Kitabı oku: «Gesang der Lerchen», sayfa 4

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Philipps Vater, Paul Siebert, sollte und wollte als Junge nicht Bergarbeiter werden. Es war der Plan seiner Eltern, dass er als Ältester und einziger Sohn später den Hof übernehmen sollte. Mittelgroß und eher schwächlich ausschauend, mit hellblondem Haar und weichen Gesichtszügen, konnte man in ihm weder den künftigen Landwirt noch den Bergarbeiter erkennen.

Philipps Großvater, Ferdinand Siebert, war als junger Mann mit seiner Frau Guste aus Ostpreußen in den Westen gekommen. Dort in Ostpreußen gehörten beide zu einem gräflichen Gesinde. Nachdem sie Gefallen aneinander gefunden hatten und den Herrn Grafen um Erlaubnis baten, heiraten zu dürfen, stimmte der nicht nur zu, sondern überließ ihnen auch noch eine kleine Kate und ein wenig Land. Es wurde vereinbart, dass sie als Tagelöhner weiter auf dem gräflichen Gut arbeiten und so die Pacht für Kate und Land aufbringen sollten.

Bald aber bekam Guste ihr erstes Kind, Paul, und konnte neben der Hausarbeit und der Arbeit auf dem eigenen Feld nur noch selten auf den gräflichen Feldern mitarbeiten. Um die Pacht aufbringen und mit seiner Familie überleben zu können, kaufte Ferdinand Siebert von dem wenigen Ersparten einige Schafe und versuchte sich als Schafzüchter. Er war auch erfolgreich. Aber schon im ersten strengen Winter erkrankten viele der Schafe und verendeten. Ferdinand verkaufte die restlichen Tiere, und die Sieberts zogen in den Westen.

Ferdinand war ein Mann, der schon in jungen Jahren schütteres Blondhaar hatte. Mit seiner untersetzten Gestalt, seinen buschigen Augenbrauen, seinem leichten Bauchansatz und dem schweren Gang wirkte er leicht behäbig.

Guste war klein, hatte ein schmales, herbes Gesicht mit einer geraden, großen Nase. Sie ging mit eingezogenen Schultern leicht nach vorn gebeugt. Auffallend war ihre stark nasale Sprechweise.

Hier im Westen arbeitete Ferdinand zuerst im Bergbau. Guste nahm eine Putzstelle an und bemühte sich, neben ihrer Arbeit als Hausfrau und Mutter so viel wie möglich mitzuverdienen. Sie lebten sehr sparsam, und obwohl Guste in dieser Zeit ihr zweites Kind gebar, das Mädchen Johanna, versuchte sie, wann immer sie ein wenig Zeit erübrigen konnte, putzen zu gehen und so den Betrag auf dem Sparbuch zu vergrößern.

Nach zwei Jahren bekamen sie einen Kredit von der Bank und kauften sich einen preiswerten, kleinen Bauernhof. Ferdinand wurde selbstständiger Landwirt. Dieser Hof, mit einem großen Obstgarten am Rande des Ruhrgebiets und östlich einer Zeche und einer neuen Kokerei mit einer Teerverwertung gelegen, konnte nur überleben durch zugepachtetes Land. Die Sieberts kauften sich eine Kuh und ein Pferd. Schon nach der ersten Ernte leisteten sie sich weitere Kühe und dazu einige Schweine, denn Ferdinand und Guste waren fleißig und erfolgreich. Guste bekam ihr drittes Kind, wieder ein Mädchen. Sie nannten es Emma. Es war eine schwere Geburt, so dass Guste nach der Geburt kränkelte und eine ganze Weile für die Feldarbeit ausfiel. Die Ernten aber waren gut. Die Sieberts konnten ihre Kreditraten pünktlich bezahlen und hatten auch noch etwas über für das Sparbuch.

Ferdinand merkte es zuerst am Obstgarten. Die Obsternte wurde weniger, einige Bäume gingen ein. Von Jahr zu Jahr wuchsen das Getreide und die Rüben schlechter, so dass Ferdinand das Ersparte anbrechen und zusätzlich teuren künstlichen Dünger streuen musste. Es half nicht viel, die Ernten wurden immer weniger. Als er dazu noch für sein Getreide von der Genossenschaft nur einen geringen Preis bekam und darüber klagte, sagte ihm der Geschäftsführer vorwurfsvoll: »Sei froh, dass du es überhaupt noch los wirst. Dein Getreide mit dem vielen Pech und Schwefel darin ist ja das reinste Giftzeug. Wie konntest du auch einen Hof kaufen so nahe an der Kokerei!«

Im Jahr darauf ließ die Bank den Hof und das Vieh versteigern. Die Zeche erwarb das Land und die Gebäude; sie brauchte Bauland für eine neue Bergarbeitersiedlung. Die Gebäude wurden abgerissen, die Bäume wurden gefällt, eine abgelegene Scheune blieb stehen. Die Zechenverwaltung erlaubte, dass Ferdinand die Scheune zu einem geringen Zins mietete und ausbaute, das umgebende Wiesenstück pachtete und mit seiner Frau und den drei Kindern in der Scheune wohnte.

Man machte ihm das Angebot, mit Pferd und Wagen die Belieferung der Bergarbeiter mit Deputatkohle zu übernehmen. Einen Teil der Scheune durfte er dafür als Pferdestall nutzen. Ferdinand sagte zu, denn er wollte gerne an der frischen Luft sein und für kein Geld der Welt wieder in der Grube arbeiten. So ging er in seiner grünen Lodenjoppe neben seinem das Fuhrwerk ziehenden Rheinischen Kaltblut zur Zeche, um von dort die Kohlen zu den Bergarbeitersiedlungen zu fahren. Auf dem Kopf trug er eine Mütze mit schwarzem Lackschirm, seine Hosenbeine waren mit Ledergamaschen umwickelt.

Paul, der diese Beschäftigung seines Vaters interessanter fand als die schwere Feldarbeit, beeilte sich nach dem Schulbesuch mit den Hausaufgaben, um an den Nachmittagen den Vater begleiten zu können. Das brachte ihm neben der Freude, das Pferd führen zu dürfen, manches Mal auch Süßigkeiten oder gar ein Trinkgeld ein, wenn sie eine Fuhre Kohlen vor einem der Siedlungshäuser abgekippt hatten. Gerne hörte Paul auch zu, wenn der Vater mit den Kumpeln, wie er die Bergarbeiter nannte, ein Schwätzchen hielt, war es über das Wetter, über die Arbeit in der Grube oder über den Kaiser in Berlin.

An kalten Tagen hatte Ferdinand immer eine Schoppenflasche mit Schnaps dabei, und an besonders kalten Tagen durfte Paul auch schon mal einen Schluck davon nehmen. Wenn aber nach der Heimkehr Guste den Schnaps bei Paul roch, schimpfte sie mit ihrem Mann.

»Was soll nur aus dem Jungen werden, wenn er schon mit zehn Jahren lernt, wie man Schnaps trinkt. Du machst aus ihm noch einen Säufer!«

Ferdinand brummelte dann nur: »Nu, nu, ein Schluck wird schon nicht schaden«, strich sich über den Kaiser-Wilhelm-Bart, aß ruhig seine Suppe weiter und langte zwischendurch mit seinem Löffel in die in der Mitte des Tisches stehende Schüssel mit Bratkartoffeln.

Es ging ihnen gut; sie hatten nun ein regelmäßiges Einkommen und keine Schulden mehr. Ferdinand aber plante weiter. Er kaufte einen zweiten Pferdewagen, mit dem man auch andere Güter transportieren konnte, besorgte sich einen Gewerbeschein, malte auf einer Holztafel mit großen Buchstaben »Fuhrgeschäft von Ferdinand Siebert, Fuhren aller Art« und brachte das Schild an der Außentür der Scheune an.

Auf ihren ehemaligen Feldern war inzwischen eine Siedlung entstanden, Neue Kolonie genannt, in die viele Bergarbeiter aus Schlesien und aus anderen Teilen Deutschlands einzogen. Dort gab es jetzt öfter etwas zu transportieren, was Ferdinand einen willkommenen Nebenverdienst brachte. Paul hatte nicht viel im Sinn mit dieser Kolonie. Weil es meist junge Familien waren, die dort wohnten, gab es nur wenige Kinder in seinem Alter. Diese gingen auch noch in die nahe der Zeche gelegene katholische Schule, während Paul zusammen mit den Kindern der meisten Geschäftsleute und denen der Handwerksbetriebe in die evangelische Schule nahe dem Ortszentrum ging.

Im Spätherbst bekam Guste ihr viertes Kind, wieder ein Mädchen. Mutter und Kind kränkelten. Der Arzt stellte fest: Das Kind litt an Blutarmut, die Mutter hatte ein Magenleiden. Guste konnte ihr Kind nicht stillen; sie hatte keine Milch. Ferdinand baute einen kleinen Verschlag neben dem Pferdestall und kaufte ein Schaf.

»Schafsmilch ist gut gegen Blutarmut und gegen Magenleiden«, sagte er. Aber es half nichts. Die Jüngste wurde gerade mal ein halbes Jahr alt und starb. Guste kränkelte immer mehr.

Als Paul elf Jahre alt war, begann der Krieg. Aus dem Album, das sein Vater schon als Junge mit gesammelten Zigarettenbildern über den Krieg 1870/71 angefertigt hatte, wusste er, dass Krieg bunte Fahnen, schöne Uniformen, Paraden und Siegesfeiern bedeutete, und er freute sich, jetzt selber einen solchen Krieg miterleben zu dürfen. In der Schule lernten die Kinder das Lied »Fest steht die Wacht am Rhein« und packten Päckchen für die ausrückenden Soldaten.

In der Neuen Kolonie gab es ein Straßenfest mit den jungen Bergarbeitern, die sich als Freiwillige gemeldet hatten. Der Obersteiger überreichte im Namen der Zechenleitung jedem der jungen Helden einen Umschlag mit einem zusätzlichen Wochenlohn und hielt eine Rede, in der er verkündete, die Heimat erwarte, dass kein Franzose über den Rhein komme, in sechs Wochen werde alles vorbei sein, und allen Familien der ausrückenden Soldaten sei für die Dauer des Krieges die Wohnungsmiete erlassen. Die Menschen jubelten und schwenkten Fähnchen. Die mit Girlanden geschmückten Häuser, die Fähnchen schwenkenden Menschen und die unter Musikklängen marschierenden jungen Bergarbeiter, das entsprach ganz Pauls Vorstellung von einem Krieg. Ab jetzt ging er gerne in die Kolonie.

Zu Hause saßen Johanna und die kleine Emma und versuchten eifrig, die in der Schule unter Anleitung der Handarbeitslehrerin begonnenen Wollsocken für die Soldaten an der Front zu einem guten Ende zu bringen. Guste musste energisch werden, um ihre Töchter von den Stricksocken weg und zum Einkauf im Konsumverein zu bewegen. Sie ließ in größeren Mengen Mehl und Graupen besorgen, um einen Vorrat anzulegen. Einige Tage später waren die Lebensmittelpreise gestiegen. Die Geschäfte nahmen nur noch Hartgeld und kein Papiergeld mehr entgegen, so dass die Behörden energisch gegen diese Art des Geldverkehrs einschreiten mussten.

Auf dem Wege zur Schule kam Paul an einem Schaukasten der Hamborner Nachrichen vorbei. Dort standen jetzt schon frühmorgens die Menschen, lasen die Erfolgsmeldungen von der Front und stimmten Hochrufe auf den Kaiser und das Vaterland an. Paul stimmte mit ein, bis ein Invalide ihm Prügel androhte, wenn er, der Rotzlöffel, noch einmal den Kaiser hochleben lassen sollte.

Ferdinand kam mit der Nachricht heim, dass ab sofort die Mengen an Deputatkohlen für die Bergarbeiter und damit auch die Anzahl der Fuhren auf die Hälfte reduziert würden. Während er noch überlegte, wie er trotz weniger werdender Fuhren seine Familie ernähren könne, brachte der Briefträger ihm einen behördlichen Brief. Die Kaiserliche Ersatzinspektion teilte mit, dass der Fuhrmann Ferdinand Siebert zum 15. September 1914 sein Pferd in einem guten Zustand an die Armee abzuliefern habe. Der Gewerbeschein sei für die Dauer des Krieges eingezogen. Über Ferdinands Weiterbeschäftigung werde die Zechenverwaltung entscheiden.

Ferdinand war empört. Wer sollte jetzt die Kohlen ausfahren? Er nahm das Schreiben und ging zum Vorsteher des Lohnbüros. Der beruhigte ihn: Für die Kohlelieferung hätten die Bergarbeiter ab sofort selber zu sorgen. Viele hätten ja Karren, und die anderen könnten sich diese ausleihen. Ferdinand könne aber, wie schon vor Jahren, wieder als Bergmann arbeiten. Mit seinen 41 Jahren sei er ja noch ein junger Mann, der sicher gutes Geld unter Tage verdienen werde, und außerdem sei es ja nur für die kurze Zeit bis zum Sieg über die Franzosen. Und − der Bürovorsteher schaute ihn über die Brillengläser streng an − er könne weiter in der Werkswohnung wohnen bleiben.

»Ich wohne in einer Scheune, Herr Vorsteher«, wagte Ferdinand zu entgegnen und drehte seine Schirmmütze in den Händen.

»Aber doch von der Zeche!? Na siehst du!«

Ferdinand wurde wieder ein Kumpel. Er träumte von der frischen Luft, wenn er in der feuchten Schwüle unter der Erde die Kohlen in die Wagen schaufelte, von den weiten, von der Sonne beschienenen ostpreußischen Feldern, und er wartete auf das schnelle Ende des Krieges. Wenn er nach der Schicht die Siegesmeldungen in der Zeitung las, war er voller Zuversicht. Schon bald aber wurden die Meldungen von der Front immer einsilbiger. Brachte die Zeitung in den ersten Kriegswochen noch täglich lange und ausführliche Meldungen vom siegreichen Vormarsch, so nahmen die Listen der Gefallenen unter der Überschrift »Deutsche Helden« bald einen größeren Platz ein und verdrängten endlich die Siegesmeldungen ganz. Ein wenig später mussten die in den Siedlungen wohnenden Familien der Helden auch wieder Miete zahlen.

Ein Kumpel, etwas älter noch als Ferdinand und als Pferdeführer unter Tage beschäftigt, zeigte ihm in einer Dubbelpause einen Brief seines Sohnes von der Front. Im Schein seiner Grubenlampe las Ferdinand, dass die deutschen Soldaten an der Marne nicht weiter vormarschierten, sondern sich in Gräben und Unterständen eingerichtet hatten. Die Franzosen lagen nur etwas mehr als hundert Meter entfernt von ihnen und hatten sich ebenfalls eingegraben.

Wenn es Tag wird – schrieb der Sohn –, beginnt das deutsche Artilleriefeuer auf die französischen Gräben und dauert eine halbe Stunde. Dann bergen die Franzosen ihre Toten und Verwundeten. Nach etwa einer Stunde feuert die französische Artillerie auf unsere Stellungen. Da heißt es dann, sich tief eingraben und den Kopf nicht heben. Genau wie bei den Deutschen dauert es gewöhnlich eine halbe Stunde. Anschließend können wir unsere Toten und Verwundeten bergen, bis die Artillerie wieder anfängt. Nur an den Sonntagen, da ist es hier ruhiger.

Wenn sie sich eingerichtet haben, dachte Ferdinand, dann wird es keinen schnellen Sieg geben, und ich werde noch lange in der Grube arbeiten müssen. Ich muss versuchen auch Pferdeführer zu werden. Und wenn er schon nicht an der frischen Luft sein konnte, wollte er wenigstens unter Tage mit einem Pferd Kohle fahren, sei es auch nur vom Querschlag zum Schacht. Als der Steiger bei seinem nächsten Kontrollgang vorbeikam, fragte Ferdinand ihn nach einem Pferdeführerposten.

»Du bist doch noch ein kräftiger Mann, Siebert«, sagte der Steiger. »Kommst du denn zurecht, wenn du nicht mehr im Gedinge bist und nur den Schlepperlohn kriegst? Du hast doch Kinder; sprich lieber erst mal mit deiner Frau.«

Guste war einverstanden, aber nur, weil ihr Mann versprach, einen Teil der Wiese umzugraben für einen Garten. Für das Schaf allein brauchten sie nicht mehr die ganze Wiese.

»Gut«, sagte der Steiger, als Ferdinand ihn am nächsten Tag ansprach, »ich trage dich in eine Liste ein, aber es kann dauern.«

Und es dauerte. Wochen später sprach Ferdinand erneut mit Guste darüber. Sie hatte vor Jahren einige Zeit im Hause des Obersteigers geputzt, und sie überlegten nun gemeinsam, wie sie diese Verbindung nutzen könnten. Wieder putzen gehen? Dazu war Guste zu krank.

»Die Obersteigersche hat außerdem ein Mädchen aus der Neuen Kolonie bei sich in Stellung«, sagte Guste. »Aber lass mich mal, ich mach das schon.«

Die Steigerhäuser lagen westlich der Kokerei. Dort, wo beinahe nie die Abgasschwaden hinkamen, gab es auch einen Park. Wenn Guste zum Arzt musste, kam sie daran vorbei und sah manchmal die Frau des Obersteigers mit ihrem Pudel darin spazieren gehen. Guste richtete es so ein, dass man sich traf.

»Guten Tag, Frau Obersteiger!«

»Tag, Guste!«

Die Obersteigersche war größer als Guste. Sie hielt sich sehr gerade, schaute auf Guste herab und sprach in einem leicht herablassenden Tonfall.

»Wie geht’s? Was machen die Kinderchen?«

So konnte Guste erst über ihre Kinder, dann von ihrer Krankheit und schließlich von ihrem Mann berichten. Frau Obersteiger versprach zu tun, was sie könne, klagte dann noch darüber, wie wenig pflichtbewusst die jungen Mädchen heute seien, lobte Gustes Arbeit und betonte, wie zufrieden sie doch mit ihr gewesen war. Guste streichelte so nebenbei den Pudel, stimmte zu, als Frau Obersteiger meinte, alle müssten fleißig sein und für den Sieg beten, und verabschiedete sich mit vielen Dankesworten und den besten Wünschen für Frau Obersteiger und deren ganze Familie.

Als einige Tage später der Steiger bei seinem Kontrollgang wieder bei Ferdinand vorbeischaute, sagte er: »Melde dich morgen zur Spätschicht im Pferdestall auf Sohle vier, Siebert; dort ist ein Pferdeführerposten frei geworden.«

»Ja, Steiger«, sagte Ferdinand. »Ich danke Ihnen auch schön.«

»Danke nicht mir, bedanke dich bei der Heiligen Barbara, die muss ein Auge auf dich haben.«

Ferdinand war zufrieden mit dem neuen Posten, aber er brachte weniger Lohn heim. Guste klagte bald, dass sie nicht auskomme mit dem geringen Geld. Die Kinder mussten barfuß zur Schule gehen, an Sparen war schon lange nicht mehr zu denken. Ferdinand versprach ihr, im Windschatten der Scheune, geschützt vor den Abgasen der Kokerei und der Teerdestillation, noch mehr von der Wiese umzugraben, so dass sie mit Kartoffeln und Gemüse bald Selbstversorger sein würden; und weil es inzwischen Brot und Lebensmittel nur noch auf Karten gab, wollte Guste ihrem Mann gerne glauben. Paul half dem Vater bei der Gartenarbeit und war mit ihm stolz, als sie das erste Gemüse ernten konnten. Die Ernten aber waren gering und glichen lange nicht die Lohnminderung aus, doch Ferdinand fuhr seiner Frau über den Mund, wenn sie eine solche Rechnung aufmachte, und Paul fand, dass es ihnen gut ging.

In der Schule wurde für den Beitritt zur Jugendwehr geworben. Paul war begeistert von dem Gedanken, an einer Ausbildung teilnehmen zu können, wie sie auch die Soldaten vor dem Fronteinsatz erhielten. Jeder freiwillige Junge bekam eine Uniform aus gutem Militärstoff und eine Mütze, verziert mit einer Kokarde in den Nationalfarben schwarz-weiß-rot. Guste, die ohnehin nicht wusste, wie sie für ihren schnellwachsenden Sohn Kleidung beschaffen sollte, stimmte seiner Teilnahme zu. Als Ferdinand den Jungen in der Uniform sah, war er überrascht, wie erwachsen er aussah und dachte, dass es an der Zeit sei, sich Gedanken über die Zukunft seines Sohnes zu machen. Steckte er ihn in den Bergbau, dann konnte man sie nicht aus der Scheune rauswerfen und ihm nicht das Land nehmen, wenn er in der Grube aufhörte. Bald darauf meldete er Paul als Pferdejungen bei der Zeche an. So kam Paul Siebert zum Bergbau und arbeitete sein Leben lang unter der Erde, bis man ihn nach einem Unfall tot nach oben trug.

7

Sophie ging nach dem Unterricht mit zur Singakademie, wo sie zu dritt die Schularbeiten machten. Christian fühlte sich durch sie gestört, fragte, ob sie vorhabe, ab jetzt immer mitzukommen, und verabschiedete sich bald. Sophie und Philipp blieben noch einige Zeit und gingen dann auch. Als sie über die Spree-Brücke Richtung Alex gingen, schneite es und begann zu dunkeln.

»Glaubst du, dass es ein Selbstmörder war?«, fragte Sophie.

»Wer?«

»Na, der Tote heute Morgen.«

»Weiß ich nicht«, sagte Philipp. »Hast du gesehen, dass er eine gefärbte Wehrmachtsjacke trug?«

»Warum tut ein junger Mann so etwas? Ich verstehe das nicht!«

Sie hängte sich bei ihm ein. Schweigend gingen sie zur Straßenbahnstation. Auch während der Fahrt schwiegen sie. Als Philipp sich am Prenzlauer Berg verabschieden und aussteigen wollte, zog Sophie ihn wieder auf den Platz zurück.

»Komm bitte mit! Ich möchte jetzt nicht allein sein.«

Auf dem Weg zu ihrer Wohnung kamen sie an einem Bäckerladen vorbei, in dem eine Frau noch beim Putzen war. Philipp klopfte an die Scheibe, die Frau schloss auf und ließ ihn eintreten. Er nahm seine Brotkarte aus der Schultasche und kaufte vier Roggenschrippen.

In Sophies Zimmer war es warm. Sie aßen die Schrippen und tranken Leitungswasser. Dann zog Sophie sich aus. Ihre Kleidung legte sie ordentlich über einen Stuhl. Zuletzt löste sie ihre Zöpfe. Ihr volles, schwarzes Haar bedeckte ihre Schultern und ihre kleinen Brüste. Sie legte sich ins Bett und sah zu, wie Philipp sich auszog und dazulegte. Eine Weile lagen sie reglos nebeneinander. Man hörte nur das Geräusch der Luftbrücken-Maschinen. Philipp streichelte Sophies Haar, ihre Stirn und ihre Wangen. Sie schaute gegen die Zimmerdecke und begann still zu weinen.

Zum 21. Dezember, dem Geburtstag von Stalin, vergab Lichtweiß ein Referat. Es sollte Stalin und die Deutschen behandeln. Sophie meldete sich freiwillig.

Als sie den Vortrag begann, kündigte sie ihn an mit dem Titel: Josef Stalin, der weise Führer des internationalen Proletariats, der Garant des Weltfriedens und der beste Freund des deutschen Volkes. Sie sprach vom größten Schüler Lenins, von Stalins Vollendung der Revolution durch die Säuberung der Partei und der Armee von Spionen und Feinden und von deren Liquidierung. Sie sprach davon, dass Stalin als Führer der ruhmreichen Sowjetarmee den Faschismus besiegt und dem deutschen Volk die Freiheit gebracht habe. Von dem größten Genius der Menschheit sprach sie und davon, dass in seinem Arbeitszimmer im Kreml das Licht nie ausginge.

»Er soll sich nächtelang westliche Cowboy- und Operettenfilme anschauen«, flüsterte Christian Philipp zu. Zuletzt machte Sophie den Vorschlag, man solle doch wegen der großen Verdienste Stalins nicht nur vom Marxismus-Leninismus, sondern vom Marxismus-Leninismus-Stalinismus reden.

»Dann darf man aber auch Engels nicht vergessen«, sagte einer.

»Und Pieck!«, rief Philipp. »Es muss dann heißen: Marxismus-Engelismus-Leninismus-Stalinismus-Pieckismus.«

Die Klasse schwieg, Lichtweiß schaute einen Moment ratlos.

»Das war sicher ein Scherz von Herrn Siebert«, sagte er dann. »Wenn man allerdings die Sache ernsthaft diskutiert, wird man sagen müssen, das ist eine Frage an die Historiker. Ich persönlich glaube aber fest, dass das Lebenswerk Stalins einmal als Stalinismus bezeichnet wird.«

Philipp sah, dass Sophie eifrig nickte. Da war plötzlich seine Wut verflogen, und er fühlte nur noch Mitleid.

Am vorderen Tisch der mittleren Reihe saß Ruth. Sie war etwas füllig, hatte hinter langen Wimpern kecke braune Augen, mit denen sie gewollt naiv schauen konnte, hatte leicht gewelltes braunes Haar, starke Backenknochen und sehr üppige Lippen, die sie stets mit einem kräftigen Rot angemalt zeigte. Sie sprach mit eher leiser und ein wenig gehauchter Stimme. Ihre Bewegungen, ihr wiegender Gang, alles an ihr signalisierte Sinnlichkeit.

Christian und Philipp, die weiter hinten an einem Tisch in der Reihe an der Fensterfront saßen, mussten, wenn sie aufmerksam dem Dozenten am Pult oder an der Tafel folgen wollten oder auch nur so taten, an Ruth vorbeischauen und hatten sie als Zugabe im Blick, genauer: ihren Oberkörper; noch genauer: ihren großen Busen. Ruth war Berlinerin, die Tochter eines Kommunisten und Revolverdrehers bei Siemens & Halske. Ihre Mutter war Funktionärin im Demokratischen Frauenbund Deutschland DFD. Ruth hat nach dem Krieg einen Kurs zur Ausbildung als Neulehrerin besucht und war bis zum Eintritt in die VA Lehrerin.

»Die leg ich um«, sagte Christian schon an einem der ersten Unterrichtstage zu Philipp und schaute dabei genüsslich zu Ruth herüber. Aber Ruth war mit einem Lehrer ihrer früheren Schule befreundet, und Christians Werben war erfolglos, sie beachtete ihn kaum − bis zur Weihnachtsfeier.

Währen der Vorbereitung zu dieser Feier hatte Angela die Idee, einen Julklapp zu veranstalten, wie er zu Weihnachten in den skandinavischen Ländern üblich war. Alle sollten ein Los mit dem Namen eines Klassenmitgliedes ziehen, ein kleines Geschenk besorgen, das dann verpackt und mit dem Namen des zu Beschenkenden versehen eingesammelt und auf der Feier von einem Weihnachtsengel verteilt werde. Der Absender aber bliebe anonym.

So geschah es. Man sang Lieder von der stillen Nacht, vom grünen Tannenbaum und von den kommenden Kinderlein. Einige sangen nicht mit, weil sie es bürgerlich-dekadent fanden. Sophie sang nicht, weil sie die Lieder nicht konnte.

Christian begleitete den Gesang auf dem Klavier und spielte anschließend mit weit ausholenden Gesten noch den ersten Satz der Beethovensonate Pathétique.

Dann trat der Engel auf mit einem Sack voller Geschenke. Alle bekamen eins, Christian bekam drei. Er tat sehr überrascht und erfreut. Nach der Feier erlaubte Ruth, dass Christian sie begleitete. Sie machte den Vorschlag, in die Gartenlaube ihrer Eltern zu fahren. Die Gartenlaube war wohnlich eingerichtet, aber ungemütlich kalt. Sie gingen sofort ins Bett.

»Sprich mit mir!«, bat Ruth.

»Später«, sagte Christian und liebte sie.

Dann schaute er sich vom Bett aus in der Laube um.

»Kommen deine Eltern oft hierher?«

»Nein, jetzt im Winter gar nicht mehr«, sagte Ruth. »Bis vor einem Jahr haben wir hier gewohnt. Wir waren ausgebombt. Jetzt haben wir wieder eine Wohnung.«

»Kann man den Ofen heizen?«

»Ja, aber wir heizen ihn nicht. Die Briketts brauchen wir für die Wohnung.«

»Ich besorge uns welche.«

Er lehnte sich zurück, dachte, dass es doch noch eine schöne Feier geworden war, dass er nun wusste, wo er sich in den Weihnachtsferien aufhalten konnte, und schlief ein.

Nach Schulbeginn im neuen Jahr erzählte Christian, dass er vor der Weihnachtsfeier genau bedacht habe, bei sechs Mädchen in der Klasse und einem sicheren Geschenk für ihn über das Los höchstens fünf Geschenke mit dem eigenen Namen zusätzlich heimlich in den Sack zu schmuggeln. Er wollte aber nicht übertreiben und hatte nur zwei hineingegeben. Die Unsicherheit aber war, dass er nicht wissen konnte, ob nicht eines oder mehrere der Mädchen ihm tatsächlich zusätzlich ein Geschenk machen würden.

»Die Gefahr bestand wohl nicht«, meinte Philipp.

Das Frühjahr kam, die Tage wurden länger und milder. Christian und Philipp gingen an den Nachmittagen weiter regelmäßig zur Singakademie. Sophie kam nicht mehr mit, dafür machte Ruth jetzt öfter mit ihnen zusammen Schularbeiten. Einmal fuhren sie anschließend mit Ruth in die Laube. Christian hatte Wein besorgt und auch Kerzen. Sie tranken von dem Wein und schauten in die Flammen der Kerzen.

Ruth erzählte von ihrem Vater, der im Konzentrationslager gewesen war, aber schon während des Krieges entlassen worden und seitdem sehr schweigsam sei. Ihre Mutter wäre ganz verzweifelt; sie könne nicht verstehen, dass ein Mann so wenig Lebensmut zeigte, jetzt, wo er am Aufbau des Sozialismus mitwirken konnte. Christian erzählte, wie er und seine Mutter von der Erschießung seines Vaters durch die Russen erfahren haben und wie seine Mutter sich bald danach mit einem deutschen Besatzungsoffizier getröstet habe.

»Ich denke, es waren die Nazis, die deinen Vater umgebracht haben«, bemerkte Philipp.

»Ach Philipp!«, sagte Christian, und seine Stimme klang liebevoll-väterlich. Dann wandte er sich an Ruth.

»Gib Philipp mal einen Kuss!«

Ruth schaute Christian erstaunt an, zögerte einen Moment, setzte sich auf Philipps Schoß, umschlang ihn mit beiden Armen und küsste ihn. Dann stand sie auf, ging auf ihren Platz zurück und trank ihr Weinglas in einem Zug leer.

An einem Abend, sie hatten in der Singakademie lange Zeit für die Schularbeiten gebraucht, machte Christian den Vorschlag, in einem guten Restaurant essen zu gehen.

»Oh ja!«, sagte Philipp, »wenn ich einmal Millionär bin oder Parteifunktionär, dann machen wir das wirklich.«

»Wir machen es heute; ich lade euch ein«, tat Christian groß.

»Ich habe meine Fleischmarken nicht dabei«, bedauerte Ruth.

»Du brauchst keine Marken. Am Bahnhof Friedrichstraße ist ein HO-Restaurant, da kann man ohne Marken essen.«

»Was ist ein HO-Restaurant?«, fragte Ruth.

»Das ist neu, HO heißt Handelsorganisation«, erklärte Philipp, »das ist was Staatliches, dort kann man alles ohne Marken kaufen, aber für viel Geld.« Und zu Christian sagte er: »Hast du eine Bank überfallen?«

»Das nicht gerade; man kann auch anders an Geld kommen.«

Über dem Eingang stand: HO-Budapest. Christian ermunterte die beiden zu bestellen und machte es ihnen vor: Vorspeise, Suppe, Hauptgericht, und Nachspeise. Philipp und Ruth bestellten nur eine Vorspeise.

»Euch kann man nichts Gutes tun«, bedauerte Christian und langte kräftig zu.

Während er aß, erzählte er ihnen von seiner Geldquelle: An einem Sonntag war der Koch, der Dicke, wie üblich zum Dienst in das Hotel gegangen. Er hatte jedoch seine Tabletten vergessen, und Maria bat ihren Sohn, sie ihm nachzubringen. Christian ging und lernte in dem Hotel einen sowjetischen Offizier kennen, der ihm etwas schenken wollte. Als sie im Zimmer des Offiziers waren, zog er Christian auf ein Sofa, umarmte ihn stürmisch und sagte, dass er ihn liebe und ihm immer treu sein werde. Christian sah am Gürtel der Offiziersuniform eine große Pistole und war gelähmt vor Angst. Der Offizier stammelte immer weiter von Liebe und Treue und sank schließlich ganz ermattet auf Christians Schoß. Christian wagte nicht aufzustehen, sondern streichelte dem Offizier über das Haar, bis er eingeschlafen war. Vorsichtig hob Christian den Kopf des Schlafenden ein wenig an, stand langsam auf und schlich sich zur Tür. Als er gerade hinaushuschen wollte, hörte er ein lautes: »Stoi!« Der Offizier stand da mit einer gezogenen und auf Christian gerichteten Pistole. Dieser sah seine letzte Minute gekommen und hob blitzschnell die Arme. Da lachte der Offizier laut, steckte die Pistole weg, ging auf Christian zu, legte den Arm um ihn und führte ihn ins Zimmer zurück. Sie setzten sich an einen Tisch, der Offizier holte eine Flasche Wodka, schenkte sich und Christian ein und nötigte ihn zu trinken. Christian musste versprechen, den Offizier am nächsten Sonntag wieder zu besuchen. Der gab dem jungen Mann die beinahe noch volle Wodkaflasche und versprach ihm bei jedem Besuch eine neue.

Christian beendete seinen Bericht und schaute auf den Tisch.

»Bestellt doch noch was!«

Am letzten Tag des Wintersemesters und mit dem Erscheinen des ersten Grüns in der Natur machte die Klasse eine Biologie-Exkursion nach Friedrichshagen in den Berliner Stadtforst. Christian hatte sich unter einem Vorwand abgemeldet.

»Ich muss nicht mitgehen, Gräser zählen und Blümchen pflücken«, hatte er zu Philipp gesagt.

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23 aralık 2023
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