Kitabı oku: «500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen», sayfa 3

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1. Das Reformationsjubiläum feiert das Heilshandeln Gottes in Jesus Christus!

Der 31. Oktober 1517 ist ein Symboldatum für die Wiederentdeckung der befreienden Kraft des Evangeliums. Die immer wieder neu faszinierende Erzählung vom Anschlag der 95 Thesen Martin Luthers zur Buße an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg hat sich in das kulturelle Gedächtnis unseres Landes eingeprägt. Wir feiern mit diesem Datum nicht den Geburtstag unserer evangelischen Kirche – den sehen wir im Übrigen im Heilshandeln Jesu Christi und dem gemeindegründenden Reden und Handeln der Apostel gut aufgehoben. Wir feiern, dass das Evangelium mit diesem Ereignis einen neuen Weg zu den Menschen gefunden hat. Und wir feiern die befreienden theologischen Kerngedanken, die in den vier soli der Reformation zum Ausdruck kommen:

die grundlegende Christuszentrierung, das solus Christus;

die neu entdeckte Bibelfrömmigkeit, das sola scriptura; |30|

die staunenswerte Gnadentheologie, die sola gratia;

die befreiende Glaubenskonzentration, das sola fide.

Das sind die entscheidenden inhaltlichen Orientierungspunkte für die Feier und Gestaltung des Reformationsjubiläums. In einer Welt, die ihre eigenen religiösen Wurzeln leicht vergisst, wird es immer wichtiger, sich an theologisch bedeutsamen Symboldaten und Kerngedanken zu orientieren.

Heute sind Menschen in einer ganz anderen Weise auf der Suche nach einem gnädigen Gott als zu Luthers Zeiten. Menschen, die von ihrer Geburt an darauf getrimmt sind, zu arbeitsmarkttauglichen Kompetenzträgern zu werden, brauchen den ganz anderen Klang, den das Heilshandeln Gottes in ihr Leben einspielt. Während die Spirale von Leistung zu Effizienz zu noch mehr Leistung und immer weiter gesteigerter Effizienz beständig weitergedreht wird, brauchen Menschen den Einspruch des Evangeliums: Nicht die Leistung und das Können, nicht die Anstrengung und der eigene Erfolg entscheiden über mich und meinen Wert.

Menschen brauchen die Erinnerung an die fundamentale Einsicht der Reformatoren, dass uns der Christusglaube ein Leben ohne Angst, ohne den inneren Zwang zur Selbstrechtfertigung und Selbstüberhöhung schenkt. Dass uns der Glaube frei macht vor Gott und für Gott. Und dass diese Freiheit uns in den verantwortlichen Dienst ruft für andere Menschen und für unsere Welt. Dem Evangelium geht es um Kernthemen für alle Menschen. Es geht um die Fragen nach einer unverfügbaren Menschenwürde, nach dem Verständnis einer gemeinschaftsförderlichen Freiheit, nach einer nachhaltigen sozialen Verantwortung aller Menschen füreinander und für die Welt.

Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, diese Kerneinsichten der Reformation für unsere Zeit so zu formulieren, dass sie innerhalb und außerhalb unserer Kirchen verstanden werden. Wir suchen und brauchen eine solche Auskunfts–, Sprach– und existenzielle Anschlussfähigkeit, die auch Fernstehenden und Ungeübten verständlich machen kann, warum das Reformationsjubiläum ein Erinnerungsfest an Gottes Heilshandeln in Jesus Christus ist und zugleich auch zentrale Bedeutung für das gegenwärtige und zukünftige Leben in der modernen Gesellschaft hat. |31|

2. Das Reformationsjubiläum 2017 gehört in unsere ökumenische Kirchengemeinschaft

Die Evangelische Kirche in Deutschland will 2017 feiern – fröhlich, selbstbewusst und selbstkritisch und offen für unsere ökumenischen Geschwister.

In Deutschland haben wir eine zehnjährige Reformationsdekade vereinbart. In zehn thematischen Jahresschritten versuchen wir seit 2008 die «Länge und Breite und Höhe und Tiefe» (vgl. Eph 3, 18) der auf das Evangelium bezogenen Bedeutung der Reformation auszuloten – einschließlich der Schatten und Grenzen dieser Bewegung. So geht es im Jahr 2013 mit dem Thema «Reformation und Toleranz» darum, auch die Grausamkeiten und Zerstörungen zu bedenken, die Luther und die Reformation mit ihrer Intoleranz bewirkt haben. Dabei wollen wir zugleich das bei uns oftmals mit einem nationalen Pathos gezeichnete Bild vom «deutschen Helden Martin Luther» korrigieren. Die neuere Lutherforschung zeigt deutlich: Luther war eine ambivalente Persönlichkeit, mit bewundernswerten Eigenschaften und mit nachhaltigen theologischen Inspirationen. Aber er war auch ein heftiger Polemiker und beschämender Antijudaist.

Im Blick auf diese «Schattenseite» der Reformation wird eine konfessionsverbindende Kommission zwischen der EKD und der römisch-katholischen Kirche in Deutschland unter dem Leitgedanken «healing of memories» den Versuch unternehmen, die uns noch heute belastenden Bilder und Typisierungen der Reformation zu klären. Wir wollen vor Gott und voreinander die Wunden zur Sprache bringen, die unsere Erinnerung bis heute prägen. Wenn dies gelänge, wäre die gemeinsame Feier eines Versöhnungsgottesdienstes im Jahr 2017 ein deutlicher Fingerzeig auf die befreiende und heilende Kraft des Evangeliums und ökumenisch ein großes Zeichen.

Wir haben unsere römisch-katholischen, orthodoxen und freikirchlichen Geschwister zur Mitwirkung am Reformationsjubiläum eingeladen, auch wenn die einen bei der Reformation eher an die Spaltungen und Trennungen der Westkirche denken, die anderen einen inneren Bezug zu den reformatorischen Themen noch nicht explizit entwickelt haben und die Freikirchen eine auch schmerzliche Geschichte mit den Landeskirchen erinnern. Die EKD hat mit der Deutschen Bischofskonferenz einige Verabredungen getroffen, um unsere Gemeinschaft zu stärken: So werden nicht nur die 95 Thesen ökumenisch kommentiert, |32| sondern auch eine evangelisch-katholische Schrift erarbeitet mit dem Arbeitstitel «Was jeder vom Christentum wissen sollte.»

Die ökumenische Dimension und die internationale Ausrichtung des Reformationsjubiläums 2017 ist der EKD ein zentrales Anliegen. Darin unterscheiden wir uns von den Jubiläen, die seit 1617 alle einhundert Jahre gefeiert worden sind.

Es ist, historisch gesehen, nicht nur zweifelhaft, ob es 1517 den berühmten Thesenanschlag an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg überhaupt gegeben hat. Es kann auch bezweifelt werden, ob die 95 Thesen schon als eine neue reformatorische Theologie anzusehen sind oder ob sie nicht doch gute katholische Theologie im damaligen Sinne waren. Unbestreitbar aber ist, dass der Aufbruch Martin Luthers und seiner Generation von Reformatoren alle unsere Kirchen beeinflusst hat – wenn auch zu verschiedenen Zeiten und in verschiedenen Weisen. Die Niederländer erzählen deshalb eine andere Reformationsgeschichte als die Schwestern und Brüder in Afrika. Die Evangelische Kirche in Italien lebt mit anderen Reformationsgeschichten als die großen Kirchen in Skandinavien.

Aber genau deswegen sind wir hier in Zürich zusammengekommen: Wir wollen voneinander Geschichten der Reformation hören, wollen wahrnehmen, welche Wurzeln unsere reformatorischen Kirchen haben, welche Gegenwart sie gestalten, welche Hoffnungen sie leiten. Wir wollen voneinander erfahren, welche theologischen Einsichten uns besonders wichtig sind und welche Unterschiede unseren gemeinsamen Reichtum ausmachen. Wir wollen in unserer Vielfältigkeit und mit unserer Vielstimmigkeit nach gemeinsamen Formulierungen für den Kern des Reformationsereignisses suchen, das vor 500 Jahren von Zürich, Wittenberg und vielen anderen Orten ausging. Damit Christusgeschichten als Befreiungsgeschichten auch für heutige Menschen und für unsere heutige Welt Bedeutung gewinnen.

Lassen Sie uns darüber hier in Zürich sprechen und arbeiten!

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Bibelarbeiten

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Karen Georgia Thompson, UCC, Cleveland/Ohio

Römerbrief 3, 21–31

Der Bibeltext, den wir heute Morgen gehört haben, ist uns allen gut bekannt. Er gehört zu den Perikopen, die für die Reformation von zentraler Bedeutung wurden. Martin Luther berief sich besonders auf diesen Text als Argumentationsbasis. Luther hatte es zu seiner Zeit mit einer korrupten Kirche zu tun, mit einem Volk, das man lehrte, seinen Weg zur Ewigkeit käuflich zu erwerben, und einem Klerus, dem die Pflicht oblag, den Willen einer festen klerikalen Hierarchie auszuführen, mit offensichtlicher Unterstützung des Kaisers. Kirche und Staat traten vereint für den Ablasshandel ein, der als Mittel galt, der retributiven (vergeltenden) Gerechtigkeit Gottes zu entgehen. Die Entrichtung von Geldgaben an die Kirche in Form des Ablasserwerbs verwandelte Sündenstrafen, die der Sünder als Buß- und Reueakt auf sich zu nehmen hatte, in Finanztransaktionen.

Seine ausführliche Beschäftigung mit dem Römerbrief führte Luther zu einer gewagten Herausforderung der Kirche, und das zu einer Zeit, in der es für alternative christlich-religiöse Überzeugungen und Ansichten, die im Widerspruch zur damals herrschenden christlichen Lehre standen, kaum Chancen gab, sich Gehör zu verschaffen. Luther kam aufgrund seines Verständnisses des Römerbriefes zu der Erkenntnis, dass der Mensch durch Gottes Gnade als freie Gabe Gottes vermittels des Glaubens gerechtfertigt werde. Rechtfertigung ließe sich also nicht käuflich erwerben. Indem er die Heilige Schrift zur einzigen Quelle verbindlicher Autorität für die Kirche erhob, stellte Martin Luther die Autorität des Papstes und der römisch-katholischen Kirche in Frage.

Doch Luther war, wie wir wissen, kein Lutheraner, sondern ein römisch-katholischer Priester, der die Ausbeutung der Armen kritisierte und die Missbräuche des Papsttums anprangerte. Das führte ihn dazu, eben die Institution, in deren Dienst er stand, einer strengen Kritik zu unterziehen. Luther zahlte einen hohen Preis für seinen Wagemut: Er wurde in der Folge vom Papst exkommuniziert und vom Kaiser in Acht und Bann getan. Nach Luther werden wir erlöst sola scriptura, sola gratia, |36| sola fide – allein durch die Schrift, allein aus Gnade und allein durch Glauben.5

Wenn wir nun an das rasch auf uns zukommende 500-jährige Jubiläum der Reformation denken, ist dieser Anlass gewiss auch eine Gelegenheit, uns auf unsere Vergangenheit zu besinnen und das Werk unserer Vorgängerinnen und Vorgänger zu ehren. Und dieses historische Ereignis fordert uns zugleich auf, unsere kirchliche Gegenwart zu bedenken und die Zukunft der Kirche ins Visier zu nehmen.

Röm 3, 21–31 ist ein ebenso bekannter wie herausfordernder Text. Die Christinnen und Christen, Mitglieder der römischen Gemeinden jenes ersten Jahrhunderts, denen der Brief des Paulus vorgelesen wurde, hatten den Apostel nie gesehen und kannten ihn nicht. Unser Text schließt sich an den Schluss an, den Paulus in Röm 1, 17 zieht; den Abschluss bildet Röm 3, 20, wo Paulus schreibt: «…weil kein Mensch durch die Werke des Gesetzes vor ihm gerecht sein kann. Denn durch das Gesetz kommt Erkenntnis der Sünde.» Damit ist der Rahmen für das, was Paulus zu sagen hat, abgesteckt.

In ihrem Buch «The First Paul» widmen Marcus Borg und John Dominic Crossan der Diskussion über das Thema «Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben» ein ganzes Kapitel. Als Paulus «von der Rechtfertigung aus Gnade durch Glauben sprach», dachte er nach Meinung der Autoren des Buches nicht an die Art und Weise, wie wir in den Himmel kommen, sondern an die Transformation unserer eigenen Person und der Welt in unserem diesseitigen Leben. Mehr noch: Wenn Paulus Glauben und Werke gegenüberstellt, denkt er nicht an Glauben ohne Werke – was ein Unding wäre, denn Glaube umfasst stets Werke – sondern an Werke ohne Glauben, ein leider allzu häufiger Tatbestand, bisweilen aus Gründen der Gewöhnung oder von Schuld, bisweilen auch aufgrund gedankenloser Wiederholung oder kalkulierter Heuchelei.

Es ist die uns in Christus Jesus geschenkte Gnade Gottes, die Ort und Raum für Werke schafft, nicht als Vorschrift, sondern als natürliche Folge der aktiven, umgestaltenden Kraft Gottes. Weil wir Empfänger von Gottes Gnade sind, sind wir motiviert, Teilhaber von Gottes aktiver Gerechtigkeit in unserer Welt zu sein. |37|

Glaube ist die Aktion des Individuums, nicht Werke. Glaube ist unsere Antwort auf Gottes Wirken. Die Aktivität des Glaubens ist jedoch nicht unabhängig von Gottes Gegenwart und Gottes Wirksamkeit. Wäre Glaube allein auf die Aktion des Individuums zurückzuführen, gäbe es Gründe, sich seines Glaubens zu rühmen, ähnlich wie man sich seiner Werke rühmen könnte.

Walter Brueggemann und andere halten fest, dass ein Verständnis des Textes, welches impliziert, der Glaube sei eine Sache ausschließlicher Aneignung durch das Individuum, «den Text zu einer Erklärung umfunktioniere, deren Schwerpunkt auf den Folgen der Rechtfertigung Gottes für uns Menschen liegt». Doch «der Fokus des Textes», schreibt er, «liegt nicht auf der menschlichen Suche nach einem gnädigen und liebenden Gott, sondern auf dem radikalen Handeln Gottes, dessen Gnadenanspruch die ganze Menschheit umfasst.»6 Selbst wenn eine individuelle Person den Glauben besitzt, ist dies auf Gottes Gerechtigkeit zurückzuführen.

Ein rechtes Verhältnis zu Gott ist keine Verheißung für ein paar Auserwählte, sondern ist für «alle» Menschen bestimmt. Mehrmals hebt Paulus die universale Natur der Sünde hervor – «alle haben gesündigt und die Herrlichkeit verloren, die Gott ihnen zugedacht hatte», ganz wie die «Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus» allen, die glauben, zugesprochen ist. Nach Paulus zeigt Gott keinerlei Parteilichkeit im Angebot der Rechtfertigung. Es gibt keine Bedingungen oder Voraussetzungen, die zum Erwerb der Gnade Gottes erfüllt werden müssten.

Paulus vertritt diese Überzeugung «des Zugangs aller Menschen» gegenüber dem Gesetz, das den Zugang für ein bestimmtes Volk regelte. Es gibt keine Vorschriften, die eingehalten werden müssten, um das zu erreichen, was Gott frei anbietet. Allen gilt die Erlösung, die ihren Glauben auf Gott werfen.

Gott als Handelnder ist am Werk, um die Menschheit wieder in ein rechtes Verhältnis zu Gott zu bringen. Gott will ein rechtes Verhältnis zu uns schaffen, und als Ergebnis seines Handelns erfahren wir die Gerechtigkeit Gottes, wie sie sich zu unseren Gunsten auswirkt. Paulus schreibt: «Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede |38| aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben.» (V. 21f.)

Walter Brueggemann und andere Kommentatoren schreiben: «Gottes Gerechtigkeit ist keine Eigenschaft, die mit Gottes Güte oder Gottes Unveränderlichkeit vergleichbar wäre. Obwohl wir uns Gottes Gerechtigkeit nie von Gott abgetrennt vorstellen dürfen, ist Gottes Gerechtigkeit ein Geschenk, das Gott uns Menschen in seiner Gnade verleiht. Gottes Gerechtigkeit ist ein Ausdruck von Gottes Handeln, um Gottes Anspruch auf die Welt erneut zur Geltung zu bringen.»7

Luther rang mit diesem Text vor fast 500 Jahren, in einer Welt, die in keinem rechten Verhältnis zu Gott stand. Luther blickte sich in der ihn umgebenden Welt um und sah in ihr die Notwendigkeit zu einem tiefgreifenden Wandel. Die in der Kirche herrschende Korruption war an sich nichts Neues. Der Ablasshandel war keineswegs nur für reiche Leute bestimmt; er zielte genauso auf die Armen ab. So bereicherte sich die Kirche ständig, während das Volk immer ärmer wurde. Luther war nicht nur darauf bedacht, die kirchlichen Zustände zu verändern; seine Motivation erstreckte sich ebenso sehr auf die Situation der Armen und Ausgeschlossenen. Die Reformation veränderte das Leben der Menschen. Die Reformation veränderte die Kirche. Die Reformation veränderte die Welt.

500 Jahre später vermögen wir die Änderungen zu erkennen, welche das Eingreifen der Reformatoren innerhalb und außerhalb der Kirche bewirkt hat. Dabei war die Reformation keineswegs ein vollkommenes Experiment; sie hatte auch den Ausschluss von Personen zur Folge, deren Interpretation und Verständnis Gottes von den Reformatoren als häretisch angesehen wurde. Und wir werden das Reformationsjubiläum im Kontext einer ökumenischen Gemeinschaft begehen, die immer noch dem Tag entgegensieht, an dem die Kirche geeint ist, gemäß der Fürbitte Jesu für seine Jüngerschaft: «damit sie alle eins seien» (Joh 17, 21). Manche sehen in der Reformation die Ursache der Kirchenspaltung. Trennungen sind auch innerhalb unserer eigenen protestantischen Kirchenfamilie auszumachen. Hier haben sich Kirchen noch und noch aufgrund verschiedenartigster Differenzen gespalten. Unsere christliche Familie manifestiert sich unter den verschiedensten Namen: Methodisten, Anglikaner, |39| Orthodoxe, Lutheraner, Baptisten, Pfingstkirchler, Heiligkeitskirchen, Evangelikale, wobei jede dieser Gruppierungen sich noch in Untergruppen unterteilt. Wie rechtfertigen wir die Tatsache, derart uneins in der Frage zu sein, wie wir Gott, Jesus, den Heiligen Geist oder die Sakramente verstehen, wenn wir erkennen, welchen Weg Gott für uns alle aufgetan hat, um mit Gott durch Christus versöhnt zu sein?

Ungeachtet der Frage, wie wir uns den Inhalt von Röm 3, 21–31 in diesen Tagen und Monaten im Vorfeld der Reformationsfeiern neu aneignen, sind wir alle mit dem Leben und Werk Luthers und der anderen Reformatoren und deren Beitrag zur Gestaltung – oder vielleicht zur Neugestaltung – des Christentums konfrontiert: Wie wollen wir unseren christlichen Glauben heute als unsere Religion leben und in die Praxis umsetzen?

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Margot Käßmann, Berlin

Johannes 3, 1–15 (Lutherübersetzung 1984)

Lieber Kongressteilnehmerinnen und Kongressteilnehmer

Was für ein Text am frühen Morgen! Das ist wirklich ein harter Brocken und es ist schwer, sich ihm in 30 Minuten anzunähern. Denn wir haben es mit einem gut durchdachten, tiefgründigen und durchkomponierten Abschnitt zu tun. Nur beim Evangelisten Johannes finden wir dieses «Nikodemusnachtgespräch», das aufhorchen lässt. Was ist gemeint? Wenn Sie nach der ersten Lektüre denken: Das ist mir zu komplex, schwer verständlich, kann ich Sie beruhigen: Das findet sogar der große Johannesexeget Rudolf Bultmann. Das ganze Gespräch atmet, so Bultmann, «die Atmosphäre des Mysteriösen», entfaltet es doch «das Geheimnis der Wiedergeburt, des Menschensohns und des Zeugnisses.»

Schauen wir uns die Situation zunächst näher an. Ein Mann namens Nikodemus, offenbar bekannt, von Jesus sogar als «Lehrer Israels» angesehen (3, 10), kommt zu Jesus nach Anbruch der Nacht. In der Literatur und in vielen Predigten wird das als Ängstlichkeit interpretiert: Der Mann mit einer führenden Position im Hohen Rat wagt es nicht, öffentlich mit Jesus zu sprechen. Aber wovor sollte er Angst haben? Um seinen Ruf? Der Evangelist Johannes selbst sieht Nikodemus wohl als opportunistisch an. Jedenfalls sagt er über die «Oberen», die sich aus Furcht nicht offen zu Jesus bekennen: «Doch auch von den Oberen glaubten viele an ihn; aber um der Pharisäer willen bekannten sie es nicht, um nicht aus der Synagoge ausgestoßen zu werden. Denn sie hatten lieber Ehre bei den Menschen als Ehre bei Gott.» (12, 42f.)

Der Neutestamentler Klaus Wengst stellt dementsprechend die These auf, dass Nikodemus als Einzelperson für Johannes eher uninteressant sei. Vielmehr stehe er für eine Gruppe von «heimlichen Sympathisanten aus der Oberschicht, die sich nicht offen bekennen, weil sie befürchten, aus der Synagoge ausgeschlossen zu werden. Weil sie ihren sozialen Status nicht aufs Spiel setzen wollen…»8. Ein hartes Urteil. Dass Nikodemus Jesus als von Gott gekommenen Lehrer (3, 2) anspricht, sich aber nicht zu |41| ihm bekennt, das wirft Johannes ihm offensichtlich vor und damit vielen, die sich ebenso verhalten. Hier findet sich wohl auch ein latenter Antijudaismus bei Johannes. Der flackert auch in den exegetischen Betrachtungen zu unserem Text immer wieder auf, etwa bei Emmanuel Hirsch, wenn er schreibt: «Der Jude ist in einen Dienst gebunden, der seinen Blick verschließt für eine Gotteskindschaft, die als Wundergabe Gottes in das erdgebundene Leben sich senkt.»9

Nikodemus taucht mehrfach auf im Johannesevangelium. Er tritt für ein faires Verfahren gegen Jesus ein (7, 50f.) und er ist es, der gemeinsam mit Josef von Arimatäa für eine würdige Bestattung sorgt (19, 39ff.). Wäre es nicht auch möglich, dass Nikodemus schlicht Interesse an der Lehre Jesu hatte, nachdenklich war und offen das Gespräch suchte? Dass es abends stattfand, ist nicht außergewöhnlich. Der Talmud beschreibt, dass Rabbiner sich manches Mal nachts in die Tora vertieften:

«Preiset den Herrn, alle Diener des Herrn, die ihr in den Nächten im Hause des Herrn steht.» (Ps 134,1) «Was heißt: in den Nächten? Rabbi Jochanan erwiderte: Das sind die Schriftgelehrten, die sich nachts mit der Tora befassen. Die Schrift rechnet es ihnen an, als würden sie sich mit dem Opferdienst befassen.» (bMen 110a)

Die Situation könnte doch schlicht sein: Zwei Männer kommen am Abend zusammen und führen ein intensives Gespräch über die Grundfragen des Lebens und des Glaubens. Das gibt es doch auch noch heute. Vielleicht sogar hier auf unserem Kongress in Zürich! Und in der Tat sogar mit und auch unter Frauen! Abseits von aller Geschäftigkeit des Alltags gibt ein solcher Abend Raum für Dialoge, die tasten, fragen, nicht gleich alles unter Ergebnisdruck stellen. So verstehe ich dieses Gespräch, ein Ringen um Antworten im Glauben, die alle nicht leicht zu finden sind. Und es ist gut, wenn es solche Gespräche gibt. Allzu selten stellen wir uns diesen Glaubensfragen: Glaubst du an Auferstehung? Kann ich sagen, dass Jesus Christus für mich der Weg, die Wahrheit und das Leben ist? Was heißt Gottessohnschaft? Was bedeutet mir die Taufe? Und sind wir offen genug für Menschen wie Nikodemus, die interessiert sind, aber nicht gleich konvertieren oder sich bekennen? Ich denke, wir brauchen mehr Nikodemusnachtgespräche in unserer Zeit! |42|

Aber schauen wir uns den Dialog näher an, den Rudolf Bultmann übrigens in der Komposition bei Johannes als traditionelles Schulgespräch10 versteht:

Erst einmal stellt Nikodemus gar keine Frage, sondern erkennt Jesus als Lehrer im Glauben an. Wir befinden uns ja ganz am Anfang des Evangeliums. Johannes der Täufer hat erkannt, dass der Geist Gottes bei Jesus ist, und die Hochzeit zu Kana mit dem Weinwunder sowie die Tempelreinigung sind erste Zeichenhandlungen. Niemand kann solche Zeichen tun, wenn Gott nicht mit ihm ist, erkennt Nikodemus. Darauf reagiert Jesus mit seiner zentralen These: «Es sei denn, dass jemand von neuem geboren werde, so kann er das Reich Gottes nicht sehen.» (3, 3)

Das Reich Gottes kommt im Johannesevangelium nur in diesem Kontext vor, in Vers 3 und in Vers 5. In anderen synoptischen Evangelien wird es ja immer wieder mit dem Vergleich eingeführt, dass wir uns Kindern annähern müssen, um Zugang zu finden. So etwa Mk 10, 15: «Lasst die Kinder zu mir kommen und wehret ihnen nicht; denn solchen gehört das Reich Gottes» oder auch Mt 18, 3: «Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich kommen.» Im Grunde ist das Johannesevangelium noch radikaler: nicht nur wie ein Kind werden, nein, neu geboren werden. Was kann das heißen?

Genau das fragt Nikodemus: «Wie kann ein Mensch geboren werden, wenn er alt ist? Kann er denn wieder in seiner Mutter Leib gehen und geboren werden?» (Joh 3, 4) Das ist, finde ich, eine sehr angenehm realistische Frage! Kann denn ein alter Mann neu anfangen? Gibt es das wirklich, als alte Frauen alles hinter sich lassen, noch einmal zurück auf Los? Ich sehe solche Thesen mit wachsendem Unbehagen. Beim Hamburger Kirchentag im Mai dieses Jahres war ich auf einem Podium zur Zukunft des Alterns in Deutschland. Eine Wissenschaftlerin beschrieb, dass wir alle immer älter werden, ständig Neues lernen sollen, neue berufliche Wege einschlagen, uns neu orientieren… Ich habe tiefe Erschöpfung gefühlt. In unserer Gesellschaft sollen wir uns alle verjüngen, ob durch Botox oder Haarimplantate, neu aufbrechen sollen wir, mobil und flexibel sein. Vielleicht möchte ich aber gar nicht mehr ständig neu anfangen, sondern endlich mal Ruhe haben und alles lassen wie es ist? Da kann die Forderung, neu geboren zu werden, ja auch Stress auslösen! Oder ist etwas ganz anderes gemeint als der Jugendwahn unserer Zeit? |43| Ein Geburtsvorgang ist ein tiefgreifendes einmaliges Geschehen. Es geht doch Johannes viel mehr um eine Erfahrung von Neu-Werden, die das Leben neu orientiert. Nicht aus mir selbst, aus Gnade lebe ich, aus Gottes Lebenszusage und nicht aus meinen Leistungen definiere ich den Sinn meines Lebens, im Glauben finde ich Halt im Leben und im Sterben – sola gratia und sola fide, wie die Reformatoren es konzentriert ausgedrückt haben.

Was kann das aber heißen, aus dem Geist geboren? Erst wird vom Geist gesprochen, dann vom Wasser: «Es sei denn, dass jemand geboren werde aus Wasser und Geist, so kann er nicht in das Reich Gottes kommen.» (3, 5)

O ja, jetzt kommen wir in diffiziles ökumenisches Minengelände! Da gibt es diejenigen, vor allem Baptisten, die sagen: erst der Geist, dann das Wasser – der Taufe! Für die Reformierten ist diese Frage nach Geistwirken besonders wichtig. So heißt die Frage 53 im Heidelberger Katechismus, dessen 450. Jubiläum wir 2013 feiern: «Was glaubst du vom Heiligen Geist?» Und die Antworten lauten:

Erstens:

Der Heilige Geist ist gleich ewiger Gott

mit dem Vater und dem Sohn.

Zweitens:

Er ist auch mir gegeben

und gibt mir durch wahren Glauben

Anteil an Christus

und allen seinen Wohltaten.

Er tröstet mich

und wird bei mir bleiben in Ewigkeit.

Für die Getauften ist der Heilige Geist in dieser Tradition also bleibender Beistand Gottes.

Aber ich bin Lutheranerin und frage mich natürlich: Warum hat der ökumenische Kongress gerade mir einen solchen Text vorgegeben?

Für Martin Luther wurde immer klarer: Die Taufe ist das zentrale Ereignis und Sakrament. Hier sagt Gott einem Menschen Gnade, Liebe, Zuwendung, Lebenssinn zu. Und alles Scheitern, alle Irrwege des Lebens können das nicht rückgängig machen. Gehen wir zur Taufe zurück, brauchen wir keine Buße, kein Bußsakrament: Wir sind erlöst, wir sind längst Kinder Gottes. «Baptizatus sum» – ich bin getauft. In den schwersten Stunden seines Lebens hat Martin Luther sich das gesagt und daran Halt gefunden. |44|

Und: Jeder, der aus der Taufe gekrochen ist, ist Priester, Bischof, Papst. Von da her hat Luther auch den Respekt gegenüber Frauen entwickelt. Sie sind getauft und damit stehen sie auf gleicher Stufe. Zu sagen: Wir sind getauft und damit vor Gott gleich, war ein theologischer Durchbruch und zugleich eine gesellschaftliche Revolution. Aus diesem Taufverständnis entwickelte sich durch die Jahrhunderte die Überzeugung, dass Frauen in der Tat jedes kirchliche Amt wahrnehmen können. Mir ist wichtig, die theologischen Hintergründe deutlich zu machen, gerade da, wo von anderen Kirchen die Ordination von Frauen in Pfarr- und Bischofsamt infrage gestellt wird. Es geht nicht um Zeitgeist, es geht um Theologie.

Das gilt auch mit Blick auf Rassismus. In Südafrika erzählte ein Missionar, dass viele weiße Farmer sich in der Zeit der Apartheid dagegen wehrten, dass ihre schwarzen Arbeiter getauft werden sollten. «Dann sind sie ja wie wir» – o ja, eine tiefe theologische Einsicht, denn genau so ist es! Die Taufe ist ein Zeichen gegen alle rassistischen, sexistischen und anderen Ausgrenzungen innerhalb der Gemeinschaft der Kirche.

Zölibatäres Leben galt vor der Reformation als vor Gott angesehener, der gerade Weg zum Himmel sozusagen. Für viele Reformatoren war der Schritt zur Ehe ein Signal, dass auch Leben in einer Familie, mit Sexualität und Kindern von Gott gesegnetes Leben ist. Die öffentliche Heirat von bisher zölibatär lebenden Priestern und Mönchen und Nonnen war ein theologisches Signal. Die Theologin Ute Gause erklärt, sie sei eine Zeichenhandlung, die «etwas für die Reformation Elementares deutlich machen wollte: Die Weltzuwendung und demonstrative Sinnlichkeit des neuen Glaubens»11. Nun wird ja den Evangelischen im Land eher unterstellt, dass sie weniger sinnlich seien als die römischen Katholiken oder die Orthodoxie. Die Reformatoren aber wollten gerade deutlich machen: weltliches Leben ist nicht weniger wert als priesterliches oder klösterliches. Es geht darum, im Glauben zu leben im Alltag der Welt – da dürfen Protestanten auch sinnlich sein.

Und das finde ich in unserem Bibeltext für heute Morgen bestätigt. Im Johannesevangelium heißt es: «Was vom Fleisch geboren ist, das ist Fleisch: und was vom Geist geboren ist, das ist Geist.» (Joh 3, 6) Das muss doch gerade kein Dualismus sein, auch wenn es in der Exegese oft so gesehen wird: sarx und pneuma! Natürlich sind wir als Menschen eingebunden in die Zusammenhänge unseres Lebens. Wir wären doch |45| verantwortungslos, würden wir alles abstreifen hier und jetzt um einer vermeintlich geistgewirkten Zukunft willen! Genau da mahnt Luther zu Verantwortung in der Welt mit seinem Begriff von Berufung als Beruf, den wir da ausüben, wo Gott uns hingestellt hat. Und doch wirkt die Frage nach der Geistgeburt wie ein Korrektiv: Gibt es nicht noch eine ganz andere Wirklichkeit Gottes? Eine, in der Gut, Ehr, Kind und Weib oder eben alles das, was wir besitzen, woran unser Herz hängt, völlig in den Hintergrund tritt? Oder wie Bultmann schreibt: Der Mensch kann wissen, «dass er eigentlich in das jenseitige Sein gehört und doch faktisch in das diesseitige geraten ist»12. Ich denke nicht, dass hier ein Entsagen der Welt angedeutet ist. Es wird vielmehr die Frage gestellt, in welchem Horizont ich mein Leben verstehe. Gehe ich auf in sarx, Fleisch, dem Weltlichen, oder weiß ich um die Realität Gottes, pneuma, das zwar viele, gerade heute in einem säkularisierten Zeitalter nicht wahrnehmen wollen, als «Opium des Volkes», Selbsttäuschung, ein Weglaufen vor den Realitäten ansehen. In welchem Licht begreife ich mein Leben? Darum geht es.

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532 s. 4 illüstrasyon
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9783290178475
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