Kitabı oku: «Geheilt statt behandelt», sayfa 2
Alle sind zufrieden
Die Ursachen hierfür sind vielfältig und obwohl sich alle Beteiligten im System, wie Ärzte, Krankenkassen, Patienten, Arzneimittelhersteller und so weiter, mit dieser Situation irgendwie eingerichtet haben, auch finanziell, würde ich keinem unterstellen, sie täten dies aus kommerziellem Interesse. Wir können es gegenwärtig in der Medizin einfach nicht besser.
Nicht nur bei meinem Lieblingsbeispiel (weil es so häufig und grotesk ist) Bluthochdruck, bei fast allen, insbesondere chronischen Erkrankungen ist die Ursache unklar. Mit Ursache ist der genaue molekulare Mechanismus gemeint, der die Symptome verursacht. Mit molekularem Mechanismus meint man das genaue Wissen, welche Moleküle, Botenstoffe, Hormone oder Signalwege in unserem Körper verändert sind, sodass die Symptome entstehen, aber auch die langfristigen ernsten Konsequenzen, wie zum Beispiel ein Herzinfarkt oder Schlaganfall. Es macht eben einen gewaltigen Unterschied, ob ich auf Symptome oder Ursachen schaue. Behandele ich lediglich Symptome und nicht die Ursachen, werden die Symptome immer wieder auftreten und müssen immer wieder behandelt werden. Nur wenn ich die Ursache gefunden habe, besteht eine prinzipielle Hoffnung auf Heilung. Da dies aber bei den meisten Krankheiten nicht der Fall ist, wird man als Patient eben als chronisch krank definiert, die Symptome treten immer wieder auf und müssen ständig unterdrückt werden.
Zumeist geschieht die Symptombehandlung mit Arzneimitteln. Circa 70 Prozent aller ärztlichen Maßnahmen beinhalten die Verschreibung eines Arzneimittels. Was jeweils Stand der Wissenschaft ist oder innerhalb eines Landes oder Gesundheitssystems als solcher angesehen wird, wird in sogenannten Behandlungsleitlinien festgehalten. Im Idealfall basieren diese auf soliden wissenschaftlichen Erkenntnissen, oftmals aber auch nur auf Expertenmeinungen. Wie diese durchaus fundamental divergieren können, haben wir in der Corona-Pandemie erlebt.
Wichtig für das System ist, dass leitliniengerechte Behandlung von den Krankenkassen erstattet wird. So sind alle zufrieden: Sie als Patient denken – zumindest bis Sie den ersten Teil meines Buches zu Ende gelesen haben –, Sie seien gut behandelt. Sie sind halt Chroniker. Der Arzt hat mit Ihnen einen regelmäßig erscheinenden Patienten, der jedes Quartal seine Versichertenkarte einlesen lässt, da Sie ja ein neues Rezept brauchen – offiziell natürlich nur nach einem mit der Krankenkasse abrechenbaren persönlichen Gespräch mit dem behandelnden Arzt und nicht etwa nur mit der Sprechstundenhilfe vorne am Empfang. Auch die Apotheke ist zufrieden: ein Rezept und vielleicht noch ein Zusatzverkauf jedes Quartal (ein Anreiz, kritisch zu beraten, besteht ja nicht, da Apotheker nicht ihre Arzneimittelberatung, sondern ausschließlich ihre Kosten nach abgegebenen Arzneimitteln erstattet bekommen). Die Pharmaindustrie ist auch zufrieden und das Krankenhaus auch, da die Symptome gelegentlich ernster werden und ein Krankenhausaufenthalt erforderlich ist.
Abb. 2: Die Entstehung einer chronischen Erkrankung. Unten die Zeitachse, links die Verschlimmerung der Symptome oder Krankheit. Lange Zeit passiert nichts; Sie wissen gar nicht, dass eine Krankheit in Ihnen brodelt. Deren Ursachen sind auch unklar. Dann treten plötzlich Symptome auf, die einer Behandlung bedürfen. Die Ursache ist aber noch immer unklar. Also können nur Ihre Symptome immer wieder durch regelmäßige Einnahme von Tabletten behoben werden. Die eigentliche Ursache der Erkrankung brodelt aber weiter in Ihnen und ob Sie irgendwann dadurch eine schwere Komplikation erleiden oder früher sterben werden, bleibt zeitlebens ungewiss.
Alles läuft Hand in Hand. Nicht perfekt, aber alle Beteiligten haben sich irgendwie eingerichtet. Doch wo ist der Haken in diesem Krankheitssystem? Er liegt darin, dass der Ausgang, was die für den Patienten relevanten Konsequenzen betrifft, komplett ungewiss ist. Denn die Behandlung der Symptome ist oft nicht das, was den Patienten wirklich interessiert, sondern es sind die Langzeitkonsequenzen: Blutdruck tut nicht weh, sondern der damit assoziierte plötzliche Herztod oder die Hirnblutung; auch der erhöhte Cholesterinwert im Blut tut nicht weh, sondern der damit assoziierte Herzinfarkt oder der Schlaganfall; nicht die gelegentliche Atemnot, sondern das tödliche Herzversagen; auch die erhöhten Zuckerspiegel machen dem Diabetiker lange Zeit nichts aus, wichtiger ist die Frage, ob er vor Nierenversagen, Nervenschäden und Erblindung geschützt ist. All dies kann dem Patienten kein Arzt versprechen. Der Ausgang ist und bleibt ungewiss. Aber bitte nächstes Quartal wiederkommen wegen des Rezepts. Können Sie denn wenigstens davon ausgehen, dass Sie zumindest einen kleinen Vorteil von dem Arzneimittel haben, das Sie einnehmen? Nein, im Gegenteil. Sie können davon ausgehen, dass Sie keinen Vorteil davon haben werden …
KAPITEL 2
IHR ARZNEIMITTEL WIRKT (WAHRSCHEINLICH) NICHT
Klarer Fall: Wenn Sie ein Medikament verschrieben bekommen und es einnehmen, tun Sie das in der Hoffnung, dass es wirkt. Warum sollten Sie es sonst nehmen? Aber leider ist diese Hoffnung in viel zu vielen Fällen trügerisch. Denn jeden Tag nehmen Millionen von Menschen Medikamente ein, die ihnen nicht helfen werden.
Wie ich darauf komme? Nun, alle klinischen Studien zu den zehn in den USA im Jahr 2015 meistverkauften Medikamenten belegen, dass diese nur einem von vier oder gar nur einem von 25 Patienten, die sie einnehmen, helfen. Das heißt im Umkehrschluss: Drei von vier beziehungsweise 24 von 25 Patienten haben keinerlei Vorteil von dem Medikament!
Bei einigen Medikamenten, wie zum Beispiel den im vorigen Kapitel schon erwähnten, routinemäßig zur Senkung des Cholesterinspiegels eingesetzten Cholesterinsenkern, den sogenannten Statinen, profitiert sogar nur einer von 50 Patienten.2 Es gibt überdies Medikamente, die aufgrund der Tatsache, dass die meisten Studien an weißen westlichen Patienten getestet werden, für bestimmte ethnische Gruppen schädlich sind. Ein Beispiel sind lang wirksame Arzneimittel, die die Atemwege erweitern, die bei Afroamerikanern zu lebensgefährlichen Nebenwirkungen und Todesfällen führen können.3
Abb. 3: Von den hier beispielhaft gezeigten Arzneimitteln, die 2015 den höchsten Umsatz hatten, haben nur die schwarz dargestellten Patienten einen Vorteil. Die weiß dargestellten bekommen diese Arzneimittel zwar auch nach allen Therapierichtlinien verschrieben, wir wissen aber von allen klinischen Studien, dass sie keinen Vorteil von ihnen haben werden, sondern im ungünstigen Fall sogar nur die unerwünschten Nebenwirkungen erleiden. Dies sind keine Sonderfälle, sondern es ist eher die Regel und lässt sich prinzipiell auf fast alle Arzneimittel übertragen. Es gibt gegenwärtig kaum Möglichkeiten, die beiden Patientengruppen vor Therapiebeginn zu differenzieren.1
Ein Grund für diesen Mangel an Präzision in der Arzneimitteltherapie ist wieder der Unterschied zwischen Symptom und Ursache. In den meisten Zulassungsstudien für Arzneimittel wird eine Handvoll Messungen an wenigen Tausend Patienten durchgeführt. Wichtig ist dann nicht, ob jeder Patient einen Vorteil hatte, sondern lediglich, ob bei einem Vergleich der behandelten und der unbehandelten Gruppe ein statistisch signifikanter Vorteil zu messen war. Die meisten Medikamente sind allerdings nur bei einer kleinen Fraktion der Patienten wirksam. Um diese erreichen zu können, setzen wir die andere, viel größere Fraktion unnötigerweise Nebenwirkungen aus, ohne dass ein Nutzen damit verbunden ist. Tabelle 1 zeigt als Beispiel sechs klinische Arzneimittelstudien, die als Meilensteine der Herz-Kreislauf-Medizin gelten und aufgrund deren neue Medikamente wie der Cholesterinsenker Simvastatin, das Blutdruckmittel Ramipril und – vereinfacht ausgedrückt – Blutverdünner wie Aspirin, verschiedene Thrombolytika, Abciximab und Clopidogrel in wichtige therapeutische Leitlinien aufgenommen wurden.
Es wird Sie überraschen, dass diese Arzneistoffe trotzdem, obwohl nur 1,9 bis 9 Prozent der Patienten einen Vorteil von ihrer Medikation hatten und dementsprechend 91 bis 98,1 Prozent keinen Vorteil beziehungsweise lediglich ein Risiko für unerwünschte Nebenwirkungen, in alle wesentlichen Leitlinien zur Behandlung von Herz-Kreislauf-Erkrankungen aufgenommen wurden. Sie könnten sich sagen: Das sind doch schlechte Ergebnisse und deswegen hätten diese Arzneimittel gar nicht zugelassen werden oder auf den Markt kommen dürfen. Leider sind dies aber im Vergleich zu vielen anderen Arzneistoffen und deren Präzision sogar noch recht gute Daten! Besser geht es im Moment nicht und unbehandelt kann man diese Patienten auch nicht lassen, sonst würden wir ja noch nicht einmal die 1,9 bis 9 Prozent der Patienten schützen, bei denen das Arzneimittel helfen kann, oft lebensrettend. Das ist eben der Nachteil, wenn man Symptome behandelt (Cholesterol, Blutdruck), aber eigentlich patientenrelevantere Ziele verfolgen sollte (nämlich, Herzinfarkt, Schlaganfall oder Tod zu verhindern).
Tab. 1: Arzneimitteltherapien, die aufgrund einer klinischen Studie in der angegebenen Indikation als ausreichend wirksam beurteilt wurden, und, im Vergleich dazu, der Prozentsatz der Patienten, die von dieser Behandlung einen oder keinen Vorteil hatten.4
Einen Wermutstropfen gibt es allerdings, denn wirklich übertragbar auf Sie als Patient sind diese Erfolgsraten dann wahrscheinlich doch leider nicht. In derartigen Studien werden nämlich die teilnehmenden Patienten handverlesen, damit die Studie auch ja positiv wird; mit Ihnen haben diese Patienten möglicherweise wenig zu tun – zum Beispiel eher mittleres Alter, sonst keine weiteren Beschwerden und so weiter. Außerdem werden Patienten in Studien sehr genau daraufhin überwacht, ob sie ihre Arzneimittel auch regelmäßig und in der richtigen Menge eingenommen haben. In der Realität ist das ja leider anders. Schon mir fällt es schwer, wenn ich mal ein Antibiotikum für ein paar Tage einnehmen muss, mich jeden Morgen und Abend daran zu erinnern. Gerade ältere Patienten bekommen aber in der Realität oft vier und mehr Medikamente aufgeschrieben. Da vergisst man mal leicht eines oder die Gewissenhaftigkeit (die sogenannte Compliance) lässt nach und das Medikament wird über weite Strecken gar nicht mehr oder doppelt eingenommen.
Ein typisches Beispiel für schlechte Patienten-Compliance sind die zur Blutdrucksenkung eingesetzten Betablocker. Eine ihrer Nebenwirkungen ist, dass sie paradoxerweise die Blutgefäße an Händen, Füßen, aber bei Männern auch im Penis verengen. Eine Konsequenz sind daher Potenzprobleme, weswegen die Patienten dann gern einmal oder auch längere Zeit den Betablocker weggelassen. Kurz vor dem nächsten Arztbesuch werden sie natürlich wieder eingenommen. Der Blutdruck ist dann normal und alle sind zufrieden. Jetzt könnten Sie denken: Egal, die Chance, dass der Betablocker dem Patienten hilft, ist doch nach meinen Erläuterungen ohnehin klein. Sie ist klein, das stimmt, aber dieser Patient könnte genau der eine „Glückliche“ sein, dem der Betablocker das Leben rettet, und an all den Tagen, an denen er ihn nicht eingenommen hat, entfällt diese – wenn auch kleine – Chance, dass der Betablocker einen Herzinfarkt oder Schlaganfall verhindert (siehe die folgende Seite zur Number Needed to Treat).
Zum anderen werden in großen Studien, bei denen es, nachdem viele Millionen Euro in die Entwicklung investiert wurden, letztlich um die Zulassung geht, die Patientengruppen so zusammengestellt, dass die Wahrscheinlichkeit eines positiven Effekts möglichst hoch ist. Das kann heißen, Patienten mit hohem Risiko oder schweren Symptomen auszuwählen, nicht zu alt, aber auch nicht zu jung und mit möglichst wenigen zusätzlichen Erkrankungen. Nach der Zulassung in der alltäglichen ärztlichen Praxis werden dann natürlich auch Patienten mit leichteren Symptomen oder niedrigerem Risiko, auch ältere Patienten als in der Studie und auch solche mit weiteren Erkrankungen behandelt. Dies hat dann bei solchen sogenannten „Real World“-Patienten zur Konsequenz, dass die Wirkung noch geringer beziehungsweise die Nebenwirkungen stärker sind als in der ursprünglichen Zulassungsstudie. Bei einigen Medikamenten wie Statinen, die routinemäßig zur Senkung des Cholesterinspiegels eingesetzt werden, kann es dann sein, dass unter den normalen Patienten nur noch einer von 50 davon profitiert; bei Bluthochdruckmitteln nur noch einer von 100. Zur Erinnerung: Dies bedeutet für 49 beziehungsweise 99 Patienten, dass es für sie in dem Beispiel keinen Unterschied macht, ob sie ihre Arzneimittel nehmen oder nicht, sie werden keinen Vorteil haben, eher Nachteile.
Da wir gegenwärtig in der Medizin keine Möglichkeit haben, diese beiden Patientengruppen – die, die einen Vorteil haben, und die vielen anderen, die keinen Vorteil haben werden – auseinanderzuhalten und daher alle therapieren müssen, sollten Sie all diese Beispiele gegenwärtig bitte nicht (!) zum Anlass nehmen, auch nur eines Ihrer Medikamente abzusetzen. Sie wissen ja nicht, zu welcher Gruppe Sie gehören; vielleicht genau zu der, denen das Medikament das Leben rettet, das heißt zum Beispiel einen schweren Herzinfarkt oder Schlaganfall verhindert. Wir wissen es einfach nicht und Ihr Arzt auch nicht. Es ist also nicht ein Fehler Ihres Arztes, Ihnen dieses Medikament zu verschreiben. Es gibt gegenwärtig keine bessere Alternative. Es ist wahrscheinlich noch nicht einmal ein Fehler Ihres Arztes, Sie nicht über die mangelnde Präzision Ihres Arzneimittels und die geringe Wahrscheinlichkeit, dass Sie davon profitieren werden, aufzuklären. Würde er das bei allen Patienten machen, würde wahrscheinlich bald gar kein Patient mehr seine Medikation nehmen, auch diejenigen, deren Leben er damit hätte retten können. Wenn die möglichen Nebenwirkungen also nicht allzu ernst sind, nimmt man dieses Risiko eben in Kauf. Man muss es in Kauf nehmen.
Sie könnten sich jetzt denken, dass das ja fast nach einem Skandal klingt. Habe ich mir hier als Autor ein paar extreme Arzneimittelbeispiele herausgesucht, um zu dramatisieren und meinen Punkt zu machen? Wirken viele der anderen Arzneimittel nicht doch bei den meisten Patienten? Nein, lassen Sie uns dazu noch etwas tiefer in die Zahlen eintauchen (nicht zu tief, keine Angst, ich bin kein Freund von Mathematik, aber es ist wichtig und erhellend), und zwar in den Begriff der „Number Needed to Treat“ …
Die Number Needed to Treat
Es gibt einen Weg, um zu verstehen, wie viel die aktuelle Medizin dem einzelnen Patienten zu bieten hat. Es handelt sich um ein einfaches statistisches Konzept, das „Number Needed to Treat“ oder kurz „NNT“ genannt wird, auf Deutsch: die Patientenanzahl, die behandelt werden muss, damit ein Patient einen Vorteil hat. Die NNT misst die Wirkung eines Medikaments oder einer anderen Therapie, wie zum Beispiel einer Operation, indem sie die Anzahl der Patienten schätzt, die behandelt werden müssen, um eine positive, gewünschte Wirkung für eine einzige Person zu erzielen, zum Beispiel ein Krankheitsrisiko wie Herzinfarkt oder Schlaganfall zu senken beziehungsweise zu eliminieren. Das Konzept ist zwar etwas trockene Statistik, aber doch einleuchtend, denn wir wissen ja inzwischen, dass nicht allen Menschen durch ein Medikament oder eine Intervention geholfen wird – manche profitieren, manche werden geschädigt und manche bleiben unbeeinflusst.
Die NNT lässt sich aus jeder klinischen Studie mit einem Arzneimittel oder einer anderen Intervention wie einer Operation et cetera berechnen. Da die meisten Medikamente und Interventionen irgendwann einmal in einer klinischen Studie untersucht worden sind, können wir eine NNT für viele (wenn nicht sogar für die meisten) der ärztlichen Behandlungen abschätzen. Das bedeutet, dass Ärzte und ihre Patienten die Wahrscheinlichkeit, dass einem Patienten durch ein bestimmtes Medikament oder Verfahren geholfen oder Schaden zugefügt wird, leicht bestimmen können. Für jedes Ihrer Arzneimittel und die dazugehörige Anwendung können Sie die NNT recherchieren: auf der Internetseite des NNT-Teams.5 Diese seit 2010 bestehenden Gruppe von Ärzten, geleitet von dem Notfallmediziner Prof. Shahriar Zehtabchi, hat ein einzigartiges System entwickelt, um entweder Therapien (auf der Grundlage ihres patientenrelevanten Nutzens beziehungsweise Schadens) oder Diagnostik (anhand von Symptomen, Labortests oder klinischen Studien) für jedermann nachvollziehbar sehr einfach zu bewerten, wenn auch auf Englisch.
Neben der NNT lässt sich übrigens noch eine zweite, auch nicht unwichtige Zahl berechnen, nämlich die „Number Needed to Harm“ (NNH), auf Deutsch: die Zahl an Patienten, die behandelt werden muss, damit ein Patient eine relevante, schwere Nebenwirkung zeigt, für die die Behandlung verantwortlich ist. Eigentlich muss man diese Zahlen vergleichen, um eine Nutzen-Schaden-Bilanz zu erstellen.
Das NNT-Team verwendet nur die qualitativ hochwertigsten, evidenzbasierten Studien6 und akzeptiert weder Drittmittel noch Werbung. Man kann dort zum Beispiel nach den Cholesterinsenkern (Statinen) suchen und findet dann verschiedene Optionen (Tabelle 2): zur Herz-Kreislauf-Prävention mit oder ohne vorbestehendem Risiko, bei bekannter Herzkrankheit oder bei akuter Angina Pectoris beziehungsweise Herzinfarkt. Betrachten wir den häufigsten Fall: Ohne dass ein Patient schon einmal eine vorherige Herzerkrankung hatte, wird aufgrund seines allgemeinen Risikos und von erhöhten Cholesterinwerten im Blut ein Statin verschrieben, und zwar zur Prävention von schweren Herz-Kreislauf-Krankheiten, also einer Herzattacke oder eines Schlaganfalls oder sogar des Todes.
Es überrascht, dass kein einziges Leben gerettet wird und nur zwei schwere Ereignisse wie ein Herzinfarkt oder ein Schlaganfall verhindert werden, wofür aber insgesamt 258 Patienten behandelt werden mussten. Einschränkend muss man zu diesen Zahlen sagen, dass es umstritten ist, ob die Sterblichkeit durch Statine in dieser Gruppe von Patienten reduziert wird. Das NNT-Team glaubt nicht, dass dies so ist, ist sich aber bewusst, dass andere die vorliegenden Daten anders interpretieren.
Es fällt auf, dass der Schaden, der von Statinen verursacht werden kann, weniger publik gemacht wird als der überschaubare Nutzen. Am häufigsten tritt bei der Behandlung mit Statinen ein schwerer Muskelschmerz beziehungsweise Muskelschaden auf, eine Nebenwirkung, die sich noch relativ gut bemerken und den Statinen zuordnen lässt. Die hier aufgeführte Häufigkeit von 1:10, also zehn Prozent, ist eher eine relativ konservative Schätzung für diese Nebenwirkung.8 Diese ist aber möglicherweise der Hauptgrund, warum Patienten Statine so häufig eigenmächtig absetzen oder zumindest unregelmäßig einnehmen.9
Tab. 2: Vorteile (Number Needed to Treat, NNT) und Schäden (Number Needed to Harm, NNH) einer Therapie mit cholesterinsenkenden Statinen zur Vorbeugung von Herzkrankheiten bei Patienten ohne vorherige Herzerkrankung.7
Eine weitere, besorgniserregende Nebenwirkung ist ein durch Statine neu aufgetretener Diabetes mellitus.10 Das Risiko von 1:50 ist dabei eher konservativ geschätzt. Da zehn Prozent aller Deutschen inzwischen bereits Diabetiker sind, besteht bei diesen Patienten das Risiko, einen bestehenden Diabetes noch weiter zu verschlechtern, wodurch die Patienten unfähig werden, ihren Diabetes mithilfe von Lebensstiländerungen jemals in den Griff zu bekommen oder heilen zu können. Da solche Patienten in der Regel von Statin-Studien ausgeschlossen sind, kann man dieses Risiko nur schätzen. Auch sind die Quellen der überwiegenden Mehrheit dieser Daten industriegesponserte und -finanzierte Studien, was darauf hindeutet, dass die obigen Zahlen (1:50-Risiko) eher ein Best-Case-Szenario darstellen.
Sind Statine also eine geeignete Wahl für die Verhinderung eines Herzinfarkts oder Schlaganfalls? Zumindest verdeutlicht dieses Beispiel, dass man bei dem Symptom „erhöhtes Cholesterin“ nicht unbedingt reflexhaft ein Statin einnehmen muss. Das sollte gemeinsam mit einem oder mehreren Ärzten sorgfältig überdacht werden – natürlich auch vor allem mit Blick auf individuelle Präferenzen des Patienten. Im besten Fall ist ja durchaus ein Nutzen der Statine gegeben, der mögliche Schaden wird aber leicht unterschätzt. Die Alternative einer Lebensstiländerung wie zum Beispiel einer mehr oder rein pflanzlichen Ernährung ist wesentlich wirksamer als Statin-Medikamente, um kardiovaskuläre Vorteile zu erzielen, und das, ohne potenzielle Schäden zu verursachen.
Es gibt aber einen weiteren Trick, um diesen inzwischen mehr und mehr publik gewordenen Nachteil aus dem Fokus zu nehmen und die Risikoverminderung durch ein Arzneimittel marketingtechnisch schönzurechnen. Und ich denke, dass auch so mancher Arzt darauf schon reingefallen ist. Leider müssen wir dazu noch etwas mehr in die Trickkiste der Mathematik greifen. Folgen Sie mir, es lohnt sich.