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Absolutes und relatives Risiko

Mit einer Arzneitherapie will ich oft nicht nur ein Symptom beseitigen, sondern ein damit assoziiertes Risiko langfristig senken. Nun gibt es zwei Arten, wie man dieses Risiko darstellen kann: absolut und relativ.

Bei kontrollierten klinischen Studien medizinischer Interventionen (Medikamente, Operationen und so weiter) gibt es immer einen möglichst patientenrelevanten Endpunkt, das heißt, dass gemessen werden kann, ob die Intervention im Vergleich zur Standardtherapie besser war oder nicht. Im dramatischsten Fall kann das sein: weniger Todesfälle oder – wie in der Abbildung 4 – keinen Herzinfarkt oder keinen Schlaganfall zu erleiden.

In den Informationen, die gern auch von der pharmazeutischen Industrie verwendet werden, wird oft ein anderer Wert berechnet und kommuniziert, der weitaus beeindruckendere Zahlen hergibt: die Relative Risiko-Reduktion (RRR). In Abbildung 4 habe ich die Zahlen ein wenig vereinfacht, um sie leichter umrechnen zu können. Gehen wir von einer NNT von 1:50 für das Vermeiden eines Todesfalls aus. Das bedeutet in Prozent, dass zwei Prozent aller behandelten Patienten tatsächlich einen Vorteil haben, weil sie nicht sterben. Nun sterben ja glücklicherweise die allerwenigsten Patienten im Laufe einer klinischen Studie. Nehmen wir einmal an, es sind – ohne Behandlung – von 100 Patienten normalerweise zehn, die sterben, und nun – mit Behandlung – zwei weniger, also nur acht, die noch sterben. Zwei Prozent ist dann die Absolute Risiko-Reduktion (ARR). Klingt nicht besonders beeindruckend, ist aber ehrlich und bezieht alle Patienten ein, die mit dem Medikament behandelt wurden. 98 Prozent der Patienten haben demnach keinen Vorteil: 90 Prozent wären sowieso nicht gestorben und acht Prozent sind trotz des Medikaments gestorben.

Nun lässt sich aber auch ein anderer Wert berechnen, der nicht grundsätzlich falsch ist, aber irreführend verwendet werden kann und oft so verwendet wird, die Relative Risiko-Reduktion (RRR). Hierzu schaut man sich nur die Todesfälle an und ignoriert alle anderen Patienten, die das Medikament auch noch, aber sinnloserweise genommen haben. Ohne Therapie sind demnach zehn gestorben, mit Therapie nur acht, also eine beeindruckender klingende 20-prozentige Reduktion dieses relativen – das heißt nur auf die Todesfälle bezogenen – Risikos (RRR). Nicht falsch, aber maximal geschönt.

Abb. 4: Relative (RRR) und Absolute Risiko-Reduktion (ARR) einer Therapie. 100 Patienten werden behandelt. Unbehandelt (weiße Balken) würden zehn sterben, behandelt (schwarze Balken) nur acht. Zwei von 100 (zwei Prozent) leben dank der Therapie weiter, haben also einen Vorteil. Das Absolute Risiko (ARR) wurde um zwei Prozent reduziert; die NNT ist 50. Acht sterben aber trotzdem; 90 hätten so oder so weitergelebt; macht zusammen 98 Prozent der Patienten, die keinen Vorteil haben. Schaut man sich jedoch nur die zehn Todesfälle an, wird diese Zahl durch die Behandlung um 20 Prozent von zehn auf acht relativ reduziert (RRR).

Das Problem mit dieser Art von Beschreibung ist, dass sie zwar mathematisch und semantisch korrekt, aber zutiefst irreführend ist. Das liegt daran, dass ja beide, Patient und Arzt, vor Beginn einer Behandlung nicht wissen können, ob einem Patienten durch die Behandlung geholfen, ob er geschädigt oder gar nicht beeinflusst wird. Wenn in einem Gespräch mit einem Patienten die RRR verwendet wird, um zu beschreiben, wie wahrscheinlich es ist, dass die Therapie Erfolg hat (das heißt, es reduziert in obigem Beispiel die Chance, zu sterben, um 20 Prozent), dann haben wir die viel größere Wahrscheinlichkeit (das heißt 98 Prozent, wie wir oben berechnet haben), dass ein Patient keinen Vorteil haben wird, ignoriert.

Personen oder Gruppen, die ein kommerzielles Gewinnmotiv haben, können so versuchen, einen Patienten in eine bestimmte Richtung zu beeinflussen. An dieser Stelle wäre die NNT am wertvollsten, nämlich als Instrument zur Standardisierung der Kommunikation. Die NNT verwendet nur die ARR. Wenn Patienten und Ärzte die NNT verwenden, gibt es keine Täuschung oder Übertreibung hinsichtlich der zu erwartenden Wirkung. Hat man einmal die Berechnung und das Konzept der NNT verstanden, ist sie leicht anzuwenden. Aber so offensichtlich sinnvoll, wie die NNT ist, so wenig wird sie leider im täglichen medizinischen Alltag benutzt. Viele Ärzte sind sogar überrascht, wie hoch die NNT für die von ihnen routinemäßig verschriebenen Arzneimittel ist – obwohl doch jeder Arzt klinische Studien richtig lesen und kritisch interpretieren können sollte.

Nun fehlt noch eine weitere Komplikation für all diese Überlegungen: der Wechsel von relativ künstlichen Studiendaten zu sogenannten Real-World-Daten, also Daten mit Relevanz für ganz normale Patienten wie Sie, nicht nur die, die für die Zulassungsstudie der Industrie handverlesen wurden. Diese Daten können naturgemäß erst nach der Zulassung in sogenannten Nachbeobachtungsstudien erhoben werden, wenn das neue Arzneimittel im täglichen Alltag eingesetzt wird, also bei „normalen“ Patienten und nicht bei denen, die für eine Zulassungsstudie der Industrie ausgewählt und hinsichtlich der Arzneimitteldosierung optimal eingestellt wurden. Unter diesen sogenannten „Real World“-Bedingungen können sich dann die Risikoreduktion (ARR) und die NNT noch deutlich verschlechtern, oft sogar so weit, dass ein neues Arzneimittel als „ohne jeglichen Nutzen gegenüber der vorher schon existierenden Standardtherapie“ nachbeurteilt und manchmal sogar, wenn zum Beispiel vorher nicht beobachtete Nebenwirkungen hinzukommen, wieder vom Markt genommen wird.

Dies droht insbesondere dann, wenn es schon eine wirksame Therapie (ein Arzneimittel oder eine Operation) gibt. Dann muss nämlich jede neue Therapie (neues Arzneimittel oder neue Operationstechnik) einen Zusatznutzen zu der bereits bestehenden aufzeigen, entweder eine stärkere erwünschte Wirkung oder deutlich weniger unerwünschte Nebenwirkungen. Bei unseren gegenwärtig so unpräzisen Krankheitsdefinitionen, deren Ursachen meist nicht bekannt sind, weswegen in der Regel nur Symptome behandelt werden, ist das sehr schwer zu erreichen. So müssen oftmals Tausende von Patienten in eine solche Studie eingeschlossen werden, um kleinste Prozentzahlen an absolutem (!) Zusatznutzen zu zeigen. Verfolgt man nach der Zulassung des Arzneimittels, ob dieser Nutzen auch bei normalen Patienten erhalten bleibt, kann es vorkommen, dass nichts mehr von dem Nutzen übrig bleibt. Manchmal überwiegt sogar der Schaden und das Arzneimittel muss wieder vom Markt genommen werden. Kommt das selten vor? Erstaunlicherweise nein. Es ist sogar eher die Regel …

Neue Arzneimittel meist ohne jeden Nutzen

Mit der Reform des Arzneimittelmarktgesetzes hat Deutschland 2011 die frühe Nutzenbewertung neuer Arzneimittel eingeführt. Ziel ist es, festzustellen, ob ein neues Arzneimittel einen Zusatznutzen gegenüber der Standardversorgung hat. Der Gemeinsame Bundesausschuss (GBA), das Hauptentscheidungsgremium in der gesetzlichen Krankenversicherung, ist für das Bewertungsverfahren zuständig und entscheidet letztlich über den Zusatznutzen. Er legt die Regelversorgung auf der Grundlage gesetzlich festgelegter Kriterien fest. Nach diesen Kriterien ist die Regelversorgung eine genehmigte und erstattete Maßnahme, für die ein Nutzen nach den Standards der evidenzbasierten Medizin (das heißt überwiegend auf der Grundlage von Studien mit patientenrelevanten Endpunkten) nachgewiesen ist.

Der Zusatznutzen eines neuen Medikaments wird in erster Linie durch einen direkten oder geeigneten indirekten Vergleich mit der Standardversorgung anhand der Endpunkte Sterblichkeit, Krankheitshäufigkeit oder gesundheitsbezogene Lebensqualität bestimmt. Der Nachweis erfordert einen statistisch signifikanten Nutzen für patientenrelevante Endpunkte in einer randomisierten (das heißt unter Verwendung eines Zufallsmechanismus besetzten) kontrollierten Studie oder einen sehr großen Nutzen in einer nicht randomisierten Studie.

Wenn ein neu zugelassenes Medikament auf den deutschen Markt kommt, muss die verantwortliche Arzneimittelfirma ein standardisiertes Dossier vorlegen, das alle verfügbaren Belege für den Zusatznutzen des Medikaments gegenüber der Standardversorgung enthält. Nach Markteintritt wird das unabhängige Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) mit der Nutzenbewertung beauftragt. Die Ergebnisse dieser Bewertung dienen als Grundlage für die endgültige Entscheidung, ob ein Zusatznutzen besteht. Dies und sämtliche Stellungnahmen sind auf der Website des Gemeinsamen Bundesausschusses verfügbar.11

Die Schlussfolgerungen zum Zusatznutzen haben zwei wichtige Funktionen. Erstens dienen sie als Grundlage für Preisverhandlungen zwischen dem Dachverband der gesetzlichen Krankenversicherung und dem Arzneimittelhersteller. Auch wenn der G-BA zu dem Schluss kommt, dass ein neues Arzneimittel keinen Zusatznutzen hat, darf das Arzneimittel auf dem Markt bleiben, darf dann aber nicht mehr als die Standardversorgung kosten. Zweitens können die Schlussfolgerungen für ärztliche Behandlungsleitlinien und individuelle Behandlungsentscheidungen verwendet werden.

2019 veröffentlichte das IQWiG eine Übersicht aller zwischen 2011 und 2017 bewerteten Arzneimittel, die nach der Zulassung auf den deutschen Markt kamen, insgesamt 152 neue Wirkstoffe und 64 bereits zugelassene Arzneimittel in einer neuen Indikation.12 Nur 54 der 216 bewerteten Medikamente (25 Prozent) wurden als Arzneimittel mit einem beträchtlichen oder großen Zusatznutzen eingestuft. Bei 35 (16 Prozent) war der Zusatznutzen entweder gering oder konnte nicht quantifiziert werden. Bei 125 Arzneimitteln (58 Prozent), also bei weit über der Hälfte, konnte kein Zusatznutzen gegenüber der Standardversorgung in Bezug auf Sterblichkeit, Krankheitshäufigkeit oder gesundheitsbezogene Lebensqualität in der zugelassenen Patientenpopulation nachgewiesen werden (Abbildung 5).

Abb. 5: Die Anteile neu zugelassener Arzneimittel, für die ein zusätzlicher Nutzen gegenüber der bisherigen Standardversorgung besteht (weiß), und solche, bei denen das nicht der Fall ist (schwarz). Insgesamt können also zwei Drittel aller neu zugelassenen Arzneimittel diesen Nachweis nicht erbringen, wobei einige Indikationen wie Psychiatrie / Neurologie und Diabetes besonders schlecht abschneiden.

Schlüsselt man diese Daten noch weiter hinsichtlich der verschiedenen medizinischen Fachgebiete auf, ist die Situation teilweise regelrecht erschreckend. So wurde zum Beispiel in der Psychiatrie/Neurologie und bei Diabetes in nur sechs Prozent (1/18) beziehungsweise 17 Prozent (1/6) der Bewertungen ein Zusatznutzen nachgewiesen (rechter Teil der Abbildung 5). Auch ist zu erkennen, dass die Entwicklung und Zulassung von Arzneimitteln nicht gleichmäßig über die verschiedenen Indikationen verteilt ist; es besteht eine große Neigung der pharmazeutischen Industrie, mehr Krebsmittel und weniger psychiatrische beziehungsweise neurologische Medikamente zu entwickeln. Viele Firmen habe sich aus den letzten beiden Indikationen nahezu zurückgezogen.

Diese Daten sind nicht nur für Deutschland relevant, denn nahezu alle diese Arzneimittel wurden von der Europäischen Arzneimittelagentur (European Medical Agency, EMA) für den Einsatz in ganz Europa zugelassen. Die Ergebnisse spiegeln daher den Stand der gesamten europäischen Arzneimittelentwicklung und -politik wider und verdeutlichen, dass die gesamten Prozesse bis zur Zulassung dringend reformiert werden müssen. Alle Arzneimittelbehörden verfolgen weltweit eine Strategie, die darauf abzielt, die Entwicklung und Zulassung von Medikamenten zu beschleunigen13, basierend auf der Annahme, ein schnellerer Zugang zu neuen Medikamenten käme den Patienten zugute. Die Rhetorik von Neuheit und Innovation erzeugt den Glauben, dass neue Arzneimittel immer besser seien als bestehende. Zwar gibt es zweifellos dramatische Lücken im Arzneimittelarsenal (siehe die beiden vorherigen Abschnitte „Die meisten Arzneimittel wirken nicht“ und „Die Number Needed to Treat“), aber seit den 1970er-Jahren bietet nur eine begrenzte Anzahl von unter 15 Prozent der neuen Medikamente echte Fortschritte gegenüber den vorhandenen Arzneimitteln und das ohne einen Trend zur Verbesserung. Arzneimittelbehörden wollten den frühen Zugang zu innovativen Medikamenten ermöglichen – oder wurden dazu gedrängt. Die Hoffnung war, das Manko nur begrenzter Informationen zum Zeitpunkt der beschleunigten behördlichen Zulassung dadurch auszugleichen, dass die nachfolgende breite Anwendung am Patienten und hierzu durchgeführte Forschung schließlich den Nutzen für die Patienten belegen würde.14

Die Realität sieht jedoch ganz anders aus. Beispielsweise zeigte eine systematische Bewertung der Krebsmedikamente, die zwischen 2009 und 2013 von der EMA zugelassen wurden, dass die meisten von ihnen ohne Nachweis eines klinisch sinnvollen Nutzens für patientenrelevante Endpunkte (Überleben und Lebensqualität) zugelassen worden waren und sich einige Jahre später diese Situation kaum verändert hatte.15 Noch beunruhigender ist vielleicht, dass eine systematische Überprüfung neuer Medikamente für über 100 Indikationen, die von der US-Arzneimittelbehörde FDA zugelassen wurden, ergab, dass in weniger als zehn16 beziehungsweise 20 Prozent17 der Fälle eine überlegene Wirksamkeit bestätigt wurde.

Zudem werden solche Post-Marketing-Studien, zu denen die Arzneimittelfirmen nach dem Inverkehrbringen eigentlich verpflichtet sind, häufig nicht durchgeführt und nur zur Hälfte rechtzeitig beziehungsweise innerhalb von fünf bis sechs Jahren abgeschlossen.18 In Deutschland wurde keine der sechs Nachzulassungsstudien, die auf der Grundlage der ersten Bewertung beantragt worden waren und zwischen 2011 und 2017 zur Neubewertung anstehen sollten, tatsächlich durchgeführt. Weltweit tun Aufsichtsbehörden wenig, um nicht kooperierende Unternehmen zu sanktionieren.

Pseudo-Innovation „Me too“

Selbst unter den Medikamenten mit einem Zusatznutzen gibt es viele Pseudo-Innovationen, sogenannte „Me too“-Präparate. „Me too“ heißt im Deutschen „Ich auch“. Hat eine Firma ein wirksames Arzneistoffprinzip entdeckt, ziehen andere Firmen nach und wollen auf Basis desselben Prinzips auch Arzneimittel auf den Markt bringen. Ähnlich wie in der Autoindustrie: Fängt eine Firma an, erfolgreich SUVs zu verkaufen, wollen das alle. Fängt ein anderer an, Mini-SUVs zu verkaufen, ziehen wieder alle nach. Innovation ist das nicht, zumindest würde sich kein Autobauer trauen, das zu behaupten.

So ergab die IQWiG-Analyse, dass in Deutschland 12 von 48 erfolgreichen Bewertungen (25 Prozent) in der Onkologie dasselbe Wirkprinzip hatten. Auch die verschiedenen Medikamente, die bei Hepatitis C einen Zusatznutzen zeigten, verwenden alle einen der drei gleichen Mechanismen oder kombinierten diese. Ein Medikament, das ähnlich ist, bedeutet zwar nicht automatisch, dass es das gleiche ist. Prinzipiell könnten unterschiedliche Nebenwirkungsprofile Behandlungen für solche Patienten ermöglichen, für die andere Arzneimittel mit demselben Wirkprinzip unverträglich sind. Dies wird aber bereits standardmäßig ohnehin durch das IQWiG als zusätzlicher Nutzen berücksichtigt.

Und auch die Zukunft verheißt nichts Gutes. Die Analysen der Entwicklungspipelines für Medikamente zeigen ein ähnliches Muster. Eine große Zahl laufender und geplanter Studien in der Onkologie untersucht Medikamente mit demselben Mechanismus.19 Aus Patientensicht ist dies in zweierlei Hinsicht bedenklich. Einerseits nehmen diese Patienten an Studien teil, von denen keine echte Verbesserung gegenüber der Standardtherapie zu erwarten ist, andererseits stehen sie anderen, möglicherweise wirklich innovativen Studien nicht zur Verfügung (zum Problem klinischer Forschung in Deutschland komme ich später noch). So wird Geld für überflüssige Entwicklungen verschwendet und versäumt, neue Ansätze mit anderen Wirkmechanismen zu entwickeln und testen. Der „Me too“-Trend ist eines der größten Hindernisse für ernsthafte therapeutische Fortschritte.20

Angesichts der derzeitigen Informationslücken ist es nicht möglich, Ärzten und vor allem Patienten unparteiische und vollständige Informationen darüber zur Verfügung zu stellen, was sie von einer bestimmten Behandlung zu erwarten haben, einschließlich Informationen über den Nutzen alternativer Behandlungen oder keiner Behandlung. Dadurch wird die Fähigkeit der Patienten, informierte Behandlungsentscheidungen im Einklang mit ihren Präferenzen zu treffen, beeinträchtigt. Letztlich führt das zu einer unethischen Situation für ein Gesundheitssystem wie das unsrige, das sich als patientenzentriert bezeichnet.21 Da die Arzneimittelentwicklung, -zulassung, -erstattung und -preisgestaltung stark reguliert sind, deutet der derzeitige Stand der Dinge letztlich auf ein Versagen der Gesundheitspolitik hin.

Oft wird als letztes Gegenargument noch behauptet, dass mehrere „Me too“-Arzneimittel auf dem Markt die Kosten nach unten treiben würden, da sich das Gesundheitssystem dann nicht mit einem Monopol und möglicherweise anhaltend hohen Preisen konfrontiert sehen würde. Leider erfüllt sich diese Hoffnung auf wettbewerbsbedingte Preissenkungen oft nicht.22 Und selbst wenn es einen wesentlichen Einfluss auf die Preisgestaltung gäbe, würde dies noch immer nicht die immense „Me too“-Entwicklung erfordern, wie dies gegenwärtig der Fall ist.23

Doch selbst das effektivste und für sich allein sicherste Medikament kann noch Probleme erzeugen. Denn wer nimmt die meisten Medikamente? Ältere Menschen. Und die haben meistens mehr als ein Symptom. So nehmen viele mit der Zeit eine nur noch schwer überschaubare Menge an von verschiedenen Ärzten verschriebenen und selbst gekauften Arzneistoffen ein. Diese tagtägliche therapeutische Realität wird Polypharmazie genannt und schafft Probleme, welche die Patienten ohne Arzneimittel nie gehabt hätten …

Polypharmazie

Wir befinden uns im Zeitalter der Polypharmazie und setzen immer mehr Medikamente gleichzeitig zur Behandlung der meisten wichtigen Herz-Kreislauf-Erkrankungen ein, darunter Herzschwäche, Angina Pectoris und Erkrankungen der Herzkranzgefäße sowie Bluthochdruck. Eine typische, leitliniengerechte medikamentöse Behandlung der Herzschwäche umfasst heute zum Beispiel vier und mehr Arzneistoffe für denselben Patienten. Die meisten Patienten mit Durchblutungsstörungen des Herzmuskels erhalten heute Aspirin, Betablocker, Nitrate, ACE-Hemmer, Statine und Clopidogrel. So erhalten 80-jährige Patienten im Schnitt acht Arzneimittel. Das verwundert nicht, wenn man sich klarmacht, dass jede therapeutische Leitlinie pro Diagnose im Schnitt drei Arzneimittel empfiehlt.

Eigentlich ist der Begriff Polypharmazie unfair. Er legt nahe, viele Arzneimittel würden unkontrolliert von der Pharmazie, also dem Apotheker, abgegeben. Dem ist aber nicht so; die meisten Probleme resultieren daraus, dass verschiedene Ärzte mehrere Arzneimittel für denselben Patienten verschreiben, ohne die Verordnungen der anderen Ärzte und eventuelle Selbstmedikationen des Patienten gegenzuchecken. Es ist also fairerweise gesagt in der Regel ein ärztliches Problem, eine Polymedizin.

Ältere Menschen gelten, wie Kinder und Schwangere, medizinisch gesehen als besondere Bevölkerungsgruppe. Das haben wir ja zum Beispiel in der Covid-19-Pandemie erlebt. Was Arzneimittel betrifft, weisen ältere Menschen im Vergleich zum Rest der Bevölkerung große Unterschiede hinsichtlich dessen auf, wie ihr Körper mit Arzneimitteln interagiert. Dies betrifft die Aufnahme in den Körper, zum Beispiel aus einer Tablette, wie sich der Arzneistoff verteilt, wie er verstoffwechselt und wie er wieder ausgeschieden wird. Aber auch unabhängig hiervon sind die Wirkung des Arzneimittels, dessen Verträglichkeit und die Compliance des Patienten (also die Regelmäßigkeit, mit der ein dauerhaft verschriebenes Arzneimittel eingenommen wird) beim älteren Menschen stark beeinträchtigt. Ist zum Beispiel die Leberfunktion eingeschränkt, werden viele Arzneistoffe langsamer verstoffwechselt, was zu höheren Blutspiegeln und einer viel zu starken Wirkung führen kann. Ebenso kann die Nierenfunktion eingeschränkt sein, was auch dazu führt, dass ein Arzneistoff langsamer über den Urin ausgeschieden wird, wodurch sich wieder Blutspiegel und damit Wirkungsstärke über einen längeren Zeitraum erhöhen.

Für einen einzelnen Arzneistoff könnte dies noch durch einen sorgfältig verschreibenden Arzt, der zum Beispiel berücksichtigt, wie ein Arzneistoff verstoffwechselt und ausgeschieden wird und wie Leber- und Nierenfunktion des Patienten sind, über eine veränderte Dosierung angepasst werden. Das Problem ist aber, dass ältere Personen häufig mehrere Medikamente einnehmen, da im Alter mehr und mehr Krankheitsdiagnosen hinzukommen. So haben ältere Menschen ab einem Alter von über 80 Jahren im Durchschnitt drei Diagnosen24, die dadurch, dass pro Diagnose oft mehr als ein Arzneimittel verschrieben wird und noch Selbstmedikation hinzukommt, zur Polypharmazie führen. In Deutschland nehmen ein Drittel aller Männer und Frauen über 65 Jahre fünf oder mehr Medikamente ein.25

Das Fatale ist, dass hierdurch bei älteren Personen die Wahrscheinlichkeit unerwünschter Arzneimittelwirkungen, die einen Krankenhausaufenthalt erfordern, fast siebenmal so hoch ist wie bei jüngeren Personen.26 Unerwünschte Arzneimittelwirkungen sind mit einem durchschnittlichen Anteil von 6,5 Prozent ein relevanter Grund für Vorstellungen in der Notaufnahme, führen häufig zu stationären Aufnahmen in Krankenhäusern27 und sind die vierthäufigste Todesursache.28 Gemäß einer Studie der Europäischen Kommission beläuft sich die volkswirtschaftliche Belastung in Deutschland bei Krankenhausaufenthalten durch arzneimittelbezogene Probleme auf circa 4,94 Milliarden Euro. Die Kosten für Medikationsfehler wurden seitens der Europäischen Kommission für 2016 auf bis zu 5.689 Euro pro Patientenfall geschätzt.

Da diese Gruppe älterer Menschen oft von Arzneimittelstudien ausgeschlossen wird (man will ja ein möglichst gutes Sicherheitsprofil demonstrieren), gibt es in der Regel kaum Daten bezüglich Sicherheit, Wirksamkeit, Risiken und Nutzen einer medikamentösen Therapie für ältere Menschen sowie infolgedessen nur sehr wenige klare therapeutische Leitlinien für diese Altersgruppe. Dies wird oft als Spezialfall „Gerontomedizin“ oder „Gerontotherapie“ dargestellt; sie stellt aber quantitativ in der alltäglichen Medizin eher die Regel dar. Es besteht daher ein großer Bedarf, die Qualität der Individualisierung der Arzneimittelversorgung und damit letztlich die Lebensqualität älterer Menschen zu verbessern.

Ähnlich verhält es sich übrigens bei der Arzneitherapie für Kinder. Hier gibt es so gut wie keine klinischen Studien und sämtliche Dosierungen sind Schätzwerte. Viele Arzneimittel, die bei Kindern eingesetzt werden, sind nicht ausreichend an Kindern geprüft (welche Eltern würden ihr Kind schon für eine Arzneimittelstudie zur Verfügung stellen, außer es handelt sich um eine lebensbedrohliche Situation und die letzte Rettung) und deshalb auch nicht für Kinder zugelassen. Daher ist die geeignete – das heißt die zugleich wirksame und sichere – Dosierung in der Regel überhaupt nicht bekannt. Zusätzlich fehlt es häufig an für Kinder geeigneten Darreichungsformen. So sind Kinder- und Jugendmediziner häufig darauf angewiesen, Arzneimittel, die eigentlich nur an Erwachsenen ausreichend geprüft wurden, auch bei Kindern anzuwenden. Aber das nur am Rande. Kinder nehmen ja in der Regel nur gelegentlich und dann nur wenige Arzneimittel ein, haben also kein Polypharmazie-Problem.

Viele Medikamente fördern gerade bei älteren Patienten Verwirrtheit bis hin zur medikamentös verursachten Demenz, erhöhen die Sturzgefahr und verlängern die Behandlungszeiten im Krankenhaus. Um nun die Arzneimitteltherapie bei älteren Patienten sicherer zu machen und polypharmaziebedingte Krankenhauseinweisungen und Todesfälle zu vermeiden, wurden sogenannte Negativlisten entwickelt, zum Beispiel die Beers-Kriterien-Liste, die STOPP-Kriterien-Liste (Screening Tool of Older Person’s Prescription) oder die deutsche PRISCUS-Liste.29 Sie sind entwickelt worden, um die Optimierung von Medikationsschemata durch Streichung von Arzneimitteln zu unterstützen. Solche Negativlisten sind zwar einfach anzuwenden, da es sich um eindeutige Empfehlungen handelt, die keine vertieften Kenntnisse über den Patienten erfordern. Allerdings gibt es keine Untersuchung, ob durch diese Elimination von Arzneimitteln das Problem der Polypharmazie behoben ist, also weniger Krankenhauseinweisungen und Todesfälle vorkommen.30

Leider wird dennoch in Kliniken der Medikationsplan solcher Patienten zu selten „aufgeräumt“. Zum einen fehlt die pharmazeutische Kompetenz. Während es international gang und gäbe ist, dass die Diagnose Sache des Arztes, die Arzneitherapie aber mindestens zur Hälfte die des Apothekers ist, sind in Deutschland Ärzte noch komplett Herr von beidem. Nirgendwo in Europa gibt es so wenig Apotheker in Krankenhäusern wie in Deutschland. Während in Großbritannien im Durchschnitt 4,4 Apotheker pro 100 Betten im Krankenhaus beschäftigt sind, gibt es in Deutschland weniger als 0,4. In Ländern wie den Niederlanden, den USA und Großbritannien legen Apotheker zusammen mit den Ärzten die Arzneimitteltherapie fest und sind sogar bei den Visiten anwesend. In den Krankenhäusern der USA gibt es 17,5 Apotheker pro 100 Betten. Die US-amerikanischen Apotheker errechnen jede Dosierung und stellen die Medikamente anhand von Listen mit Wechselwirkungen und den Vorgaben der Ärzte zusammen. Dies trifft in Deutschland nur in Einzelfällen zu. In den meisten Kliniken kommt der Apotheker nur zweimal im Jahr im Rahmen der gesetzlich vorgeschriebenen Begehungen auf Station.31 Hier prescht allein Niedersachsen voran. Spätestens ab 2022 sollen Stationsapotheker dort in den Kliniken zur gesetzlichen Pflicht werden. Allerdings nicht aufgrund dessen, dass man sich international umgeschaut hätte und die Versorgung geriatrischer Patienten verbessern möchte, sondern vor allem als Folge der Mordserie des Krankenpflegers Niels Högel in Oldenburg und Delmenhorst. Einem Stationsapotheker wäre sein Treiben mit Sicherheit aufgefallen. Während die Apothekerschaft den Vorstoß aus Niedersachsen begrüßt, sind die Krankenhäuser, allen voran die Deutsche Krankenhausgesellschaft (DKG), gar nicht begeistert.32 Die Regelung sei „verfassungsrechtlich sehr bedenklich“. Es wäre erstaunlich, wenn verbesserte Patientensicherheit verfassungsrechtlich bedenklich wäre. In einem Kritikpunkt hat die DKG allerdings recht. Es ist fraglich, ob man so schnell so viele qualifizierte Apotheker einstellen kann, denn das Pharmaziestudium ist in Deutschland hoffnungslos veraltet. Einen Großteil der Zeit beschäftigen sich die Pharmaziestudenten mit chemischer Analyse und Synthese sowie Pflanzenbiologie; etwas, was sie im späteren beruflichen Alltag so gut wie überhaupt nicht brauchen werden.

Gut ausgebildete klinische Pharmazeuten kosten nicht nur Geld, sie sind auch fähig, die Symptome einer polypharmazeutischen Verordnungskaskade von denen einer neuen Erkrankung abzugrenzen. Damit entgingen dem Krankenhaus aber Mittel, denn nach dem Finanzierungsprinzip der Krankenhäuser (siehe Kapitel 6 „Falsche Anreize“) bringt jede neue Diagnose neues Geld von den Krankenkassen. Das würde nun entfallen und es würde bei Arzneimittelnebenwirkungen oder Wechselwirkungen einfach das verursachende Medikament abgesetzt oder ausgetauscht, worauf die Symptome der Neben- oder Wechselwirkung (und damit die umsatzbringende Diagnose) verschwänden. Damit würden Klinikapotheker den von der DKG getriggerten Diagnosen- und Vergütungsturbo empfindlich ausbremsen. Lediglich der Patient würde profitieren.

Der Bundeseinheitliche Medikationsplan (BMP)33 wurde 2016 eingeführt und sollte für den ambulanten Bereich Abhilfe schaffen. Demnach hat jeder Patient, der drei oder mehr Arzneimittel verordnet bekommt, das Recht auf einen Medikationsplan. Doch dieser weist erhebliche Schwächen auf. Patientenbefragungen haben gezeigt, dass viele Patienten die Abkürzungen missverstehen. So wird „Mo“, das im BMP eigentlich für „morgens“ steht, mit „Montag“ verwechselt, „Mi“ mit „Mittwoch“ statt mit „mittags“. Auch die Bezeichnung „zN“ (zur Nacht) wird häufig nicht verstanden. 50 Prozent der Patienten hatten Verständnisschwierigkeiten und 18 Prozent verstanden den Plan auch nach Erklärung durch den Arzt nicht. Hinzu kommt, dass der Medikationsplan für Informationen zur Anwendung nur sehr wenig Platz vorsieht. Zudem wurde, was das Management des Medikationsplans betrifft, eine nicht zu begreifende Fehlentscheidung getroffen. Während die Hausapotheke der ideale Anlaufpunkt für einen solchen Medikationsplan gewesen wäre, da hier auch die Informationen zu den rezeptfrei vom Patienten gekauften Arzneimittel zusammenlaufen, wurde diese Aufgabe den Ärzten übertragen. Hat ein Patient einen Hausarzt und mehrere Fachärzte, geht die Verwirrung los und die Selbstmedikation hängt allein vom Gedächtnis des Patienten ab. Bislang sind Medikationspläne aber alles andere als verbreitet. Nur 23 Prozent der Patienten haben überhaupt einen Medikationsplan und von diesen sind nur 60 Prozent von Ärzten ausgestellt. Die restlichen haben sich die Patienten und Angehörigen selbst gefertigt. Entsprechend unterschiedlich sehen die Pläne aus. Mitunter sind Medikamente doppelt vermerkt – und werden offenbar doppelt eingenommen. Andere Medikamente, die nicht zusammen eingenommen werden sollten, sind zur gleichzeitigen Einnahme aufgeführt. Häufig sind die Einnahmezeiten und auch der Einnahmemodus (vor der Mahlzeit/nach der Mahlzeit) nicht berücksichtigt. Der geplante E-Medikationsplan könnte hier vielleicht die Lösung sein, da er von allen Beteiligten – Arzt, Apotheker und Patient – gleichermaßen einsehbar sein wird.