Kitabı oku: «Gesang der Lerchen», sayfa 3

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Jeder, der diese Dorfschule besuchte, besaß eine als Camera lucida bekannte, unter Anleitung des Lehrers selbst gebastelte Vorrichtung zum Nachzeichnen von Gegenständen in der Natur. Das ganze Dorfleben Thüringens gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, soweit es sich um unbewegliche Gegenstände handelte oder um Objekte, welche sich für die Dauer des Nachzeichnens zur Bewegungslosigkeit befehlen ließen, wurde so in unzähligen Zeichnungen festgehalten.

Als junger Ehemann besaß Wilhelm noch eine ansehnliche Zahl solcher kolorierter Pergamentblätter, die sein Vater vom Schulleben, von seiner Familie und von der neben der Schule von ihnen betriebenen kleinen Landwirtschaft angefertigt hatte. Dabei war es auffallend, dass der Hersteller der Zeichnungen aus dem dörflichen Wirtschaftsleben natürlich nicht darauf zu sehen war, aber immer seine Frau bei den verschiedenen Feld- und Stallarbeiten.

Noch vor Ausbruch des Krieges starb Wilhelms Vater an einem Magenleiden. Wilhelm war erst zwölf Jahre alt und litt sehr unter dem Verlust. Er verdankte dem Vater viel, so auch die Liebe zur Fotografie. Die unter Anleitung des Vaters gebastelte Camera obscura bewahrte er bis zu seiner Verhaftung auf. Drei Jahre nach der Geburt ihres Sohnes bekamen Edda und Wilhelm eine kleine Tochter; sie nannten sie Sophie. Edda war nun mit ihrem Leben zufrieden. Sie hatte zwei gesunde Kinder, einen Mann, der sie liebte und den sie lieben wollte, und ein Haus in Dahlem, das sie nach ihren Vorstellungen ausstattete.

Wilhelm richtete sich in dem Haus ein Fotolabor ein, und wenn seine Pflichten als Familienvater und Lehrer es zuließen, entwickelte er dort Porträts von seiner Frau und den Kindern, aber auch Bilder vom stark wachsenden Berlin. Den Abriss mancher Altberliner Idylle und das Werden vieler technischer Bauten, die nach der Eingemeindung der Randstädte notwendig waren, hielt er in Bildern fest.

Edda zeigte Verständnis für das Steckenpferd ihres Mannes, ja sie war selber an allem interessiert, was das Wachsen der neuen Stadt Groß-Berlin ausmachte. Seit sie die Interessen ihres Mannes näher kannte, fand sie ihn mehr und mehr liebenswert. Sie konnte ja nicht ahnen, dass gerade sein Hobby ihm den frühen Tod durch den Henker bringen sowie ihr Leben und das ihrer Kinder völlig verändern sollte.

Sophie gestand Philipp, dass sie Schwierigkeiten in Chemie und Physik habe und bat ihn um Nachhilfe. Philipp musste an die spöttischen Bemerkungen von Christian denken und lehnte ab.

»Ich habe selber Schwierigkeiten; in Geschichte bin ich besonders schlecht.«

»Aber da kann ich doch helfen. Helfen wir uns zusammen.«

»Gegenseitig, sagt man, nicht zusammen«, verbesserte er. »Aber du verstehst mich falsch, nicht das Lernen fällt mir schwer, nur manchmal das Glauben.«

»Wie, das Glauben?«, fragte sie erstaunt. »Du musst nicht glauben, Geschichte ist doch eine Wissenschaft. Stalin hat schon 1938 in seiner Arbeit über den Historischen Materialismus geschrieben, dass es in der Gesellschaft sich verhält wie mit den Gesetzen in der Natur.«

»Schön, wenn es so einfach wäre!«

»Aber es ist so einfach! Stalin schreibt von dem Beispiel mit dem Wasser, das bei Temperaturerhöhung, wenn es kocht, sich plötzlich in Dampf verwandelt. Quantität schlägt um in eine neue Qualität. Und so ist es genau in der Gesellschaft. Im Kapitalismus wird das Proletariat immer stärker, und mit der Revolution kommt eine neue Gesellschaft, kommt der Sozialismus.«

»Ich glaube, dein Genosse Stalin hat genau wie du Schwierigkeiten in Physik. Das Beispiel ist so was von falsch!«

»Dann erklär mir, warum!«

So kam es, dass Philipp ihr doch noch Nachhilfe gab. Sophie meinte, dass er zu ihr aufs Zimmer kommen könne. Sie wohne bei einem älteren Ehepaar, Kommunisten und Bekannte ihrer Mutter aus der Zeit der illegalen Arbeit, die erlaubten das.

»Komm am Sonntag«, sagte sie. »Ich habe noch etwas Mehl und Salz, hat mir die Mutti geschenkt. Das Mehl röste ich, und daraus mache ich uns eine Suppe.«

Eine Suppe am Sonntag, das war Philipp einen Besuch wert. Er konnte schlecht haushalten und hatte sich angewöhnt, am Beginn einer Dekade die Lebensmittelmarken immer gleich auszugeben. Das bedeutete, dass er von der letzten Suppenausgabe in der VA am Freitag bis zur nächsten am Montag von Leitungswasser leben musste.

Am zweiten Sonntag gingen sie nach der Suppe zusammen ins Bett. Sophie lag auf dem Rücken und ließ es geschehen. Sie lächelte Philipp freundlich an, zeigte aber sonst keine Gefühle. Nach einiger Zeit unterbrach sie die Stille.

»Ich habe jetzt genug, wenn du aber willst, kannst du ruhig noch weitermachen.«

Philipp stieg ab und setzte auch den Nachhilfeunterricht nicht fort.

4

Der Winter wurde kalt. Um abends einschlafen zu können, wickelte Philipp sich das seitenstarke »Neue Deutschland« um die Füße. Gegen Mitternacht aber wurde er regelmäßig wach. Die Geräusche der tieffliegenden Luftbrückenmaschinen, die in Minutenabständen zur Landung in Tempelhof ansetzten, und die Wärme des Ofens unterbrachen seinen Schlaf. Er musste lernen, dass der große Kachelofen nach dem Anheizen Stunden zum Sammeln der Wärme brauchte, um diese dann viel später abzustrahlen. Die Wirtin bot sich an, gegen einen Mietaufpreis den Ofen schon vorher anzuheizen. Das aber konnte Philipp sich nicht leisten. Er musste mit dem Geld, aber auch mit seiner knappen Brikettzuteilung haushalten. Der Erfolg war am Abend ein kaltes und spät in der Nacht ein überheiztes Zimmer. Die Zeitung und das Federbett, zur Einschlafzeit sehr nötig, waren ab Mitternacht überflüssig.

Christian erzählte, dass er seit einigen Tagen seine Schularbeiten im Haus der Gesellschaft zum Studium der Kultur der Sowjetunion machte, und riet Philipp, den Ofen kalt zu lassen, die Briketts für das Wochenende zu sparen und auch dorthin zu kommen. Dieses Haus, nahe der Uni zwischen der Neuen Wache und dem Kastanienwäldchen gelegen, wurde von den Berlinern weiterhin Singakademie genannt. Dort gab es einen warmen Raum, in dem man sich aufhalten durfte.

Anfangs hatte Christian geglaubt, seine Schularbeiten während der Fahrt von und nach Potsdam machen zu können. Aber durch die vielen Menschen in der S-Bahn fand er nicht immer einen Sitzplatz und dann auch nicht die notwendige Konzentration. Zu Hause wollte er sich so wenig wie möglich aufhalten, um dem neuen Partner der Mutter aus dem Wege zu gehen. Wenn er von ihm sprach, redete er nur von dem Dicken und schimpfte auf ihn. Die Mutter müsse diesen Eindringling bedienen, als sei sie seine Angestellte. Schon am Morgen vor dem Aufstehen brächte sie ihm eine Flasche Wein und ein Glas ans Bett, schenke ihm so oft ein, bis er die Flasche geleert habe. Erst dann stände er auf, torkele mit glasigen Augen durch die Wohnung und nörgele an allem und jedem herum. Sicher, der Dicke habe selber den Wein bei den Russen geklaut, er sei also sein Eigentum, und er könne damit machen, was er wolle. Aber er lebe nun mal in dieser Familie, und was könne man alles eintauschen gegen den vielen Wein. Die Mutter schwiege zu alledem, bediene die Großmutter und den Dicken und ginge ihren Tauschgeschäften nach mit dem, was er sonst noch mitbrächte.

Maria Koscheks Vater, Oberst Albert von Sasse, war Berufssoldat und aus einer Familie, in welcher der Offiziersberuf Tradition hatte. Ihre Mutter, Edelgard von Kleist, stammte wie letztlich alle von Kleists aus einem pommerschen Adelsgeschlecht, das sich bis auf das 13. Jahrhundert zurückverfolgen ließ. Ihre direkten Vorfahren waren auch Soldaten. Stolz war sie aber auf einen früheren Vorfahren, Franz Alexander von Kleist, der im 18. Jahrhundert gelebt hat. Auch er war erst im Militärdienst, trat aber bald aus und brachte es als eine Art Modedichter in seiner Zeit zu einiger Berühmtheit. Edelgard besaß sein wohl bekanntestes Buch »Das Glück der Ehe«, an dem sie bis zum Hungertode ihres Mannes nach dem verlorenen Krieg ihren Ehealltag zu messen pflegte.

Die von Sasses hatten zwei Töchter und zum Kummer des Vaters keinen Sohn. Cäcilie, die ältere Tochter, brach früh die Schule ab, lernte einen Monteur kennen, der vorübergehend beim Brückenbau in Potsdam beschäftigt war, folgte ihm nach Essen und heiratete ihn gegen den Willen ihrer Eltern. Die Ehe war glücklich; sie bekamen vier Kinder. Cäcilies Mann war fleißig und brachte es in der Firma Krupp bis zum Meister. Oberst von Sasse aber sagte sich von seiner ältesten Tochter los und verbot seiner Frau, seiner zweiten Tochter Maria und auch dem Hausmädchen Trude, an der Cäcilie sehr hing, den Kontakt mit diesen Proleten.

Maria war in ihrer Jugend aufgeschlossen und lebenslustig. Schon als junges Mädchen war sie etwas füllig. Ihr zu einem Knoten gebundenes schwarzes Haar, die lebhaften Augen, ihr herausfordernder Blick und ihre kecken Bewegungen hatten etwas Provozierendes. Sie schaffte die Mädchenbildungsanstalt nur dank der Intervention des Vaters und besuchte anschließend die Hauswirtschaftsschule. Trotz mancher Schwierigkeiten in der Erziehung war diese Tochter doch der Liebling ihres Vaters und − wie er zu sagen pflegte − ersetzte ihm den fehlenden Sohn. Als der Oberst bemerkte, dass seine Tochter sich auffallend stark für das andere Geschlecht zu interessieren begann, nahmen er und seine Frau sie zu den Offiziersbällen mit. Er wollte nichts dem Zufall überlassen. Maria lernte auch eine stattliche Anzahl junger Reichswehroffiziere kennen, und weil sie sich leicht hingab, pflegte sie auch bald zu vielen intime Beziehungen. Immer aber, wenn die Liebhaber in Uniform merkten, dass die Eltern ihres Liebchens sie zu binden trachteten, suchten sie das Weite. So brachten die Ungeschicklichkeit der Eltern und die aufgeschlossene Art Marias ihr in Offizierskreisen bald den Ruf ein, sie sei eine Festung, die zu erobern wenig Ruhm bedeutete.

Schließlich traf Maria auf einem der Bälle im Offiziersclub einen polnischen Offizier, der von ihrem Ruf noch nichts wusste. Er hieß Roman Koschek, war Militärvizeattaché in der polnischen Botschaft in Berlin und trug, so fand Maria, die schönste Uniform von allen anwesenden Offizieren. Hochaufgeschossen, hielt er sich kerzengerade und war mit seinem kurzen, blonden Haar beinahe der ideale nordische Typ, wären da nicht seine linkischen Bewegungen und seine beim Gehen ein wenig zu sehr nach außen gestellten Füße gewesen.

An diesem Abend tanzte sie nur noch mit dem Polen. Bald wurden ihre Umarmungen enger. Maria ließ es geschehen, ermutigte ihn, indem sie ihren Busen und dann ihren ganzen Körper an seiner Uniform rieb. Vom Tanzen erhitzt, gingen sie in einer Pause in den Park, um sich abzukühlen. Sie schritten nebeneinander her, Roman erzählte von Polen und dass er vom Ministerpräsidenten Marschall Pilsudski persönlich für den Berliner Posten ausgewählt worden sei. Der Marschall habe ihm gesagt, dass er noch viel mit ihm vorhabe. Sie kamen tiefer in den Park. Das Mondlicht ließ die Epauletten und die Messingknöpfe an seiner Uniform aufblinken.

Viele seiner Mitschüler, erzählte Roman Koschek, hätten als Fremdsprache Französisch gelernt, er aber habe sich immer schon für Deutschland interessiert und die deutsche Sprache vorgezogen. Und jetzt sei er froh hier zu sein, in dem Land, von dem man so viel lernen könne.

Sie waren inzwischen stehen geblieben. Maria lehnte an einem Baum, und Roman stand vor ihr. Mit leicht geöffnetem Mund lauschte sie seinen Worten. Er berührte ihren Arm, ihre Schulter, presste mit beiden Händen ihren Busen und küsste sie. Dann versuchte er ihren Rock zu heben, stellte sich aber so ungeschickt dabei an, dass sie ihm helfen musste. Er ließ seine Hosen runter und liebte sie stehend. Maria wehrte sich nicht. Als er aber, erhitzt von der Liebe, seinen Rock öffnen wollte, protestierte sie.

»Bitte nicht, lass den Uniformrock geschlossen!«

Von dem Abend an trafen sie sich immer, wenn ihre Zeiten es erlaubten oder Maria einfach die Hauswirtschaftsschule schwänzte, an sonnigen Tagen im Grunewald, oder sie gingen in ein Hotel. Roman wollte, um möglichst unauffällig zu bleiben, in Zivil kommen. Maria aber bestand darauf, dass er seine Uniform anzog. So stieg an manchen Tagen mit Sonnenschein ein junger polnischer Offizier mit einem Diplomatenkoffer an der Station Grunewald aus der S-Bahn und strebte dem nächsten Waldweg zu. In dem Koffer führte er eine Wolldecke mit.

Als Maria schwanger wurde, waren die Verliebten zuerst ratlos, entschlossen sich aber dann, dass Maria es ihren Eltern sagen und mit ihnen beraten solle, was zu tun sei. Der erste Gedanke von Vater von Sasse war, einen befreundeten Arzt aufzusuchen und einen Eingriff vornehmen zu lassen. Ein Pole! Konnte es denn kein Deutscher sein? Da kannte sie nun so viele deutsche Offiziere, und ausgerechnet der erste Offizier einer slawischen Rasse, den sie kennen lernte, musste es sein. Dass diese Rasse der germanischen unterlegen war, daran gab es ja wohl keinen Zweifel. Sicher, in letzter Zeit hörte man auch Gutes über Polen. Der junge Mann sei ein Schützling von Marschall Pilsudski? Der Marschall hatte doch erst im letzten Jahr die ganze polnische Regierungsclique aus Zivilisten weggejagt und sorgte seitdem für Ordnung in dem Land. An so einem Soldaten konnten sich die Deutschen nun wirklich mal ein Beispiel nehmen.

Frau von Sasse hatte noch Bedenken wegen der Religion. Alle Polen waren katholisch und pilgerten ständig zur Muttergottes nach Tschenstochau, das wusste man doch. Ganz sicher war er auch katholisch. Und eine Mischehe, das würde bestimmt Probleme geben. Aber der Oberst zerstreute ihre Bedenken. Religion sei Weiberkram, da redete ein Offizier seiner Frau nicht rein, und im Übrigen: Jeder solle nach seiner Façon selig werden, das kenne sie doch. Dafür allerdings müsse die Frau ihrem Manne folgen, wohin immer sein Weg ihn auch führe. Und dass der junge Mann, wenn er Karriere machen wolle, nicht nur in Deutschland bleiben könne, das wäre nun mal so sicher wie Blüchers Sieg über Napoleon. Roman Koschek durfte seinen Antrittsbesuch machen. Er gefiel und gewann im Gespräch von Soldat zu Soldat mit jeder Minute hinzu. Dass er allerdings aus einer Familie von Kleinbauern stammte, fand der Oberst nicht sehr erfreulich, aber woher sollte er sonst wohl auch stammen, wenn er aus einem Land war, in dem es neben einigen anständigen Adligen nur Kleinbauern gab. Immerhin, da sah man doch wieder, wer das Soldatsein im Blut hatte, der setzte sich durch, auch wenn er aus einer niedrigen Schicht stammte. Die Schwangerschaft blieb. Sicher würde es ein Junge, und wenn der aus beiden Familien das Soldatische erbte, so konnte es nur gut gehen.

Nun drängte die Zeit. Vieles war zu bedenken und zu regeln. Papiere aus Polen mussten beschafft werden, die Zustimmungen der polnischen Botschaft und der deutschen Behörden waren nötig, was einige Zeit dauerte. Edelgard von Sasse mahnte immer wieder zur Eile, denn man sah inzwischen bei ihrer Tochter schon ein kleines Bäuchlein, und die Mutter wollte doch so gerne ihr Kind in Weiß heiraten sehen, besonders nach der Enttäuschung mit ihrer Ältesten.

Am Ende wurde alles gut. Es war eine Hochzeit nach dem Wunsch der Brautmutter: die Braut ganz in Weiß und der Bräutigam in seiner Gala-Uniform. Unter den Gästen überwogen die deutschen Offiziere, wenn auch die wenigen polnischen schon wegen der verbreiteten Unkenntnis über deren Uniformen bei den Damen mehr Aufmerksamkeit fanden. Nur Romans Eltern konnten nicht an der Hochzeitsfeier teilnehmen. Beide bedauerten das aufrichtig, aber sie seien krank, wie der Bräutigam sagte.

In der ersten Zeit wohnte das junge Paar mit Zustimmung der polnischen Botschaft im Hause der Brauteltern. Man wollte gemeinsam und in Ruhe eine standesgemäße Wohnung in der Nähe suchen. Dazu kam es aber nicht mehr. Roman erhielt noch in den Flitterwochen einen Befehl, sich umgehend bei dem Standortkommando in Krakau zu melden. Seinen Posten in der Berliner Botschaft erhielt ein anderer.

Maria und ihre Eltern waren sehr besorgt. Was war geschehen? Marschall Pilsudski war als Ministerpräsident zurückgetreten, blieb aber Kriegsminister und wollte mit Hilfe der Armee weiter Ordnung in Polen schaffen. Dafür brauchte er alle ihm ergebenen Offiziere vor Ort.

Roman nahm tränenreichen Abschied von seiner Frau und seinen Schwiegereltern. Sie wussten nicht, wie lange die Trennung dauern würde. Kaum aber hatte der frischgebackene Ehemann in Krakau seine Arbeit in der Kommandantur aufgenommen, besorgte er eine vorläufige Wohnung und ließ Maria nachkommen. Noch vor Wintereinbruch gebar sie einen gesunden Sohn; sie nannten ihn Christian.

Polen hatte einen neuen Bürger, bis seine Mutter − nun schon Witwe − unter deutscher Besatzung einen Antrag stellte, der da lautete: Antrag auf Wiedereindeutschung verloren gegangenen deutschen Blutes. Dem Antrag wurde stattgegeben.

5

Immer wenn eine spontane Demonstration der Berliner Bevölkerung benötigt wurde, bekam die VA den Auftrag dazu vom Ministerium für Volksbildung. Mit der Zeit wurde ein solcher Auftrag als willkommene Abwechslung und als Jux begrüßt. Der Unterricht fiel für eine Stunde aus, die Schüler hatten sich auf einem bestimmten Platz einzufinden, einer verteilte vorgefertigte Transparente mit Losungen, irgendwer stimmte eine Parole an, die Versammelten riefen die Parole im Chor nach und klatschten oder pfiffen je nach Aussage der Parole. Zeitungsleute und ein Filmteam machten Aufnahmen, und Minuten später war das Ganze vorbei. Wofür oder wogegen demonstriert wurde, erfuhren die Schüler meist erst am folgenden Tag aus der Zeitung oder aus der nächsten »Aktuelle Kamera« genannten Wochenschau.

Auf dem Hegelplatz hinter der Uni war eine Protestversammlung angekündigt, auf der ein Mitglied des Nationalkomitees Freies Deutschland sprechen sollte. Ein Heinrich Graf von Zweisiedel, ehemals Offizier der Deutschen Wehrmacht, war in Westdeutschland zu Besuch gewesen und dort vorübergehend verhaftet worden.

Eben freigelassen und zurückgekehrt in die sowjetische Zone, hielt er eine Rede gegen den westdeutschen Militarismus und über die Vorzüge des Sozialismus. Er stand auf einem Podest neben dem Hegel-Denkmal, und sein vor Zorn gerötetes schmales Gesicht, die aristokratisch hohe Stirn mit den hervortretenden Zornesadern wirkten feierlich neben dem wuchtigen Kopf des Philosophen Hegel.

Die die Bevölkerung spielenden Schüler klatschten Beifall oder pfiffen, je nachdem, ob der Graf von den Vorzügen des Lebens in Ostdeutschland oder von den Schikanen der westdeutschen Polizei sprach. Zwei Tage später war Graf Heinrich nach Westdeutschland geflohen.

Christian erzählte Philipp, dass Lichtweiß, ihr Lehrer für Gegenwartskunde, auch ein Mitglied des Nationalkomitees gewesen sei. Schlank, blond und blauäugig, mit leicht knarrender Stimme, verkörperte Lehrer Lichtweiß ganz den Typ des deutschen Offiziers.

Sie sprachen ihn im Unterricht auf seine Mitgliedschaft im Nationalkomitee an. Lichtweiß erzählte ihnen, wie er, ein glühender Nationalsozialist und Ausbildungsoffizier, in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war: Das Leben im Lager war langweilig, denn als deutscher Offizier musste man nicht wie die gewöhnlichen Soldaten irgendwelche Arbeit leisten. Die Sowjets boten ihnen Vorträge über Marxismus an. Zuerst ging Lichtweiß nur mal hin, um die Zeit auszufüllen, dann aber überzeugte ihn die wissenschaftliche Theorie des Sozialismus. Er nutzte die Zeit zum Studium und besuchte die Antifaschistische Schule. Nach der Kapitulation war er einer der Ersten, die aus der Gefangenschaft entlassen wurden. Er hielt im Auftrag der Sowjetischen Militäradministration in der Ostzone Vorträge und wurde mit der Eröffnung der VA Lehrer. Lichtweiß zeigte einige Tage später im Unterricht einen Film über den Aufstand im Warschauer Ghetto 1943. Es war ein Film aus polnischer Produktion, und er zeigte Szenen vom Leben im Ghetto, den Abtransport der Juden in die Vernichtungslager und den aussichtslosen Kampf der Verbliebenen bis zu ihrer Ermordung durch die Deutschen.

Philipp fand, dass der Film schlecht gemacht war. Die Darsteller der deutschen Offiziere sprachen wie Christian ein hartes Deutsch mit polnischem Akzent. Die Klasse war aber doch erschüttert über die Gewaltszenen gegen wehrlose Menschen und bangte mit den Widerstand leistenden Juden. In einer Szene sah man, wie deutsche Soldaten, nachdem sie schreckliche Verbrechen begangen hatten, in einen Hinterhalt gerieten: Sie liefen in einen Hof. Rundherum auf den Dächern waren die Widerstandskämpfer postiert. Auf ein Zeichen ihres Anführers schossen sie die Deutschen zusammen. Von einer Sekunde zur anderen lagen alle deutschen Soldaten tot in dem Hof. Einige Schüler applaudierten, auch Sophie. Philipp sah, dass auch Lichtweiß applaudierte.

Als der Film zu Ende war und das Licht im Klassenraum wieder anging, fragte Philipp den Lehrer.

»Warum haben Sie geklatscht?«

Der verstand nicht, und Philipp fragte erneut.

»Warum haben Sie geklatscht, als die deutschen Soldaten zusammengeschossen wurden?«

In der Klasse wurde es still.

Lichtweiß schwieg, er machte ein ernstes Gesicht.

»Ich verstehe Sie, aber die Szene war so befreiend. Ich musste einfach applaudieren.«

Philipp gab keine Ruhe.

»Sie waren Offizier, haben Rekruten ausgebildet, die anschließend an die Front geschickt wurden, und dann klatschen Sie, wenn diese zusammengeschossen werden!«

Plötzlich war die Stille in der Klasse vorbei und alle redeten durcheinander.

»Das waren doch Faschisten!«, rief Sophie.

»Es waren Menschen!«, meinte ein anderer.

Lichtweiß hob die Hände und bat um Ruhe.

»Sie haben Recht, ich durfte nicht applaudieren. Alle in der Klasse durften, ich durfte nicht.«

Dann wandte er sich direkt an Philipp.

»Vielleicht, Herr Siebert, bleiben Sie nach dem Unterricht noch einen Moment hier; ich möchte Sie gerne allein sprechen.«

»Da hast du den Salat, jetzt haut er dich in die Pfanne, du − du − du deutscher Held!«, zischte Christian.

»Nachzutragen bleibt noch«, sagte Lichtweiß zur Klasse, »dass vor Ausbruch des Aufstandes schon 300.000 Juden in die Vernichtungslager abtransportiert worden waren. Von den restlichen 60.000, die Widerstand leisteten, wurden in solchen Häuserkämpfen, wie wir sie eben gesehen haben, an die 50.000 getötet.«

Die Stunde war beendet, die Klasse leerte sich. Allein mit Philipp, berichtete Lehrer Lichtweiß aus seinem Leben: Als Kind sah er, wie sein Vater, ein Bäckermeister, jeden Morgen um drei Uhr früh aufstehen musste und wie schwer seine Mutter mitarbeitete und den Kunden nach dem Mund redete, damit sie mit ihrer kleinen Dorfbäckerei gerade mal so über die Runden kamen. An den Nachmittagen, wenn der Junge seinen Schulpflichten nachgekommen war und die Eltern gebraucht hätte, schlief sein Vater, und die Mutter durfte im Laden nicht gestört werden. So wurden ihm das Jungvolk und später die Hitlerjugend Ersatz für Familie und Elternhaus. Bei Ausbruch des Krieges war er siebzehn Jahre alt und durch die Erziehung in Oberschule und Hitlerjugend begeistert für die Ideale des Nationalsozialismus; sofort nach dem Abitur meldete er sich freiwillig. Er wollte in einer großen Zeit Großes leisten. Seine Karriere verlief folgerichtig. Bald war er einer der jüngsten Offiziere der Wehrmacht und verstand es, die ihm zur Ausbildung anvertrauten jungen Menschen für den Nationalsozialismus, für das Soldatentum und für den Krieg zu begeistern. Die Siege der Wehrmacht an allen Fronten waren ihm Lohn für seine Ausbildertätigkeit und bestätigten die Richtigkeit seiner Überzeugung, einer Herrenrasse anzugehören, die eine Mission in Europa zu erfüllen hatte.

Und dann begann der Krieg mit der Sowjetunion. Oberleutnant Lichtweiß gehörte vom ersten Tage an zu den Truppen des Mittelabschnitts, die weit in das ihm fremde Land eindrangen. Immer wenn ihn die Grausamkeiten des Krieges zweifeln ließen, erinnerte er sich an den Appell Hitlers zu Beginn des Feldzuges, besonders daran, dass der Führer die deutschen Soldaten aufgerufen hatte, nicht nur Deutschland, sondern die ganze europäische Kultur zu schützen.

Ernste Zweifel kamen ihm, als er mit seiner Kompanie nach einem durch Partisanen verübten Überfall auf ein Verpflegungsdepot der Wehrmacht an einer Vergeltungsaktion beteiligt war. Die Häuser eines ganzen Dorfes wurden angezündet. Als die Menschen die brennenden Häuser verlassen wollten, wurden sie niedergeschossen. Es waren alles Frauen, Kinder und alte Männer.

Zum Bruch mit seiner Weltanschauung von der Herrenrasse und dem Glauben, in diesem Krieg die europäische Kultur zu schützen, kam es dann, als die Kompanie des Oberleutnants Lichtweiß zu einem Sondereinsatz hinter der Front abkommandiert wurde. Sie hatten den Befehl, bei der Aktion einer Einsatzgruppe der SS für die Absperrung zu sorgen. Die Soldaten mussten großräumig eine Waldlichtung umstellen, auf der mehrere Gräben ausgehoben waren.

Ein Lastwagen kam angefahren und hielt am Rande der Lichtung. Männer und Frauen stiegen von der Ladefläche des Lastwagen, mussten sich ganz entkleiden und nackt am Rand eines Grabens aufstellen. Soldaten der Einsatzgruppe traten von hinten an die Menschen heran, erschossen sie und stießen sie in den Graben. Weitere Lastwagen kamen und brachten immer mehr Menschen, die alle, ohne zu reden, sich entkleideten, erschossen und in einen Graben gestoßen wurden.

Lichtweiß machte eine Pause in seinem Bericht, dann sagte er: »Beim nächsten Fronteinsatz bin ich zu den Russen übergelaufen. Jetzt bin ich überzeugter Antifaschist und bin hier. Meine Eltern sind inzwischen alt, mein Vater ist von Rheuma geplagt, arbeitet in einer Großbäckerei und muss immer noch um drei Uhr früh aufstehen.«

»Bist du ein Christ?«, fragte Sophie Philipp, als sie am nächsten Morgen die Straßenbahn verließen,

»Warum fragst du?«

»Weil doch die Christen ihre Feinde lieben sollen.«

»Blödsinn! Wieso sollte ich meine Feinde lieben?«

»Warum hast du dich dann gestern so für diese Faschisten eingesetzt?«

»Ich habe mich nicht für Faschisten eingesetzt. Ich bin nur dagegen, dass applaudiert wird, wenn Menschen getötet werden, besonders, wenn man daran beteiligt war, anderen Menschen das Töten beizubringen. Und am Christentum bewundere ich die Einfachheit des fünften Gebotes: Du sollst nicht töten. Punktum! Bin ich darum Christ? Die Zehn Gebote sind das Alte Testament. Vielleicht bin ich Jude? Oder sollte ich sagen Judist?«

»Jetzt weiß ich, du bist Pazifist.«

»Genau das meine ich. Du musst wohl alle Menschen einteilen: Faschisten, Marxisten, Christen, Pazifisten, das sind zu viele ›Isten‹.«

»Aber die Menschen gehören Klassen an und handeln nach der Ideologie ihrer Klasse. Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen, sagen Marx und Engels.«

»Das Leben ist ein ewiger Kampf, sagt Hitler«, entgegnete Philipp. »Kennst du übrigens das, was Lenin einmal in einem Gespräch dazu gesagt hat? Es ging um das Hören guter Musik. Lenin hat gesagt, allzu oft könne er solche Musik nicht hören, weil man danach den Menschen die Köpfe streicheln möchte. Man dürfe ihnen aber nicht die Köpfe streicheln, sonst werde einem die Hand abgebissen. Man müsse auf die Köpfe schlagen. Was muss ein Mann, der so etwas sagte, für ein Menschenbild gehabt haben!«

»Sein älterer Bruder wurde im Zarenreich hingerichtet. Da war Lenin erst siebzehn«, entgegnete Sophie.

Sie näherten sich der Spreebrücke. Plötzlich sahen sie, wie ein Mensch, im Wasser liegend, unter der Brücke hervorkam.

»Da, ein Toter, ein Toter im Wasser!«, rief Sophie.

Ein Mann, der ihnen auf der Brücke entgegenkam, nahm eine am Geländer befestigte Stange mit einem Haken an der Spitze, lief die Böschung hinunter und angelte die Leiche, indem er mit dem Haken der Stange die Kleidung fasste.

»Polizei, einer muss die Polizei holen!«, rief der Mann.

Philipp rannte zur nächsten Kreuzung und kam mit einem Polizisten zurück. Inzwischen standen einige Zuschauer auf der Brücke.

»Was ist es denn?«, fragte der Polizist.

Der Mann zog an der Stange und hob kurz die Leiche mit dem Oberkörper aus dem Wasser. Es war ein Mann um die dreißig; er hatte noch eine Brille auf der Nase und schien über den Brillenrand hinweg die auf der Böschung Stehenden anzublinzeln.

»Komisch«, sagte der Polizist, »in letzter Zeit sind es fast nur junge Männer, die in die Spree gehen.«

»Lass uns weitergehen«, drängte Sophie.

Der Unterricht hatte längst begonnen. In der ersten Stunde hatten sie Geographie. Köhler bekam immer die erste Stunde, so konnten die anderen Dozenten ausschlafen, die Schüler während dieser Stunde allmählich eintrudeln, um zur folgenden Stunde pünktlich zu sein.

Als die beiden die Tür öffneten, stand Lehrer Köhler, auf seinem Zeigestock gestützt, vor einer Karte der Sowjetunion. Durch seine Brille mit runden, dicken Brillengläsern sah er sie streng an, nahm wie bei allen Störungen durch Zuspätkommende den Zeigestock wie eine Lanze unter den rechten Arm, zielte auf die Störer, watschelte mit seinen Plattfüßen auf sie zu und blieb kurz vor ihnen stehen.

»Bumm! Erschossen! Hinsetzen!«

Sie setzten sich.

»Na«, fragte Christian, »hat der Lichtweiß dir gestern noch den Marsch geblasen? Warum musstest du dich auch einmischen!«

»Ich verstehe dich nicht, du hast doch auch nicht geklatscht.«

»Ja, aber nur, weil es mir egal war.«

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