Kitabı oku: «500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen», sayfa 5

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10. Im Sinne dieser Ausführungen ist das positive Erbe der Reformation eng mit der Idee einer (säkularen und kirchlichen) Gesellschaft verbunden, die sich selbst hinterfragt und die auf die vorausgehende Bekräftigung von Gottes Handeln vertraut, so dass Angst und Konkurrenzkampf entfallen; die geeint ist in einem gemeinsamen Gespräch zur Erzählung der Schrift; und die wachsam und aufmerksam für die Möglichkeit neuer Einsichten und Herausforderungen vor diesem Hintergrund ist. Dies ist nicht einfach identisch mit der sogenannten «modernen» Gesellschaft, geschweige denn mit der «aufgeklärten» Gesellschaft, obwohl es letztere sonst nicht geben würde. Der Hauptunterschied liegt darin, dass die Moderne die Autonomie besonders begünstigt, so dass Gottes Souveränität (trotz der wichtigen Klarstellungen der Reformation) als Gefahr für die menschliche Würde bzw. die Sprache der Rechenschaft gleichermaßen als Gefahr für die individuelle Freiheit gesehen werden. Die reformatorische Vorstellung vom menschlichen Gedeihen beinhaltet Gehorsam: Die tiefsten Freiheiten hängen also mit der Unterwerfung zusammen, sich von einer Realität, einer Wahrheit, die über unsere individuellen Pläne hinausgeht, hinterfragen zu lassen.

11. Die Moderne erscheint in diesem Lichte als systematisches Missverständnis des Bildes der Reformation. Was oben als zwiespältige Aspekte des Erbes der Reformation bezeichnet wurde, sind im Grunde Umkehrungen der grundlegenden theologischen Prinzipien der Reformation des 16. Jahrhunderts, die vieles, was die Bewegung hinwegzufegen suchte, wieder einführten. Ein bestimmtes Rationalitätsmodell galt als allerwichtigst und normativ; darin zeigte sich ein tief verwurzeltes Misstrauen gegenüber Wissensansprüchen, die sich nicht mit der Argumentation erwachsener Menschen verteidigen lassen. Die Denker der Reformation beharrten gegenüber der Mystifizierung und Manipulation darauf, dass Gott sich in einer allen zugänglichen Weise mitteilte. Sofern Symbole verwendet wurden, dienten sie hauptsächlich zur Verdeutlichung von Dingen, die in anderer Weise klarer – wenn auch vielleicht weniger anschaulich – dargestellt werden konnten. Trotz Luthers ausgeklügelter Theologie zur Dialektik zwischen dem Verborgenen und dem Offenbarten im Wirken Gottes an uns tendierte das protestantische Denken zunehmend zur Annahme, dass wahres Wissen zwangsläufig eine Frage von klarer verbaler Kommunikation sei. Dies war schwer mit |62| dem Verständnis des «unausgesprochenen» Erkennens zu vereinbaren, wie Denker jüngeren Datums es nannten, bzw. mit den materiellen Dimensionen des Erkennens (z. B. der Fähigkeit, ein Gesicht zu erkennen, ein Instrument zu spielen, auf einem Pferd zu reiten, aus Zeichen am Himmel das Wetter vorherzusehen) – ganz zu schweigen von Codes in Gesten, Zeichen und vor allem visuellen Bildern, die das übermitteln, was nicht effizient oder ausreichend in Sprache codiert werden kann. Wörter sollten für alles ausreichen; die Reformation legte deshalb – wie Torrance und andere es festhalten – einen deutlichen Akzent auf das Hören gegenüber dem Sehen als Paradigma des Erkennens.

12. Letztlich kam es zu einer Polarisierung zwischen den verschiedenen Beschreibungen des menschlichen Erkennens. Entweder wissen wir, weil wir in der Schrift die einfachen Aussagen der göttlichen Wahrheit hören/lesen, oder wir lesen aus der Natur und Umwelt alles heraus, was wir wissen müssen, und ignorieren Wissensansprüche, die bestimmten Prozessen der Erkenntnisgewinnung widersprechen. Wir geraten in eine sinnlose und törichte Pattsituation zwischen «Wissenschaft» und «Religion», die in unserer Kultur immer noch in vielen Köpfen vorherrscht. Um zu einer gesamtheitlichen Sicht des Erkennens zurückzufinden, müssen wir wie bereits angedeutet die besten Erkenntnisse der Reformation gegen ihre eigenen Verzerrungen stellen.

13. Luthers Revolution des theologischen Denkens implizierte, dass keine Umstände der Welt eine offensichtliche Bedeutung besaßen, die als Instrument der menschlichen Macht ergriffen und eingesetzt werden konnte. Um die Verborgenheit Gottes im gekreuzigten Christus zu verstehen, mussten wir vor dem potenziellen Abgrund der Bedeutungslosigkeit zum Schweigen gebracht und kleingemacht werden, damit wir letztlich frei wurden, Gottes Gabe anzunehmen, ohne auf unsere eigenen anmaßenden Vorhaben, Bedürfnisse und Ehrgeiz zu zählen. Die Klarheit der Wörter allein ändert nichts an der Notwendigkeit dieser Enteignung; je mehr wir uns von einer Sprache abwenden, die den Anspruch hat, die Welt umfassend abzubilden und in ein schlüssiges Erklärungssystem einzufügen, desto mehr erkennen wir, dass unser Lernen als Menschen an die Fähigkeit geknüpft ist, bewusst oder unbewusst auf Zeichen und Signale zu reagieren. Unsere Argumentation muss der für das Thema geeigneten Methode folgen; sie muss davon geprägt sein und soll etwas vom Leben dieses Themas «mitteilen.» Ohne dabei die spätmittelalterliche Besessenheit vom symbolischen Lesen von Texten und Welt wiederzuerwecken, kehren wir zu einer Sensibilität für die Kommunikation |63| zurück, die nicht einfach verbal ist, bzw. wenn sie verbal ist, mit Ironie und Umwegen arbeitet (sehr klar in der protestantischen Poetik von Fulke Greville oder George Herbert im 16. und 17. Jahrhundert).

14. Die Schwäche des Nachdenkens über die Kirche, die ich als weiteres zwiespältiges Erbe der Reformation beschrieben habe, geht auf die komplexe Verzerrung des Begriffs der «unsichtbaren» Kirche zurück. Einmal mehr: Was ursprünglich als Argument zur Betonung der Verborgenheit von Gottes Handeln und damit dessen uneingeschränkter Freiheit und Transzendenz erarbeitet wurde, entwickelte sich im populären Protestantismus zu einer starren Skepsis gegenüber Doktrinen, wonach die christliche Gemeinde für die Formung der christlichen Identität notwendig ist. Die Unklarheit der Grenzen der Kirche, die Wahrheit, die der junge Calvin äußerte, als er «halb begrabene Kirchen» wahrnahm, der Widerstand dagegen, die institutionelle Zugehörigkeit zum Träger einer beinahe automatischen Gnade zu machen: All dies weckte bei vielen das unbestimmte Gefühl, dass das christliche Selbstverständnis nichts sichtbar Gemeinschaftliches aufweisen müsse. Auch hier helfen uns die Grundsätze der Reformation selbst, der Verzerrung zu entgehen – vor allem die offene Bibel als Bereich der gemeinsamen Sprache. Der Einzelne, der sich in die private Frömmigkeit flüchtet (in einer Weise, die Calvin und Luther schockiert hätte), hat noch nicht begriffen, dass eine innere Lebenswelt abseits des geteilten Erkennens und Prüfens von Gottes Willen genau jenen Rückzug des menschlichen Geistes auf sich selbst darstellt, der die Sündenherrschaft festigt. Zu betonen, dass die Fülle der Gnade beim Abendmahlsteilnehmer vom Glauben des Kommunikanten abhängt, ist eine verständliche Reaktion auf den mechanischen Ansatz ohne die Gnade, womit Gottes Gegenwart automatisch gewährleistet wurde; doch die populäre Frömmigkeit deutete dies rasch so, dass die äußere Form einen rein praktischen Weg zur Verstärkung der geistigen Lektion bildet und keinen gemeinschaftlichen objektiven Akt, Gott eindringlich zu bitten, durch das tatsächliche Wirken des Geistes von sich selbst und von seinem Werk in Christus Zeugnis abzulegen. Der Glaube an die bedingungslose Hoheit der Gnade bedeutet nicht, dass wir die Gnade eher in unseren privaten Erfahrungen als Einzelne am Werk sehen müssen als anderswo, ganz im Gegenteil. Der Glaube relativiert private Erfahrungen genauso maßgeblich, wie er gemeinsame Erfahrungen relativiert. Unser gemeinsames Gebet führt uns hin zur bleibenden Wirklichkeit der Schrift und des Sakraments als objektive Zeugen von Gottes |64| Handeln, unabhängig von unserer subjektiven Befindlichkeit oder unseren Bestrebungen.

15. Wie die richtig verstandene reformatorische Theologie die Polarität zwischen Gemeinde und Einzelnen mit dem Hinweis auflöst, dass Gott beiden gegenüber frei handelt, so löst sie auch das quälende und hartnäckige Gefühl von Rivalität zwischen Gott und der Schöpfung auf – eine Rivalität, die wie oben festgestellt viele zur Annahme führt, dass Gott zu entthronen sei, damit die Menschheit frei werde. Gottes Souveränität ist nicht nur eine überhöhte Art der menschlichen Macht. Wenn wir dies begreifen, erkennen wir allmählich die radikalen Implikationen der Erschaffung des Menschen nach dem Bilde Gottes und der Absicht Gottes, dem Menschen über Jesus Anteil am göttlichen Leben zu verleihen. Wie Calvin richtig erkannte, ist diese Einsicht für reformatorischeTheologie nur dann störend, wenn die Würde oder das Gedeihen der Menschen für Gott bedrohlich sein kann, was ex hypothesi undenkbar ist. Die kompromisslose Betonung der absoluten Differenz von Gottes Macht sollte zu einer verstärkten theologischen Bekräftigung der menschlichen Würde führen: Kein Tribut, der der endlichen Menschheit gezollt wird, tut dem, was Gott geschuldet wird, in irgendeiner Weise Abbruch. Götzendienst bedeutet, der Schöpfung das zuzuschreiben, was allein Gott gehört, d. h. Geschöpfe mehr denn nur als Geschöpfe zu behandeln. Die wahre christliche Herausforderung besteht darin, die Menschheit für das zu lieben und zu verehren, was sie ist – sterblich und verletzlich und doch unermesslich glorreich, weil Gott sie als Ort der göttlichen Offenbarung und Wirkung geschaffen hat. Um die Brücke zu den oben behandelten Themen zu schlagen: Unsere Fähigkeit zu radikaler Selbstbefragung als Individuen und als Gesellschaft wird durch diese grundlegende Überzeugung möglich, dass unsere sterbliche und fehlbare conditio humana in ihrer Zerbrechlichkeit von Gott, der das Menschsein erlöst und umwandelt, aber nie aufhebt, bestätigt wird. Mit andern Worten: Wir können alles an unserem Menschsein in Frage stellen – seine genauen Fähigkeiten, Gewohnheiten und Verhaltensweisen – und wir können die gefallene Natur mit fast schon ätzendem Pessimismus betrachten, aber wir können nicht an der Würde zweifeln, die Gott uns ohne Bedingungen verliehen hat – ein Gott, der nicht eifersüchtig ist auf unser Menschsein, weil das göttliche Leben nicht denselben Raum bewohnt wie wir.

16. Dass die reformatorische Theologie es vermochte, diese Aussage zu formulieren, verleiht ihr in den heutigen kulturellen Kämpfen Bedeutung. Christliche Hoffnung zu verkünden bedeutet keineswegs, die |65| Fähigkeiten oder den Charakter des Menschen optimistisch zu schildern; die theologische Perspektive erlaubt uns, das Schlimmste zu befürchten (genauso wie in der populären Assoziation der Denkweise von Augustinus und von Calvin), aber sie erlaubt uns nicht, geringer von unserem Menschsein zu denken, als der Schöpfer es tut. Indem sie uns die Sprache und die Welt der Schrift als das Haus vorschlägt, das wir gemeinsam bewohnen, und als den Dialekt, den wir sprechen, vermittelt sie uns, dass wir eine Richtung und sogar eine Transformation finden könnten, wenn wir die Geschichte von Gottes Umgang mit einem Volk, mit dem er einen Bund abschließt, zu unser eigenen machen. Wer von christlicher Hoffnung spricht, spricht von der Treue Gottes; unsere gesellschaftliche Vision beruht auf dem Glauben an einen Gott, der aus freien Stücken verspricht, der Gott jener zu sein, die seine Liebe weder verdient noch erzwungen haben. Die radikale Andersheit der göttlichen Liebe und Hingabe und demzufolge die nicht reduzierbare, geheimnisvolle Tragweite von Gottes Wahl beinhalten eine systematische Verehrung der Menschen, unabhängig von ihrem Status, von Leistung oder ethischem Verhalten. Alle gehören potenziell zur Geschichte der unvorhersehbaren göttlichen Treue und zur Geschichte der Schrift, in der wir gemeinsamen Boden finden.

17. Dieses Erbe fordert verschiedene negative Kräfte heraus. Es legt Gewicht auf ein Reifwerden, das mit dem Sich-selbst-Infragestellen umgehen kann, und stellt so die Publikums- und Medienkultur infrage, bei der die Verwaltung der persönlichen Bilder im Vordergrund steht. Ein offener, ehrlicher Austausch in der persönlichen und öffentlichen Auseinandersetzung ist dafür wesentlich. Dazu muss grundsätzlich die Bereitschaft bestehen, die eigenen Träume, unangreifbar im Recht zu sein, zum Schweigen zu bringen. Angesichts der vagen Spiritualität, die leicht in tröstliche und sentimentale «Innerlichkeit» umschlägt, ist die öffentliche und persönliche spirituelle Praxis notwendig, um aufmerksam und genau zuzuhören und für das bereit zu sein, was dem faulen Ich nicht angenehm ist – altmodisch gesagt, um auf die «Stimme Gottes» zu hören. Im Unterschied zum allgemeinen Widerwillen, in mehr als lokalen oder kommunalen Erzählungen zu denken, bietet dieser Ansatz eine universale Erzählung der göttlichen Gnade und Wahl, die sich auf einzigartige Weise in der Schrift niederschlägt und sich auf Ereignisse konzentriert, in denen das echte Bild des Menschseins im gekreuzigten und auferstandenen Christus wiederhergestellt wird. Calvin selbst weist den Gedanken von sich, dass unsere Rettung nur in einer formalen, äußerlichen und mechanischen Beziehung zu einem Christus steht, der uns für |66| gerecht erklärt hat, aber keinen echten Wandel in uns bewirkt: «Er teilt mit uns sein Leben und alle Segen, die er vom Vater erhalten hat.» (Bibelkommentar zu Joh 17, 21).

18. Entgegen der angstvollen fundamentalistischen Religion bekräftigt die reformatorische Tradition einen Gott, der von unseren Bemühungen und Erfolgen weder überzeugt werden kann noch muss: Die Sprache unseres Glaubens und besonders unseres Gebets wird bestimmt von der Dankbarkeit für die unverdiente, grundlose Liebe und Vergebung und von der Dankbarkeit gegenüber Gott, dass er Gott ist. Entgegen auch einem rebellischen oder missgünstigen Atheismus, der fremder und zwingender Macht gegenüber misstrauisch ist, präsentiert die Reformation einen Gott, der kein Interesse daran hat, seine Geschöpfe herabzusetzen und dessen uneingeschränkte souveräne Freiheit so weit geht, dass er diese Geschöpfe keineswegs schikanieren oder nötigen muss; Gottes freier Wille ist ein Wille der Vergebung, der Heilung und der Weitergabe der göttlichen Liebe und Wonne an die Schöpfung.

19. Hier zeichnen sich die Umrisse einer Theologie ab, die eine anspruchsvolle spirituelle Disziplin voraussetzt, einen nüchternen und bedachten Gebetsstil, eine Freiheit, die eigene Integrität ständig und ohne Panik prüfenden Blicken auszusetzen und dasselbe für die Gemeinde und ihre Einrichtungen zu tun, ein christozentrisches Verständnis der menschlichen Geschichte und eine radikale politische Vision, die Ungleichheiten und willkürliche Herrschaft jeder Art infrage stellt. Kurz: Die Leitthemen der wirklichen reformatorischen Theologie stellten nicht nur die radikalsten Ideen und Gedanken der Kirchenväter wieder her; sie bieten auch eine ebenso starre und profunde Hilfe zum Umgang mit den heutigen gesellschaftlichen Krisen an wie die Tradition der katholischen Soziallehre – nicht als konkurrierende, sondern als komplementäre Auffassungen, wobei der Beitrag der reformatorischen Tradition vor allem in der Betonnung der unvergleichlichen Souveränität Gottes liegt, die uns von der moralischen Beurteilung von Verdiensten befreit und uns einlädt, in unseren Taten und Beziehungen die «grundlose» Treue zum Liebesversprechen, das zu Gott gehört, zu widerzuspiegeln.

20. Die größten Theologen der Reformation waren keine Zeloten, die die Geschichte und die Symbole aus der christlichen Gesinnung löschen wollten, noch waren sie Individualisten, die sich der Autonomie ihres Gewissens verpflichtet hätten, noch Theokraten, die der ganzen menschlichen Gesellschaft eine unveränderte Version des mosaischen Gesetzes aufzwingen wollten, noch Rationalisten, die, von Wörtern besessen, |67| Schweigen und Zeichen hintanstellten, noch biblische Literalisten mit einem mechanischen Inspirationsmodell. Versehen der Geschichte brachten das reformatorische Christentum jedoch in unterschiedlichen Zusammenhängen mit all diesen Kreisen in Verbindung; natürlich gibt es bei Luther, Calvin, Melanchthon oder Zwingli Elemente, die solche Gedanken fördern könnten. Die gängige Vorstellung vom Protestantismus im Westen wird immer noch stark von solchen Klischees beherrscht. Doch um die Wesensmerkmale und den Wert des Erbes der Reformation für die Gegenwart zu formulieren, müssen wir sie aus den grundlegenden Erkenntnissen und Fragestellungen der Reformatoren lösen.

In meinem bescheidenen Beitrag zu diesem Unterfangen habe ich versucht, darauf hinzuweisen, wo wir meiner Meinung nach die Schwerpunkte setzten sollten. Hilfreich und ermutigend war für mich eine Denkströmung in jüngeren Arbeiten zu Calvin, die ihn als humanistischen Gelehrten betrachten, der Erkenntnisse aus den ersten Jahrhunderten des Christentums zu gewinnen versucht und einen neuen Fokus auf die eucharistische Transformation des Gläubigen und der Gemeinde anbietet; kein Logiker, der die allmächtige Freiheit Gottes auf Kosten der Vernunft und der menschlichen Würde etablieren will. Calvin birgt in sich eindeutig ein «tragisches» Element, das besonders in seiner Betonung der gründlichen Verderbtheit der gefallenen Menschen und der (daraus folgenden) Willkür der Prädestination sichtbar wird. Calvin und weitgehend auch die calvinistische Tradition tun sich damit genauso schwer wie Augustinus. Allerdings handelt es sich nur um eine Nebenströmumg seines Denkens, die wir relativieren sollten. Am bedeutsamsten ist die umfassende Erforschung der Leitmotive der erneuerten Theologie, die der menschlichen Reife derart große – politische und psychologische – Freiheit einräumt und gleichzeitig die menschliche Fähigkeit in einem schonungslos realistischen Rahmen behält. Ein christlicher Glaube, der vom Gläubigen keinerlei Bevormundung verlangt, ist wohl das wichtigste Streben der Reformation des 16. Jahrhunderts; dieses Bestreben ist heute gebotener denn je, wenn der christliche Glaube überzeugen, gewinnen und bekehren soll.

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Ulrich H. J. Körtner, Wien

Exklusiver Glaube – Das vierfache «Allein» reformatorischer Theologie18
1. Reformatorische Theologie

Wenn wir darüber nachdenken wollen, was es heute bedeutet, evangelisch zu sein, müssen wir zunächst zwischen «evangelisch» und «protestantisch» unterscheiden. Das bevorstehende Reformationsjubiläum 2017 bietet Anlass, sich auf die zentrale Botschaft der Reformation zu besinnen, die das Evangelische im Sinn des Evangeliumsgemäßen neu zur Geltung gebracht hat. Das Evangelium von Jesus Christus aber ist ein kritischer Maßstab für die Verkündigung aller Kirchen und Konfessionen, der sich durchaus gegen bestimmte Entwicklungen und auch heutige Tendenzen im Protestantismus richtet. Die Frage, was heute evangelisch ist, soll auch nicht allein als Ausdruck konfessioneller Selbstvergewisserung, sondern in ökumenischer Weite gestellt werden. Ich verstehe das Reformationsjubiläum als Einladung an alle Kirchen und Konfessionen, darüber nachzudenken, inwiefern die Einsichten der Reformation von ökumenischer Tragweite sind, wenn es heute darum geht, sich auf das Evangelium und das Evangeliumsgemäße zu besinnen.

Die nachfolgenden Ausführungen gehen davon aus, dass die Lehre von der bedingungslosen Annahme und Rechtfertigung des Gottlosen und die aus ihr abgeleitete Kirchenkritik zwar nicht der alleinige Inhalt, wohl aber das theologische Herzstück reformatorischer Theologie sind. In ihnen gründen das evangelische Verständnis christlicher Freiheit wie auch das evangelische Kirchenverständnis und sein Kerngedanke vom Priestertum aller Gläubigen.

Nach reformatorischer Auffassung beruht die Rechtfertigung auf der bedingungslosen Vorgabe des Heils und damit auf der klaren Unterscheidung zwischen dem empfangenden und dem tätigen Wesen des Glaubens. Diese Unterscheidung wird durch ein Geviert von Exklusivbestimmungen zum Ausdruck gebracht, deren Sinn für die Gegenwart erschlossen werden soll: Allein durch den Glauben – sola fide – wird der |69| Mensch vor Gott gerechtfertigt, und zwar durch den Glauben an Jesus Christus, weil allein Christus – solus Christus – das Heil und die Rettung des sündigen Menschen erwirkt. Das geschieht allein aus Gnade – sola gratia – und wird gültig bezeugt allein durch die Schrift – sola scriptura – als der Quelle und dem Maßstab des rechtfertigenden Glaubens, des Lebens aus dem Glauben, aller Verkündigung und der Theologie.

Die Pointe der reformatorischen Botschaft erschließt sich nur, wenn man beachtet und bedenkt, wie sich die vier genannten Exklusivpartikel gegenseitig interpretieren. Keine von ihnen darf isoliert genommen werden. Dass das Heil des Menschen allein an Gottes Gnade hängt, konnte auch die katholische Kirche des Spätmittelalters sagen. Und auch das Konzil zu Trient hat in seinem Dekret über die Rechtfertigungslehre die Alleinwirksamkeit der göttlichen Gnade aussagen können – jedoch so, dass diese eben nicht mit der Alleinwirksamkeit des Glaubens gleichgesetzt wurde. Was reformatorisch unter Glauben zu verstehen ist, wird aber auch verdunkelt, wenn man unter Glauben ein allgemeines Urvertrauen, Transzendenzbewusstsein oder Bewusstsein schlechthinniger Abhängigkeit versteht, das allen Menschen mehr oder weniger eigen sein soll. Glaube im reformatorischen Sinne ist Glaube an Jesus Christus als den alleinigen Grund göttlicher Annahme und Vergebung. Was das bedeutet, muss allerdings, wie sich noch zeigen wird, trinitätstheologisch erschlossen werden. Die Rechtfertigung des Sünders um Christi willen ist ein trinitarisches Geschehen. Woher aber wissen die Glaubenden das alles? Worauf gründen sie ihr Vertrauen und ihre Zuversicht? Darauf antwortet die reformatorische Tradition, dass es die Bibel Alten und Neuen Testaments ist, die dies auf gewiss machende Weise bezeugt, weil in ihr Christus selbst zu hören ist.

Der rechtfertigende Glaube ist also nach reformatorischem Verständnis exklusiver Glaube – exklusiv in dem Sinne, dass er allein das Heil bewirkt. Doch erschließt sich dieser exklusive Glaube nur durch das Geviert der sich wechselseitig interpretierenden reformatorischen Exklusivpartikel, wobei dem solus Christus der Primat gebührt, ist doch der Glaube im reformatorischen Sinne wohl eine menschliche Tat, aber kein menschliches Werk. Im Glauben ist der Mensch auf eigentümliche Weise passiv, weil das Glaubenkönnen eben kein menschliches Vermögen und keine von der Natur mitgegebene Begabung, sondern eine unverfügbare Gabe ist und bleibt. Die Tat des Glaubens aber besteht darin, der Christusbotschaft – dem Evangelium – Glauben zu schenken und darauf im Leben und im Sterben zu vertrauen. |70|

Solch ein exklusives, nämlich christologisch zugespitztes Verständnis von Glauben erweist sich nicht nur in der Vergangenheit, sondern auch heute als anstößig. Mit einem sola gratia mag man sich ja für sich genommen vielleicht noch halbwegs anfreunden. Aber müssen die Exklusivpartikel reformatorischer Theologie in einer pluralistischen Kultur und im Dialog der Religionen nicht ermäßigt werden? Ist das solus Christus nicht enorm intolerant gegenüber nichtchristlichen Religionen? Untergräbt das sola fide nicht jede Ethik und jedes Engagement zur Weltverbesserung? Und lässt sich das sogenannte reformatorische Schriftprinzip, also das sola scriptura, angesichts der Befunde historisch-kritischer Kanonforschung überhaupt noch begründen?

Nun wird bisweilen auch noch eine fünfte Exklusivpartikel genannt, wenn man die Botschaft reformatorischer Theologie zu bündeln versucht: solo verbo – allein durch das Wort. Daran ist richtig, dass sich der Glaube nach evangelischem Verständnis an das Wort hält, das den Menschen Gottes Gnade und Vergebung bezeugt und zuspricht. Das Glauben provozierende und bezeugende Wort wird als Gottes Wort im Menschenwort verstanden, das letztlich den bezeugt, der als Gottes lebenschaffendes und befreiendes Wort in Person begriffen und geglaubt wird, nämlich Jesus Christus. Auch wenn sich die Formel solo verbo gelegentlich bei Luther findet, so ist ihre Zuordnung zu den reformatorischen Exklusivpartikeln doch erst neueren Ursprungs, nämlich eine Auswirkung der Wort-Gottes-Theologie im 20. Jahrhundert. Gegenüber der Reformationszeit finden in der Wort-Gottes-Theologie aber durchaus inhaltliche Verschiebungen und Neuakzentuierungen statt. Das solo verbo kann auch, wie z. B. bei Eberhard Jüngel,19 an die Stelle des sola scriptura treten und erweist sich damit als Reaktion auf die viel diskutierte Krise des reformatorischen Schriftprinzips. Ich werde im Folgenden bei den vier klassischen Exklusivpartikeln reformatorischer Theologie bleiben und ihr hermeneutisches Potenzial auszuloten versuchen. Das solo verbo möchte ich weder neben noch an die Stelle des sola scriptura setzen, sondern als ein Interpretament verstehen, das sich auf alle vier Exklusivpartikel anwenden lässt, weil es in allen vier Fällen den grundlegenden Zusammenhang von Wort und Glauben thematisiert. Dieses Interpretament ist freilich gegen manche Verengungen zu schützen, die der Wort-Gottes-Theologie |71| von Kritikern zur Last gelegt werden, welche die Wortlastigkeit und das Erfahrungsdefizit evangelischer Gottesdienste bemängeln.20 Es sollte auch nicht vorschnell zum kontroverstheologischen Unterscheidungsmerkmal erklärt werden, um die konfessionelle Differenz zwischen evangelischer und katholischer Tradition zu markieren, wie es gelegentlich in der Auseinandersetzung um die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre (GER) geschehen ist.21

Allerdings bleibt die Frage bestehen, ob die Pointen der reformatorischen Rechtfertigungslehre – bei allem Verständnis für das Bemühen um ökumenischen Konsens – in der Gemeinsamen Erklärung hinreichend gewahrt bleiben. Doch wollen wir uns im Folgenden nicht vornehmlich mit dem Stand des ökumenischen Gespräches zur Rechtfertigungslehre beschäftigen, sondern der Frage nachgehen, inwieweit die reformatorischen Exklusivpartikel eine Hilfe bieten, um die Rechtfertigungslehre für die Gegenwart zu erschließen und verständlich zu machen.

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