hungrig. In dem großen, überfüllten Wartesaal fand er in der Nähe der Tür zur Toilette noch einen Platz, stellte den Sack mit dem Federbett an die Wand, setzte sich auf die geschichteten Koffer, steckte einen Fuß durch die Träger des Rucksacks, drückte seinen Rücken gegen das Federbett und versuchte ein wenig die Augen zu schließen, ohne zu schlafen. Das lange Sitzen auf den Holzbänken, das Quietschen der Wagenbremsen bei den unzähligen Halts, der knallende Lärm beim Zuschlagen der vielen Abteiltüren vor jeder Weiterfahrt und das eintönige Tack-Tack der Wagenräder während der Fahrt hatten Philipp müde gemacht. Er wurde wach, als der Morgen durch die Fenster schien und das Lampenlicht in dem Wartesaal verblasste. Beruhigt stellte er fest, dass von seinem Gepäck nichts fehlte.

Der Zug bis zur Zonengrenze war nicht so überfüllt wie der Zug am Tage zuvor. Auf dem Bahnhofsvorplatz von Helmstedt, der Endstation in Westdeutschland, boten Menschen mit Handwagen ihre Dienste an, um das Gepäck der Reisenden zur Grenzstation zu fahren. Philipp verhandelte mit einer Frau über den Preis.

»Geben Sie mir, was Sie haben; drüben dürfen Sie sowieso kein Westgeld besitzen.«

Er gab und schüttete dazu noch das Hartgeld aus seiner Börse in ihre offen gehaltenen Hände. In Berlin, das wusste er, gab es ja sofort das erste Stipendium in Ostmark. Vor dem Schlagbaum auf der Westseite nahm er sein Gepäck aus dem Wagen und reichte dem britischen Grenzposten seinen Interzonenpass. Der drückte einen Stempel darauf und reichte ihn zurück.

»Good bye!«

Philipp schleppte sich mit dem Gepäck durch einige hundert Meter Niemandsland zum sowjetischen Schlagbaum und dem Grenzposten, zeigte wieder seinen Interzonenpass und dazu die Aufnahmebescheinigung der Universität.

»Nix gutt, Stempel nix rund«, sagte der Posten, deutete auf die Bescheinigung und gab die Papiere zurück.

Alle Verhandlungsversuche von Philipp führten nicht weiter.

»Was soll ich denn jetzt machen?«, fragte er.

»Du gehen zu-chause!«

»Dann will ich den Kommandanten sprechen!«

»Nix Kommandant, ich Kommandant«, sagte der Posten, deutete auf seine Brust und nahm eine drohende Haltung ein.

Philipp musste zurück. Ratlos saß er in dem Niemandsland auf seinen Sachen. Menschen gingen von Schlagbaum zu Schlagbaum an ihm vorbei und sahen seine verzweifelte Lage.

»Wenn Sie den Kommandanten sprechen wollen«, sagte ein Mann, »dann gehen Sie doch einfach seitlich in den Wald. Alle, die beim illegalen Grenzübertritt geschnappt werden, kommen nach Marienborn und werden dort verhört.«

Was bleibt mir übrig?, dachte Philipp.

Er setzte den Rucksack auf, legte den Sack mit dem Federbett quer darüber, nahm die beiden Koffer und ging in den Wald. Nach zehn Minuten war er immer noch frei. Einige Male stellte er die Koffer ab, lehnte sich erschöpft an einen Baum, nahm sie nach kurzer Zeit wieder auf und ging weiter.

Endlich kam er an eine Mulde und sah, dass dort mehr als ein Dutzend Menschen, jung und alt, auf ihrem Gepäck oder auf dem Boden hockten. Am Rande der Mulde saß ein Sowjetsoldat mit einem Gewehr auf den Knien, schaute teilnahmslos über die Menschen hinweg und rauchte. Als er Philipp sah, gab er ihm gelangweilt ein Zeichen mit der Hand, sich zu den anderen zu setzen. Philipp war froh, sich ausruhen zu können und gehorchte.

Eine ganze Weile geschah nichts weiter. Die Menschen starrten vor sich hin und schwiegen oder redeten leise miteinander. Es roch nach Harz und nach Pilzen. Zwei Sowjetsoldaten kamen mit einer jungen Frau, die einen kleinen Rucksack trug und sich auch zu den anderen setzen musste.

Die beiden Soldaten sprachen Russisch mit dem Posten und gingen bald wieder. Die junge Frau flüsterte mit einigen der anderen Wartenden. Philipp fiel ihr schönes, aber verschmutztes Gesicht auf. Als sie seinen Blick bemerkte, rutschte sie näher zu ihm hin und sprach ihn an.

»Wenn wir verhört werden, kann ich dann sagen, dass ich zu Ihnen gehöre?«

»Warum?«, fragte Philipp zurück.

»Ich habe Angst vor den Russen«, flüsterte sie.

Er versuchte sie zu beruhigen.

»Wir sind nicht mehr im Krieg mit ihnen; sie tun nur ihre Pflicht. Haben Sie darum ein so beschmutztes Gesicht?«

»Ja.«

»Glauben Sie denn wirklich, dass das hilft? Ich kann mir gut Ihr Gesicht gewaschen vorstellen. Aber wenn es Sie beruhigt: Wir gehören zusammen.«

»Danke«, sagte die Frau.

Trotz ihrer Angst zeigte sie dabei ein so wunderschönes Lächeln, dass Philipp ganz vergaß, in welcher Lage er selber war. Sie berichtete ihm, dass sie heute zum ersten Mal Russen sehe und dass sie nach Leipzig wolle, um ihren Verlobten zu besuchen. Und dann erzählte sie die Geschichte ihrer Liebe: Schon als Kind habe sie für einen drei Jahre älteren Nachbarjungen geschwärmt. Als der dann mit siebzehn Jahren Soldat wurde, in Russland kämpfte und dort in Gefangenschaft geriet, habe sie oft für ihn gebetet. Es habe geholfen. Vor einem Jahr, nach zwei Jahren Gefangenschaft, sei er endlich heimgekehrt. Alles wurde gut. Sie verliebten sich ineinander und verlobten sich. Er begann ein Ingenieurstudium, und sie studierte Musikwissenschaft. Ihr Vater, ein angesehener Anwalt in Münster, und ihre Mutter, eine ausgebildete Klavierlehrerin, akzeptierten ihre Wahl. Seine Eltern, Inhaber eines seit der Währungsreform wieder gut gehenden Konfektionsgeschäftes, liebten ihre künftige Schwiegertochter. Und dann sei ihr Verlobter vor einer Woche in die Ostzone gefahren. Aus Leipzig habe sie vor zwei Tagen einen Brief bekommen, in dem er sie um Vergebung bat. Er besuche dort ein Priesterseminar und komme nicht zurück in den Westen. Bete für mich, habe er geschrieben.

»Und an allem sind die Russen schuld!«, seufzte sie verzweifelt und klimperte dabei mit den langen Wimpern. Philipp wollte noch antworten, dass die Russen wohl kaum daran interessiert sein werden, in ihrer Zone möglichst viele Priester zu haben, aber da sah er, dass zwei ostdeutsche Polizisten auf die Gruppe zukamen.

»Wir müssen uns duzen. Wie heißen Sie, du?«

»Eva.«

»Philipp«, sagte er. »Wisch dir den Schmutz aus dem Gesicht!«

Da waren die Polizisten schon bei ihnen. Alle mussten ihr Gepäck aufnehmen und auf der Autobahn Richtung Marienborn gehen. Ein Polizist ging voraus, der zweite hinterher. Eva trug das Federbett, indem sie den Sack mit beiden Armen umschlang und an ihren Busen drückte.

Philipp wunderte sich, dass keine Autos auf der Autobahn waren. Aber dann erinnerte er sich daran, gehört zu haben, dass die Sowjets ja schon seit über drei Monaten alle Zufahrten nach Westberlin blockiert hielten.

Der Weg war lang. Die Koffer wurden immer schwerer, Philipp musste sie öfter abstellen. Eva und er bildeten bald das Ende der Gruppe. Bei der nächsten Rast wurde der hinter ihnen gehende Polizist ungeduldig.

»Da sind wohl Steine drin?«

»Bücher«, sagte Philipp.

»Schmeiß doch den Kram in den Graben, dann geht’s schneller!«

Volkspolizei, die Polizei gegen das Volk, dachte Philipp und schleppte sich und die Koffer weiter. Der Schweiß rann ihm über das Gesicht und in die Augen. Eva aber ging leichtfüßig an seiner Seite und redete unentwegt von ihren Plänen, von ihrer Fahrt bis hierher und von ihrer Heimatstadt Münster.

Sie will wohl ihre Angst vertreiben, vermutete Philipp. Als Letzte erreichten beide Marienborn und die Schule, in der die Gruppe in einen Klassenraum geführt und eingeschlossen wurde. Eva und Philipp ließen sich gleich hinter der Tür auf ihrem Gepäck nieder. Bald schon öffnete sich die Tür wieder.

»He, Bücherwurm, komm!«, sagte der Polizist und deutete auf Philipp.

»Kann meine Braut mitkommen?«

Wie leicht ich »meine Braut« sagen kann, dachte er.

»Meinetwegen, los, los!«

Sie wurden in einen kleineren Raum und vor den Schreibtisch eines sowjetischen Offiziers geführt. An der Wand hinter dem Schreibtisch befand sich eine rote Fahne und daneben hing ein Bild, auf dem Stalin an ihnen vorbei in die Ferne schaute. Philipp zeigte seine Papiere. Der Offizier warf einen kurzen Blick darauf.

»Was Sie wollen hier? Fahren nach Berlin! Gutt Reise!«

»Darf meine Braut auch mitkommen?«

»Bitte Papiere!«

Eva reichte ihm ihren Personalausweis.

»Mehr Papiere!«

»Mehr hab ich nicht.«

»Sie nicht mehr Papiere, dann zuruck nach − er schaute in ihren Ausweis − Muuunster.«

»Nein!«, rief Eva. »Ich lasse dich nicht allein fahren, nein, nein!«

Und damit umschlang sie Philipp mit beiden Armen, so wie sie vorher den Sack mit dem Federbett umschlungen hatte. Sie küsste ihm die Wangen, die Stirn, die Augen, den Mund und den Hals.

»Verlass mich nicht, Liebster, Bester, mein Schatz, nimm mich mit, bitte, bitte!«

Philipp spürte ihren Busen, ihren warmen Körper, war überwältigt und einen Moment wie gelähmt von so viel Zärtlichkeit, fand aber bald Gefallen daran und küsste zurück. Die beiden Männer schauten amüsiert zu. Endlich unterbrach der Offizier diesen Ausbruch von Leidenschaft und grinste.

»Dann muss wohl gehen Liebster auch nach Westen wieder.«

Damit gab er dem Polizisten ein Zeichen, dass für ihn die Angelegenheit erledigt sei. Der Polizist schob das Paar in den Flur, schloss die Tür zu einem weiteren Klassenraum auf und drängte zu einer Entscheidung.

»Was denn nun? Wenn Sie beide zurück wollen, dann hopp, hier hinein!«

Philipp machte einen Schritt rückwärts. Eva versuchte noch einmal das Sackumklammerungsverfahren, küsste Philipp stürmisch und bat mitgenommen zu werden. Als sie aber das ungerührte Gesicht des Polizisten sah, änderte sie ihr Verhalten.

»Dann komm mit zurück!«, sagte sie und versuchte Philipp durch die geöffnete Tür zu ziehen. Erschrocken wich er weiter zurück.

»Bist du verrückt!«

Er hatte plötzlich kein Verlangen mehr nach ihren falschen Küssen. Da schubste sie ihn von sich, nahm ihren Rucksack und ging stolz und schön auf den geöffneten Raum zu.

»Auf Wiedersehen!«, rief Philipp ihr hinterher.

Eva aber antwortete nicht, machte, ohne sich noch einmal umzudrehen, eine wegwerfende Handbewegung und verschwand hinter der Tür. Der Polizist schloss ab und schüttelte den Kopf.

»Weiber, da soll sich einer auskennen!«

»Ja«, stimmte Philipp zu, »da soll sich einer auskennen.«

An diesem Tag kam Philipp bis Magdeburg. Wieder war es fast Mitternacht, als er den Wartesaal betrat. Überall saßen, hockten und lagen Menschen, die einen kleinen Platz für die kurze Nacht gefunden hatten und schliefen oder schweigend schauten, was um sie herum geschah. Eine alte Frau machte Philipp ein wenig Platz. Er stapelte sein Gepäck, so dass er darauf sitzen und sich etwas ausruhen konnte. Dann aß er von dem Kuchen, den die Mutter ihm mitgegeben hatte.

»Sie sind aus dem Westen, das sieht man gleich«, sagte die alte Frau, »einen so schönen Kuchen gibt es bei uns nicht.«

Philipp gab ihr ein Stück und bat sie, einen Moment auf seine Sachen zu achten. Im Toilettenraum trank er Leitungswasser, und erst als sein Durst gestillt war, merkte er, dass es faulig und stark nach Chlor schmeckte.

In der Nacht fand er keine Ruhe. Das Schnarchen der alten Frau störte ihn; sie schlief mit offenem Mund und zeigte dabei ihr fehlerhaftes Gebiss. Menschen gingen im Saal hin und her und stiegen über die Schlafenden.

Philipp musste an die Tränen der Mutter denken und an den Vater. Jetzt war ihr Sohn also ein Russe. Er dachte an Eva, an ihre Russenangst und ihre falschen Küsse. Immerhin hatte sie einen »Russen« geküsst. Er musste schmunzeln.

Noch vor Morgengrauen nahm er sein Gepäck und ging auf den Bahnsteig. Die kühle, frische Luft des frühen Tages war angenehm. Er atmete einige Male tief durch. Im Osten sah er, wie die Wolken sich röteten und die bald aufgehende Sonne ankündigten.

Am frühen Nachmittag fuhr der Zug durch die Vororte Berlins. Berlin! Philipp hatte in den drei Jahren nach dem Kriege vieles über diese Stadt gehört und gelesen. Jetzt sollte er sie selber kennen lernen, ja sogar darin wohnen. Der Zug fuhr über Wannsee, Grunewald und Charlottenburg. Philipp sah die vielen Spuren des Krieges: zerstörte Häuser und Straßen voller Schutt. Aber das kannte er schon aus dem Ruhrgebiet. Ihn beeindruckte mehr die Größe der Stadt und das viele Grün, das trotz der Kriegsschäden und der fortgeschrittenen Jahreszeit in allen Stadtteilen noch zu sehen war.

Im Bahnhof Zoologischer Garten endete die Fahrt. Philipp musste umsteigen in die S-Bahn, um nach Ostberlin zu kommen. Er stellte seine Koffer und den Sack auf der Plattform des Wagens in eine Ecke und suchte sich einen Platz, von dem aus er das Gepäck noch sehen konnte. So kurz vor dem Ziel wollte er kein Risiko mehr eingehen.

Die Bahn fuhr an und hielt wieder an der Station Tiergarten. Der Wagen füllte sich schnell mit Menschen. Das ist wohl schon der frühe Feierabendverkehr, dachte Philipp und staunte über den schnellen Aus- und Einstieg der Fahrgäste und über die Türautomatik. Auf dem Bahnsteig mit dem fremdklingenden Namen Bellevue sah er plötzlich einen Mann mit seinem Federbett stehen. Der Mann musste den Sack beim Aussteigen mitgenommen haben. Philipp sprang auf, drängte sich durch die Zugestiegenen, war mit einem Satz draußen, entriss dem Mann den Jutesack, hörte im Lautsprecher die befehlende Stimme »Zurückbleiben!« rufen, sprang mit dem Sack zurück in den Wagen, die Türen schlugen zu und der Zug fuhr an. Durch das Glas der Wagentür sah er noch das fassungslose Gesicht des »Diebes«, dann war der Mann mitsamt der Station verschwunden.

Philipp atmete auf, bahnte sich einen Weg zu der Ecke, um den Sack an seinen Platz zurückzustellen. Aber da stand schon einer. Erst jetzt bemerkte er, dass der »gerettete« Sack kleiner war und auch schwerer. Er schämte sich und war ratlos. Vorsichtig versuchte er in den Gesichtern der anderen Fahrgäste zu ergründen, was sie von seiner Aktion mitbekommen hatten. Aber alle schauten teilnahmslos vor sich hin. Da versuchte er auch ein teilnahmsloses Gesicht aufzusetzen. Am Bahnhof Friedrichstraße ließ er einfach den zweiten Sack stehen, stieg aus und fragte nach dem Weg zur Universität.

Vom Büro der Fakultät bekam Philipp ein Zimmer im 5. Stock eines Wohnblocks im Bezirk Prenzlauer Berg zugewiesen. Das Mauerwerk an der Außenfront war stark beschädigt. Philipp sah die Spuren der Bombensplitter und der Granateneinschläge. Die Wirtsleute, ein Rentnerehepaar, kamen sofort nach dem Einzug in sein Zimmer, um ihm ihre Verhaltensmaßregeln mitzuteilen. Vor allem dürfe er keine Mädchen mit aufs Zimmer nehmen. Wenn er später mal eine Verlobte haben sollte, na ja, aber auch dann nur bis zehn Uhr abends. Aus Duisburg sei er also, von so weit her. Da müsse er der Mutter aber fleißig schreiben, denn die mache sich sicher große Sorgen. Was denn der Vater mache.

»Der macht sich auch Sorgen«, sagte Philipp.

Nein nein, was er arbeite.

»Er arbeitet in einer Kohlengrube; mein Vater ist Bergarbeiter.«

Die Gesichter wurden reservierter. So so, und da konnte er es sich leisten, seinen Sohn studieren zu lassen? Philipp erklärte ihnen, dass es mit dem Studieren noch eine Weile hin sei, erst müsse er in zwei Jahren Schule das Abitur nachholen.

»Und in der Zeit bekomme ich ein Stipendium.«

»Ach ja! Die Zeiten haben sich geändert«, sagte der Zimmerwirt und seufzte, »viel zu schnell, es geht alles viel zu schnell!« Er erzählte von seiner Zeit als Postbeamter, und wie lange es gedauert habe, bis er von dem anstrengenden Außendienst in den Innendienst gekommen sei. »Und im Krieg, kurz vor der Pensionierung, musste ich dann doch wieder Außendienst machen.«

Philipp beobachtete während der Zeit einen kleinen, braunen, linsenförmigen Käfer, der über den Tisch gekrochen kam, in einem Sonnenflecken auf der Tischplatte anhielt und sich dort sonnte. Mit einem Fingerschnipser wollte er gerade den Käfer vom Tisch befördern, da schrie der Wirt auf.

»Halt! Eine Wanze, oh Gott, eine Wanze!« Mit einem Satz war er aus dem Zimmer und sofort wieder zurück mit einer gefüllten Handspritze, sprühte eine übel riechende Flüssigkeit auf den Tisch, auf alle weiteren Möbel und Gegenstände in dem Zimmer, auf Philipp, und besonders auf das Federbett. »Da bringt uns dieser Mensch Wanzen in die Wohnung!«, sagte er mehrere Male und pumpte und pumpte.

Philipp war erschrocken, fühlte sich schuldig und ließ alles über sich ergehen.

»Wo bist du untergekommen?«, fragte später Christian leise im Unterricht.

Philipp antwortete ebenso flüsternd, dass er ein Zimmer im Bezirk Prenzlauer Berg vermittelt bekommen habe.

»Was, in dieser verwanzten Gegend wohnst du!?« Da musste Philipp laut lachen. »Was ist so komisch an Wanzen?«, wollte Christian wissen und lachte auch.

»Die Herren dort finden den Unterricht wohl recht amüsant. Hoffen wir, meine Herren, dass es so bleibt, für Unterhaltung werde ich schon sorgen«, meldete sich der Physiklehrer Seiter von der Tafel.

Die Ertappten verfolgten eine Minute aufmerksam, was sich dort vorne tat. Dann flüsterte Philipp weiter.

»Ich bin frisch eingesprüht worden und wanzenfrei.«

»Daher stinkst du so, und ich dachte schon, das ist dein Ruhrpottmief.«

»Da musst du erst einmal den Duft von meinem Federbett kennen lernen.«

3

Nach dem langen Unterrichtstag benutzte Philipp die U-Bahn von der Station Unter den Linden bis Alexanderplatz und von dort die Straßenbahn 74, die über Prenzlauer Berg nach Weißensee fuhr. In den meisten Fensterrahmen der Bahn war das fehlende Glas durch klappernde Blechplatten ersetzt worden.

Philipp fand es doof, dass er während der Fahrt nicht hinausschauen konnte. Da tippte ihm jemand auf die Schulter. Sophie saß hinter ihm und schrie gegen die lärmenden Blechplatten an.

»Bist du bis Alex gefahren?«

»Ja«, schrie er zurück, »mit der U-Bahn.«

»Zu Fuß ist es genauso schnell.«

Am nächsten Morgen gingen sie gemeinsam vom Alex quer durch den Lustgarten zur VA und am Nachmittag gemeinsam zurück. Sie sahen die Trümmer zu beiden Seiten der Straßen und dahinter die Ruinen, und sie trafen Frauen mit Kopftüchern beim Steineklopfen. Männer führen Kriege, Frauen räumen auf, dachte Philipp. Ihn bewegte jetzt doch das Ausmaß der Zerstörung, während Sophie davon weniger beeindruckt schien und über Westdeutschland sprechen wollte.

»Wie ist die revolutionäre Situation im Ruhrgebiet?«, fragte sie.

Philipp verstand nicht.

»Aber du bist doch aus einer Proletarierfamilie.«

Er verstand noch weniger und fand die Bezeichnung Proletarier ganz lustig.

»Proletarier aller Länder ...«

»Ist dein Vater in der Partei?«, unterbrach Sophie ihn.

»Nein, aber ich habe einen Onkel, der war in der Partei.«

»War in der Partei?«

»Ja, in der NSDAP.«

»Stalin schreibt über die ...«, sagte sie mit ernstem Gesicht, ohne auf seinen Scherz einzugehen, machte eine Pause, und dann zu einem entgegenkommenden jungen Mann: »Freundschaft!«

»Wie, was hast du gerade gesagt?«, fragte Philipp erstaunt.

»Stalin schreibt über die revolutionäre ...«

»Nein, nein, was hast du gerade zu dem Burschen da gesagt?«

»Freundschaft!«

»Wie, was, Freundschaft, du sagst zu einem wildfremden Menschen so einfach Freundschaft?«

»Ja, natürlich, er hat ein FDJ-Abzeichen an. Wir grüßen uns so. Ich bin auch in der FDJ, Freie Deutsche Jugend.«

Sie berichtete, dass sie schon in der Sowjetunion bei den Pionieren und vor der Rückkehr nach Deutschland auch noch beim Komsomol war, der kommunistischen Jugendorganisation.

»Im vergangenen Jahr haben wir FDJler Uniformen bekommen und eine Fahne, blau mit aufgehender Sonne.«

»Und wenn es nun eine untergehende Sonne ist, wie willst du das unterscheiden?«

»Kann es sein, dass du unsere Sache nicht ernst nimmst?«

Später erzählte Philipp Christian von diesem Gespräch.

»Die ist völlig verkorkst«, sagte der, »da müsste sich mal jemand finden, der sie tüchtig bearbeitet. Wenn die etwas mehr vorzuweisen hätte, würde ich dir die Arbeit ja gerne abnehmen. Aber das wirst du wohl selber machen müssen.«

Sophies Mutter, Edda Dahlhaus, war eine geborene Franke und die Tochter einer bekannten, wohlhabenden Familie aus dem Berliner Westen. Ihre beiden Brüder waren im Ersten Weltkrieg gefallen. Vater Karl Franke war Direktor bei Borsig und aus einer Familie, die für ihre Pioniertaten auf dem Gebiet der Industrialisierung bekannt war. Luise Franke, Eddas Mutter, war eine geborene Porten und stammte aus einer Künstlerfamilie. Ihr Vater war Kunstmaler. Der Regisseur Franz Porten, Vater der aus Stummfilmen bekannten Schauspielerin Henny Porten, war ein Vetter ihres Vaters.

Nach ihrer Heirat mit Karl Franke war Luise klug genug, den Verkehr mit ihrer Künstlerfamilie auf das Notwendige zu beschränken. Die Sorge für ihren Mann sowie die Pflege und Erziehung ihrer drei Kinder füllten ihre Tage als Ehefrau und Mutter aus. Nach dem frühen Heldentod ihrer beiden Söhne aber war sie zu einer frommen Frau geworden, die sich neben der Fürsorge für ihre geliebte Tochter mit Kirchenbesuchen und mildtätigen Aufgaben beschäftigte. Karl Franke wollte seine Ruhe in der Familie haben und ließ sie gewähren. Edda genoss eine behütete Kindheit und eine gute Schulausbildung auf einem humanistischen Gymnasium. Als junges Mädchen wirkte sie mit ihren blaugrauen Augen und ihren weichen Zügen ein wenig verträumt. Ihr kurzes, dunkelblondes Haar und die Bubikopf-Frisur ließen ihr eher rundliches Gesicht noch runder wirken. Die hervortretenden Backenknochen gaben ihr dazu ein leicht slawisches Aussehen.

Schon früh entwickelte Edda einen besonderen Sinn für alles, was da blüht und krabbelt, sammelte Pflanzen, Käfer und Schmetterlinge und auch sonst allerlei Getier. Als sie den Wunsch äußerte, Biologie studieren zu wollen, war die Familie nicht sehr überrascht. Ungewöhnlich war nur, dass sie als Frau eine Universität besuchen wollte. Das war in beiden Familien noch nicht vorgekommen. Aber seit das Kaiserreich zusammengebrochen und Deutschland eine Republik war mit dem Sattlergesellen Ebert an der Spitze, ja seit selbst der Präsident der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft, Walter Rathenau, sich im Wirtschaftsrat mit Sozialdemokraten zusammensetzte, konnte Direktor Franke nichts mehr verwundern.

Edda ließ sich an der Universität Jena einschreiben. Sie wollte nicht in der Nähe des Elternhauses studieren, und Jena kam ihr in den Sinn, weil sie sich an einen Besuch dort als Kind mit ihrer Mutter im Botanischen Garten erinnerte − und weil sie für den Dichter Schiller schwärmte. Den Eltern war es nicht recht, dass ihre Tochter so fern von Berlin sein würde. Letztlich aber willigte der Vater doch ein und versprach auch einen monatlichen Wechsel mit einem großzügigen Betrag.

Edda studierte gerne, wenngleich sie mehr und mehr das Empfinden bekam, Eindringling in einem den Männern vorbehaltenen, ja ihnen gehörenden Lebensbereich zu sein. Als Ausgleich versuchte sie, sich einer der studentischen Vereinigungen anzuschließen. In den konservativen Verbindungen konnte sie als Frau nicht Mitglied werden, so blieb ihr nur die Freie Studentenschaft, die den Sozialdemokraten nahestand. Die auf den Versammlungen und Diskussionsabenden behandelten Themen waren ihr zuerst fremd, eröffneten ihr jedoch bald eine ganz neue Art zu denken. Sie versäumte keinen der Abende.

Nach einiger Zeit trat Edda der SPD bei und berichtete das auch den Eltern. Vater Franke tobte und wollte ihr den Wechsel sperren, ließ sich aber durch seine Frau davon überzeugen, dass das Ganze sicher nur eine jugendliche Dummheit und bald vorbei sei.

Eddas Briefe nach Hause wurden weniger; ihre Mutter musste immer öfter ein Lebenszeichen von ihrer Tochter anmahnen. Auch kam sie in den Semesterferien bald nur noch kurz und dann auch seltener heim. Einmal, Edda studierte nun schon das dritte Jahr in Jena, kam ein Brief, in dem sie ankündigte, dass sie in Kürze kommen und einen jungen Mann mitbringen werde. Sie habe einen Institutsassistenten kennen gelernt, wolle ihn den Eltern vorstellen und deren Segen zu ihrer Verlobung erbitten. Dr. Jonas Blumenthal, so der Name des Assistenten, sei ein fleißiger junger Mann, dem man eine große Karriere an der Universität voraussagte. Karl Franke war außer sich. Das hatte ihm gerade noch gefehlt, ein Jude in der Familie.

»Mir genügen schon die Juden in der Firma, da muss es nicht auch noch ein jüdischer Schwiegersohn sein. Das hast du nun von den jugendlichen Dummheiten, jetzt wirst du bald Bastarde als Enkel haben«, schimpfte er mit seiner Frau.

Er ahnte aber, dass mit Härte bei seiner Tochter nichts zu erreichen sein würde, beriet sich mit seiner Frau und stimmte zu, sie einen Brief nach Jena schreiben zu lassen.

Mein liebes Kind, schrieb Luise Franke, Vati und ich, wir freuen uns sehr auf Dein baldiges Kommen. Matilda hat gleich angefangen, Dein Zimmer herzurichten. »Ich werde ihr was Ordentliches kochen, Frau Direktor, das Mädelchen war beim letzten Besuch ja so dünn«, hat sie gesagt, die Gute. An den Gedanken, dass Du Dich verloben wirst, müssen wir uns erst gewöhnen. Für uns bist Du immer noch unsere Kleine. Ich kann es nicht glauben, dass Du schon zweiundzwanzig Jahre alt bist, vielleicht, weil ich immer noch Deine älteren Brüder sehe, die mit siebzehn und achtzehn Jahren sterben mussten. Und was ist aus unserem Vaterland geworden, für das sie gefallen sind! Jetzt bist Du unser ganzer Lebensinhalt, und wir machen uns natürlich Sorgen um Deine Zukunft. Glaube mir, Schatz, wir wollen nur Dein Glück. Muss es aber gleich ein Jude sein? Vati und ich haben nichts gegen Juden, Gott bewahre! Wir kennen ja selber einige, die sind ganz nett. Aber wir leben nun mal in einem christlichen Land, und wir sind eine christliche Familie. Ich möchte doch mal dabei sein, wenn meine Enkelkinder getauft werden und vielleicht − wenn ich es denn noch erlebe − wie sie zur Konfirmation gehen. Du willst doch sicher nicht, dass ich noch jiddische Lieder lernen muss, um die Kinder, an ihren Bettchen sitzend, in den Schlaf zu singen. Gell, Du überlegst es Dir nochmal? Vati lässt Dir ausrichten, dass er Dir unser Jugendstilhaus in Dahlem schenken will, wenn Du einen christlichen Ehemann haben wirst und dort wohnen möchtest. Du liebst das Haus doch so sehr. Er sagt, dass es kein Problem sein wird, die jetzigen Mieter rauszuklagen. Die Neueinrichtung übernimmt Vati auch. Schatz, ich bete, dass Du unsere große, vernünftige Tochter sein wirst.

Viele zärtliche Küsse von Mutti und von Vati

Als Edda diesen Brief erhielt, hatte Jonas Blumenthal sich schon wieder von ihr getrennt und war zu seiner früheren Freundin zurückgekehrt. Heimgesucht von den unterschiedlichsten Gefühlen, war Edda eine Zeit lang wie gelähmt. Dazu wurden die Schwierigkeiten für sie als Frau im Studium immer größer, so dass ihr die Freude an der Biologie verging. Gefangen in diesem Seelentief, traf sie Wilhelm Dahlhaus, einen Pädagogikstudenten, auch Mitglied der Freien Studentenschaft und der SPD, der ihr seit langem den Hof zu machen versuchte. Er war groß, eher schlank, hatte leicht krauses Haar und wirkte mit seinem schmalen Schädel und der randlosen Brille schon in jungen Jahren wie ein Gelehrter. Mit seinen langen Armen und Beinen bewegte er sich etwas ungelenk. Edda fand ihn verklemmt, in seiner betont korrekten Art eher komisch und hatte ihn mehrmals abgewiesen. Jetzt erhörte sie ihn und gab seinen unbeholfenen sexuellen Versuchen nach, ja sie half bis an die Grenze des Schicklichen mit, um das Gelingen einer Verführung durch ihn nicht zu gefährden.

Am nächsten Tag schrieb sie einen Brief an die Eltern. Sie werde das Studium aufgeben und heiraten. Wilhelm Dahlhaus sei ein tüchtiger Mann, der schon bald in den höheren Schuldienst treten werde und somit eine Familie ernähren könne. Wenn es ihm gelänge, eine Stelle in Berlin zu bekommen, würden sie sehr gerne das Angebot annehmen und das Jugendstilhaus bewohnen. Und außerdem sei sie schwanger.

Letzteres war zwar noch ungewiss, aber Edda hatte die feste Absicht, es in ganz kurzer Zeit zu sein, und ob sie es nun eine Woche vorher oder hinterher den Eltern verkündete, wer wollte sie dafür tadeln. Als Karl Franke den Brief gelesen hatte, war er zufrieden.

»Na Gott sei Dank! Nun wird doch noch alles gut.«

Und so kam es dann auch. Wilhelm Dahlhaus machte sein Examen und erhielt eine Stelle an einem Berliner Gymnasium. Edda brach ihr Studium ab. Sie heirateten und zogen in das freigeklagte Haus in Dahlem. Edda bekam einen gesunden Sohn, Kurt, und war mit ihren neuen Pflichten als Mutter und Hausfrau voll beschäftigt und zufrieden.

Wilhelm Dahlhaus stammte aus einer Lehrerfamilie. Sein Vater, ein Dorfschullehrer in Thüringen, war als technisches Genie mit einem Hang zum Sonderling über sein Dorf hinaus berühmt. Seine Schüler erinnerten sich in späteren Jahren gerne noch an seine physikalischen und chemischen Experimente, die mancher Experimentalvorlesung einer Universität gut angestanden hätten, aber nicht immer ganz ungefährlich waren und keinesfalls dem Stoffplan einer Dorfschule entsprachen. Aber sie waren eindrucksvoll, und die Kinder gingen mit Freuden zur Schule.

An kalten Wintertagen, wenn in den anderen Klassenräumen die Schüler beim Unterrichtsbeginn in Mänteln und Schals gehüllt saßen, mit den Holzschuhen klapperten und darauf warteten, dass der eben gezündete Kanonenofen endlich Wärme verbreitete, war es in Lehrer Dahlhausens Klassenraum schon lange warm. Er hatte einen alten Wecker umfunktioniert zu einem Zeitzünder, der über eine Zündschnur den am Abend vorher präparierten Ofen weit vor Unterrichtsbeginn anheizte.

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