Kitabı oku: «Affektivität und Mehrsprachigkeit», sayfa 4

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Wobei man da auch sagen muss, dass auch Darius Kopps Text bei mir in einer Datei steht und auch dort ist Seite 318 eventuell älter als Seite 1. Sie wissen ja nicht, wie das zeitlich entstanden ist, aber es präsentiert sich Ihnen als Einheit, während Floras Text, noch dazu durch die auf Ungarisch belassenen Überschriften, erstens immer wieder unterbrochen wird und zweitens nochmal unterbrochen wird, weil die Aufschrift unverständlich ist. Das ist ein ungarisches Wort und entweder Sie verstehen es oder auch nicht.

Ich glaube, theoretisch ist der ungarische Hilfstext schon Teil des Originals, in etwa so, wie die Apokryphen Teil der Bibel sind.

[Lesung aus Das Ungeheuer]

Wir haben vor der Veranstaltung darüber gesprochen, dass der Text zweigeteilt ist. Sie haben gleich gesagt, dass Sie den Darius lesen wollen, aber jetzt auch nochmal vor dem Hintergrund der zwei Sprachen: Was trägt der Teil unter dem Strich?

Ich verweise hier noch einmal auf den Begriff Apokryphen. Das, was unter dem Strich steht, ist Floras Version, und zwar nur über ihr eigenes Leben. Vielleicht haben das auch schon einige von uns miterlebt. Der Partner hat ein Tagebuch und erwähnt einen darin nicht. Das kommt relativ häufig vor. So auch hier. In ihrem Tagebuch geht es ausschließlich um sie selbst, um ihre Vergangenheit, ihre Mutter, ihre Großmutter, ihr Leben noch vor Darius Kopp, als alleinstehende Ausländerin im Kulturbereich, und alles, was da passiert, ist relativ furchtbar. Wobei es ziemlich alltäglich ist. So leben wir. In einem Jammertal. Der eine reagiert so darauf, der andere so. Flora so, dass sie zunehmend depressiv wird. Sie versucht Sinnvolles zu tun, in diesem Fall, Übersetzungen zu machen, aber sie bringt nichts zu Ende und schließlich scheitert sie auch, was den Rest ihres Lebens und ihre Krankheit anbelangt. Es geht irgendwann fast nur noch um die Krankheit, die gegen Ende mit dem Verlust der Sprache einhergeht, sie redet immer, immer weniger, und je weniger Sprache da ist, umso weniger Leben ist da, bis am Ende alles zerfällt und nichts mehr da ist. Was unten passiert, ist also, dass jemand dem Tod entgegengeht, der Vernichtung, der Nicht-Existenz, und das sieht man daran – so zumindest meine Intention –, dass die Sprache immer gebrochener, zerbrochener wird. Und Darius oben sortiert sich immer mehr, seine Sprache ist nicht so schwankend, die ist relativ gleichbleibend, das passt eher zu seiner Figur. Er ist ganz anders gestrickt.

Ich fand es interessant beim Zuhören, dass das Stück, was Sie vorgelesen haben, mit dem Bild des Fadens endet. Der Lebensfaden verlangt einen konsistenten Text, das ist auch der Erzählfaden, und das ist das, was reißt oder was lange zu reißen droht und dann auch gerissen ist. Meine Frage zielt darauf, inwiefern die Vorstellung eines linearen Erzählens im Text unter dem Strich unterbrochen ist.

Natürlich.

Nicht nur das Dateiformat, worüber wir schon gesprochen haben, sondern auch weil es ganz unterschiedliche Texte sind.

Ich habe mich tatsächlich dazu entschlossen, das so fragmentarisch zu machen, aber ich dachte mir: insbesondere bei so einem Text muss es eine minimale Entwicklung doch geben, es ist eh schon schwierig genug zu lesen. Deswegen gibt es auch in diesen Fragmenten, auch trotz der zeitlichen Intransparenz (siehe oben: wann ist welche Datei entstanden) einen nachvollziehbaren zeitlichen Ablauf. Am Anfang der Aufzeichnungen war Flora um die 20, am Ende, als sie gestorben ist, ist sie 30+. Das heißt, die Figur verändert sich ein bisschen und die Krankheit schreitet fort, und das gibt dann eine kleine Bewegung in den Texten, die ansonsten viel um sich selbst kreisen. Bei Lesungen lese ich deswegen immer nur Darius Kopp, weil es bei ihr schwierig ist, einen Bogen vorzulesen. Bei ihm passiert A und dann B und bei ihr passiert nicht wirklich was. Ein bisschen was passiert, aber es sind immer nur so punktuelle Sachen, die Bögen sind viel länger, man kann im Laufe einer Lesung nicht wirklich weiterkommen.

Ich habe mich gefragt, was eigentlich das Ungeheuer ist. Das Ungeheuer steht für die voranschreitende Depression der Protagonistin Flora. Aber könnte man auch sagen, dass der Strich das Ungeheuer ist? Dieser Strich, der anzeigt, dass Flora keinen Platz im Haupttext des Lebens hat?

Ich habe mehrere Vermutungen oder Gedanken dazu, was das Ungeheuer ist. Die möchte ich aber nicht sagen, denn das wäre ja blöd. (Publikum lacht.)

Die Interpretation mit dem Strich würden Sie aber nicht von sich weisen, oder?

Nein, das würde ich nicht von mir weisen. Hauptsächlich kommt das Ungeheuer aber aus einem Gedicht von Ágnes Nemes NagyNemes Nagy, Ágnes, einer großartigen, bereits verstorbenen ungarischen Dichterin. Das ist ein ganz gruseliges Gedicht, und natürlich ist das Ungeheuer zum einen die Krankheit, die Flora abtrennt von der Welt der Gesunden, aber auch ihr Status und ihr Nicht-Klarkommen. Durchaus ist das Ungeheuer etwas, das in Flora wohnt und das Flora umbringt. Aber ich weise auch in Zusammenhang mit der me too-Debatte darauf hin – Achtung, Spoiler! –, dass auch oben etwas ist, dass auch Darius Kopp vielleicht nicht ganz un-ungeheuerlich ist. Durchaus könnte auch er das Ungeheuer sein. Natürlich ist er das nicht von Anfang bis Ende und immer. Aber hauptsächlich ist das Ungeheuer, von dem hier die Rede ist, das von Ágnes Nemes NagyNemes Nagy, Ágnes, wovon bisher niemand etwas weiß, aber ich habe es Ihnen jetzt erzählt.

Ich habe mal die Wortbedeutung von ‚Ungeheuer‘ nachgeschlagen und dabei herausgefunden, dass das, was nicht geheuer ist, auch das ist, was nicht zum Hauswesen gehört, also kein Zuhause hat.

Oh! Tatsächlich! Das erinnert mich an ‚das Unheimliche‘.

Genau! Aber das Wort ‚geheuer‘ ist heute nicht mehr üblich.

Ja, das erkennen wir nicht so gut wie das ‚Heim‘ im ‚Unheimlichen‘. Danke, jetzt weiß ich es und ich kann es beim nächsten Mal einsetzen.

Ja, das heißt nicht-beheimatet sein und keinen Ort haben. Auch dieser Ort unter dem Strich ist ja eben kein Ort oder vielleicht auch ein heimlicher Ort und heimlicher Text.

Oh, sehen Sie, wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich den Text auch „Der heimliche Text“ nennen können. Jetzt ist es „Der geheime Text“.

[Lesung aus Das Ungeheuer]

Kann hier jemand Ungarisch? (Nein aus dem Publikum.)

Schade. Sonst hätte ich Ihnen noch das Grusel-Gedicht auf Ungarisch vorgelesen. Dazu muss man folgendes sagen, apropos der ‚geheime Text‘: Als ich in Salzburg war, dachte ich, das ist ja Österreich, das ist quasi nebenan und es werden bestimmt ungarische Studenten da sein. Ich hielt meinen ersten Vortrag mit zahlreichen ungarischen Einsprengseln und sie fielen in diesen Raum hinein, fielen vor meine Füße und verendeten, denn niemand in dem Raum konnte Ungarisch.

Und da ist es mir klargeworden, wie müssen meine einsprachigen deutschen Texte mit geheimen Zitaten auf den einsprachigen deutschen Leser wirken? Nämlich genau so: dass das nicht klingt. Ich weiß jetzt tatsächlich nicht, was Sie lesen, wenn Sie das lesen, weil ich es selbst ganz anders lese.

Aber ich kann natürlich die Fremdheit wahrnehmen und kann darüber auch Betrachtungen anstellen.

Natürlich, das können Sie schon …

Es ist schon mühsam, vor allem durch die Unterteilung. Es ist eine Herausforderung, diesen Text zu lesen, nicht nur weil er unendlich traurig ist an vielen Stellen, sondern weil er wirklich im praktischen Sinne schwer zu lesen ist. Das würde ich schon sagen, aber weniger wegen des Ungarischen als tatsächlich dieser ganz ungewohnten Trennung.

Aber ich hoffe, Sie haben die Seite dann nicht so gelesen: immer von oben nach unten.

Nein, nein.

Was sehr auffällig ist bei der Flora, der wirklich nichts geschenkt wird und die sich auch viele schwere Gedanken dazu macht, dass Sie hier gleichzeitig das erste Mal eine weibliche Figur stark machen, die all diese Lasten tragen muss. Sie haben ja, als Sie anfingen zu schreiben, gesagt, komisch, irgendwie schreibe ich immer Männer, und jetzt ist da diese Flora und schreibt auch noch selbst. Und dann muss sie das alles tragen.

Ich weiß nicht, ob sie das stark macht. Ich meine, ich nehme eine weibliche Person und zerstöre sie. Im Übrigen habe ich mit weiblichen Figuren angefangen, aber es waren Kinder, und das ist was vollkommen anderes als eine erwachsene weibliche Figur zu haben. Sie hat durchaus ihre Stärke, indem sie es schafft, präsent zu sein. Auch mit Verweigerung kann jemand natürlich sehr präsent sein. Ich fühle mich ein wenig schlecht, dass ich jemanden zerstöre, aber es muss jemand zerstört werden. Sie hat sich dafür besser angeboten als er. Außerdem ist es eine Trilogie und Darius muss demzufolge alle drei Teile überleben oder zumindest die ersten zwei.

Ich vermute auch, dass es mit ihm eigentlich nicht gut ausgehen kann, aber das ist nur eine Spekulation. Da wir aber jetzt über die Frage sowohl der Mehrsprachigkeit als auch der Mehrstimmigkeit, die sich durch diese Aufteilung ergibt, gesprochen haben, würde ich die Frage nach dem Geschlecht der Figur auch nochmal vor diesem Hintergrund anbringen wollen. Weil sie ja eine schweigende Figur ist und schreibt dieses Tagebuch. Tief in ihrem Inneren, glaube ich, wäre sie gerne Schriftstellerin. Sie haben gesagt, sie arbeitet oder versucht als Übersetzerin zu arbeiten, aber man kann es an einigen Stellen durchaus so verstehen, dass sie selber schreibt. Und sie liest auch interessanterweise Literatur von anderen Autorinnen.

Ja klar, sie ist eine Leserin, das muss man sagen.

Sie liest sehr viel, sie liest aber eben auch forciert andere Schriftstellerinnen, das ist ja nicht selbstverständlich. Auch die Lyrikerin, die sie genannt haben, ist dafür ein Beispiel, es gibt andere. Haben Sie schon mal überlegt, was das bedeutet, dass Flora durch die Tagebuchform auf die autobiographische Schiene fällt? Was wiederum auch ein Klischee….

… ach so, ob das sozusagen die weibliche Form ist, ob die Biographie, das Tagebuch, ob das den Frauen so zugeschriebene Formen sind? Meine Herangehensweise ist beim Schreiben eine viel zu pragmatische, als dass ich Angst vor Klischees haben könnte. Oder mir diese erlauben könnte. Ich habe mir gesagt: wir brauchen hier die hinterlassenen Texte einer toten Figur, was haben wir da für Möglichkeiten? Dann entschied ich mich für diese Möglichkeit, das heißt diese Dateien, die manchmal tagebuchartig sind und manchmal nicht. Ich mache mir in dem Moment keine Gedanken darum, ob das gut zu einer Frau passt. Die Figur war nun einmal weiblich. Natürlich hätte es auch die Möglichkeit gegeben, das fällt mir jetzt erst ein, Floras geheimen Roman zu schreiben. Dann hätten wir zwei Romane in einem. Der hätte immer noch fragmentiert sein können. Ich bin nicht auf die Idee gekommen. Vielleicht bin ich feministisch nicht gut genug geschult dafür. Oder, wer weiß. Man kann darüber unmöglich eine sinnvolle Aussage treffen.

Sie hätte auch einen Roman schreiben können?

Sicher, aber so, wie die Dinge stehen, müssen wir uns damit abfinden, dass eine andere Frau, nämlich ich, einen Roman geschrieben hat. Ich bin mir nicht sicher, ob es eine gute Verfahrensweise wäre, eine weibliche Figur um Gottes Willen nichts machen zu lassen, was man gemeinhin dem Weiblichen zuordnet. Das würde die Figur und das ganze Erzählen, das würde die Autorin unnötig einschränken, und das wollen wir doch nicht? Ich denke, sowohl Männer als auch Frauen schreiben Tagebücher. Sind es nicht sogar Tagebücher von Männern, die wir als literarische Tagebücher rezipieren?

Ja, aber vor dem Hintergrund der Frage, ob Frauen überhaupt Kunst produzieren, vor diesem Hintergrund ist es tendenziell zuerst das autobiographische Schreiben, das ihnen zugebilligt wird.

Ich glaube, das ist seit einer Weile nicht mehr so. Tatsächlich hieß es lange, Frauen sind Lyrikerinnen in Ungarn. Ágnes Nemes NagyNemes Nagy, Ágnes wurde vorgeworfen, sie würde zu wenig weiblich schreiben, sie würde über ihr Frausein nicht schreiben, alles Anfang des 20. Jahrhunderts. Die Prosa-Autorinnen, die es heute in Ungarn gibt, sind heftig und so krass, das ist unglaublich. An die ich jetzt denke, die kennt man hier natürlich alle nicht, man kennt hier die Männer mit den schönen Haaren. Die ungarischen Autorinnen sind unglaublich radikal, sehr feministisch, sehr körperlich, sehr provozierend, und ich muss sagen, mir bleibt jedes Mal die Spucke weg. Ich würde mich das nicht trauen. Aber ich muss mich das auch nicht trauen, weil ich Romane schreibe. Tatsächlich. Die radikalsten ungarischen Autorinnen schreiben nicht die langen Romane, sie nutzen andere, kürzere und amorphere Formen.

Meine letzte Frage dazu wäre vielleicht, inwiefern diese Geschlechterhierarchie auch nochmal bezogen auf die Sprachenhierarchie, die es ja offensichtlich gibt, reflektiert wird oder wie das miteinander zusammenhängt.

Gewisse Sachen kann man nicht. Wenn man einen Roman schreibt unter dem Strich durch die Mitte der Seite, dann hat man ein Oben und Unten, egal was unten hinkommt, das ist dann immer das Sublative. Es ist so, dass unter dem Strich die Frau ist und die Ausländerin, die von vielen nicht verstandene Sprache, ja, es ist halt unten. Sie können nicht alle an einem Ort sein.

Ich kann dazu Folgendes sagen, ich habe mich für die radikale Linie entschieden und nicht für die andere Lösung, die es auch gegeben hätte, sozusagen ihn und sie abwechselnd zu haben. Dann würde es ja so aussehen, als wäre alles auf einer Ebene. Ich habe mich ganz offensichtlich nicht dafür entschieden. Und ich habe das für mich so formuliert: Ich habe mich dagegen entschieden, ihre Texte zwischen seine zu schieben, was bedeutet hätte, seine sind der Haupttext und ihre sind dazwischengeschoben, was aber hauptsächlich damit zu tun hat, dass die Frau tot ist. Der, der lebt, ist immer dominant, weil er seinen Text noch sprechen und weiterschreiben kann. Er hat, solange er lebt, unendliche Möglichkeiten, seinen fortzusetzen, während ihrer fertig ist, da gibt es nichts mehr. Ich habe mich dafür entschieden, ihr einen Rahmen zu geben, eine Linie, die er nicht überschreiten kann, ich wollte nicht, dass der Text der Toten sich einfügt, er sollte ‚aus der Unterwelt heraus‘ nerven. So kann er sich immer melden, während du versuchst, oben ‚in Ruhe‘ etwas zu lesen. Unten passiert irgendetwas und fordert dich damit heraus, dich dazu zu verhalten. Und selbst wenn du dich dazu entscheidest, es zu ignorieren, hast du dich dazu entschieden, es zu ignorieren, und du weißt, dass du dich dazu entschieden hast, also hast du den Text unten doch nicht ganz ignoriert. Auch wenn unten gerade nichts steht, was zwischendurch auch vorkommt, registrierst du das mit dem peripheren Sehen, und auch dieses Nichts ist etwas.

Wie würde ich es darstellen, wenn es zwei Männer wären oder zwei Frauen? Es wäre immer so, dass dem, der unten ist, unterstellt würde, dass er der Unterdrückte ist, natürlich, und der, der oben drauf sitzt, ist halt immer der Dominante. Aber natürlich gehört jetzt auch dazu, dass ich in Deutschland einen Roman auf Deutsch geschrieben habe, wo der deutsche Text oben ist und der Übersetzte unten. Das ist hier auch die Situation, weil meine Hauptsprache, in der ich schreibe, die deutsche ist, also ist sie oben.

Affekt und Sprachkritik
Eine Kulturpolitik des Affekts? Zum Umgang mit Mehrsprachigkeit im Zürcher Dada – mit einem Seitenblick auf Ferdinand de Saussure

Till Dembeck

EsSaussure, Ferdinand de ging hoch her in Zürich 1916, als Dada im Cabaret Voltaire erfunden wurde. Glaubt man den einschlägigen Berichten der Beteiligten, so lösten die künstlerischen Experimente, die dort zur Vorführung kamen, in einem unerwarteten Maße affektive Reaktionen aus. Bereits am 26. Februar, also nicht einmal einen Monat nach Eröffnung, notiert Hugo BallBall, Hugo: „Ein undefinierbarer Rausch hat sich aller bemächtigt. Das kleine Kabarett droht aus den Fugen zu gehen und wird zum Tummelplatz verrückter Emotionen.“1 Am 11. April endet die Ankunft einer „Gesellschaft holländischer Jungs“ mit dem allgemeinen Ausbruch einer Tanzwut, die „sich bis auf die Straße“ fortsetzt;2 und am 3. Juni gerät Emmy HenningsHennings, Emmy Tochter Annemarie bei einer Soiree „ob all der Farben und des Taumels außer Rand und Band.“3

Es ist zugleich klar, dass man es bei Dada mit einer Bewegung zu tun hat, die in vielerlei Hinsicht mit dem sogenannten ‚Einsprachigkeitsparadigma‘ bricht, dem in der Forschung bescheinigt wird, in engem Verbund mit Kulturpolitiken der Nationalisierung das gesamte 19. Jahrhundert geprägt zu haben. Was läge also näher als die Frage, inwiefern die literarische Mehrsprachigkeit von Dada und die affektive Wirkung der Bewegung etwas miteinander zu tun haben: Wenn die affektive Wirkung eines der Ziele des Unternehmens ist – stellt dann Mehrsprachigkeit schlicht eines der poetischen Mittel dar, es zu erreichen, oder bemüht man sich vielmehr darum, die Affektivität von Sprache(n) selbst in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken?

Diesem Problemkomplex möchte ich mich im Folgenden widmen, ausgehend von der Frage, wie sich Dada zur Semantik der Muttersprache verhält, die eine enge affektive Beziehung zwischen Sprecherinnen und ihren Sprachen unterstellt. Die genauere Auseinandersetzung mit drei Dada-Gedichten aus dem Jahr 1916 soll die These plausibilisieren, dass Mehrsprachigkeit gezielt eingesetzt wird, um vor-muttersprachliche und daher in besonderer Weise affektbezogene sprachliche Kreativität freizusetzen. Um die Spezifik des Zugangs von Dada zu Affekt und Mehrsprachigkeit zu erläutern, werde ich u.a. auf ein Schweizer Parallelunternehmen der Jahre 1915/16 zu sprechen kommen, nämlich die Kompilation des Cours de linguistique générale von Ferdinand de SaussureSaussure, Ferdinand de durch Charles Bally und Albert Sechehaye in Genf. Das ursprüngliche Anliegen SaussureSaussure, Ferdinand des, wie man es seinen Notizen entnehmen kann, ist nämlich an eben jener vor-muttersprachlichen Kreativität interessiert, die auch Dada anzapfen möchte. Aus fachpolitischen Gründen wird diese Facette des SaussureSaussure, Ferdinand de’schen Denkens aber im Cours getilgt. Der Kontrast zwischen der Programmatik der Cours-Edition und dem seltsam konsequenzlosen Treiben in Zürich lässt besonders gut erkennen, was die von Dada anvisierte Kulturpolitik des Affekts auszeichnet.

1 Dada und die Semantik der Muttersprache

Die sich dem Dada zuordnenden Künstler haben von Beginn an mehr als nur eine Sprache verwendet und das eigene Tun vor dem Hintergrund eines internationalen Netzwerks gesehen.1 Nicht zuletzt haben die ersten Dada-Manifeste durchweg die plurivalente ‚Sprachigkeit‘ der Bezeichnung ‚Dada‘ hervorgehoben, also, wie man in Robert Stockhammers Terminologie formulieren kann, ihre Zugehörigkeit zu mehr als nur einer langue.2 Hugo BallBall, Hugo beansprucht in seinem Tagebuch die Autorschaft der Bezeichnung, die er folgendermaßen erläutert – und entsprechende Passagen finden sich danach bei anderen Autoren: „Dada heißt im Rumänischen Ja Ja, im Französischen Hotto- und Steckenpferd. Für Deutsche ist es ein Signum alberner Naivität und zeugungsfroher Verbundenheit mit dem Kinderwagen.“3 Man hat es also mit einer erklärtermaßen infantilen Lautfügung zu tun, wenn sie auch alles andere als unschuldig ist, sondern eher „zeugungsfroh“. Es liegt vor diesem Hintergrund geradezu auf der Hand, so folgenreiche von Dada ‚erfundene‘ poetische Techniken wie die sogenannte ‚Lautpoesie‘ oder das Simultangedicht als Verfahren zur Freisetzung von sprachlicher Kreativität zu deuten, die vor die Prägung durch Muttersprachlichkeit, und überhaupt durch Sprachigkeit, zurückgehen sollen.4

Um hier noch klarer zu sehen, lohnen sich einige grundsätzliche Erinnerungen mit Blick auf den Begriff der ‚Muttersprache‘. In der jüngeren Forschung wird das Einsprachigkeitsparadigma – so die Bezeichnung von Yasemin YildizYildiz, Yasemin5 – als Zusammenführung der (mindestens) folgenden Annahmen beschrieben:

1 Sprechen geschieht normalerweise in genau einer Sprache im Sinne von langue, also eines Sprachsystems, das es erlaubt zu entscheiden, was eine korrekt geformte Äußerung ist und was nicht.

2 Sprecher besitzen normalerweise genau eine Muttersprache, die sowohl mit der Sprache ihrer Erstsozialisation als auch mit der Sprache der Nation identisch ist, der sie angehören.

3 Muttersprachler beherrschen ihre Muttersprache und gelten als deren Verkörperung sowie auch als originärer Motor ihrer Weiterentwicklung bzw. ihrer kreativen Verwendung. Einbegriffen ist hier, dass der Muttersprachler ein untrügliches Gefühl für seine Sprache hat und ihr – denn es handelt sich ja um die Sprache, die die Mutter repräsentiert – auf einzigartige Weise affektiv verbunden ist. Keine sogenannte Fremdsprache kann diese Bindung ersetzen.

Es kann an dieser Stelle nicht darum gehen zu erläutern, woher diese Semantik stammt und welche Wirkmächtigkeit sie wann wo genau gehabt hat. Als ihre Urheber werden, halb zu Recht, halb zu Unrecht, immer wieder Dante und Herder gehandelt. Dazu gibt es genug Forschung, vor allem von Thomas P. Bonfiglio und David Martyn.6 Es ist wichtiger zu sehen, welche Spannung der Begriff der ‚Muttersprache‘ im Rahmen des Einsprachigkeitsparadigmas überdeckt: Diejenige nämlich zwischen der vermeintlichen Natürlichkeit des Spracherwerbs und der Tatsache, dass die Überführung der Erstsozialisierungssprache, also der eigentlichen Muttersprache, die man auch als ‚dada‘-Rede bezeichnen könnte, in eine kodifizierte nationale Standardsprache ganz erheblicher kultur- und sprachpolitischer Maßnahmen bedarf. So betrachtet handelt es sich bei der Semantik der Muttersprache um ein Narrativ, das in doppelter Art und Weise dazu dient, an entscheidender Stelle Komplexität unsichtbar zu machen: Die Anstrengungen von Spracherwerb und schulischer Standardisierung, die jeweils als Zusammenspiel von Nachahmungs- und Korrekturversuchen mit grundsätzlich unwahrscheinlichen Erfolgsaussichten zu beschreiben wären, kommen nicht vor. Stattdessen erscheint Sprache mit Blick auf die einzelne Sprecherin als eine Kompetenz, die natürlich und komplikationsfrei aus dem Familienzusammenhang erwächst, mit Blick auf die Sprechergruppe – lies: die Nation – aber als Organismus, in dem und durch den sich das gemeinschaftliche Leben ebenso komplikationslos fortentwickelt. Beides scheint darauf abzuzielen, gesellschaftliche Kohäsion auch angesichts einer Gesellschaftsstruktur zu ermöglichen, die auf funktionaler Differenzierung, Selbstorganisation und massenmedialer Informationsvermittlung aufbaut – lauter Faktoren, die der emotionalen Bindung des Einzelnen an Gesellschaft eigentlich eher zuwiderlaufen. Und affektive Kohäsion, so könnte man vermuten, erleichtert wiederum die Durchsetzung zweckrationaler Motivation (‚für das Vaterland‘ zum Beispiel).7

Damit ist nichts anderes gesagt, als dass das Narrativ ‚Muttersprache‘ affektive Bindung durch die systematische Ausblendung eines ebenfalls, allerdings auf ambivalente Weise, affektträchtigen Geschehens erkauft. Vor diesem Hintergrund wäre der affektive Durchbruch von Dada in die Vor-Muttersprachlichkeit – oder: die eigentliche ‚dada‘-Muttersprachlichkeit – als Befreiung von diesen Ausblendungsmaßnahmen zu beschreiben oder zumindest als deren Dekonstruktion, als Versuch, die Kulturpolitik des Einsprachigkeitsparadigmas außer Kraft zu setzen. Entsprechend lassen sich zumindest Hugo BallBall, Hugos programmatische Erläuterungen zu seinen Lautgedichten verstehen, die er laut Tagebuch dem Vortrag von „gadji beri bimba“ vorausgeschickt hat:

Man verzichte mit dieser Art Klanggedicht in Bausch und Bogen auf die durch den Journalismus verdorbene und unmöglich gewordene Sprache. Man ziehe sich in die innerste Alchimie des Wortes zurück, man gebe auch das Wort noch preis, und bewahre so der Dichtung ihren letzten heiligsten Bezirk.8

Die „innerste Alchimie des Wortes“ bzw. der Sprache (langage) bezeichnet ganz offenkundig eine Form sprachlicher Kreativität, die jeder Muttersprachlichkeit vorausgeht. In den Lautgedichten möchte BallBall, Hugo die Kreativität dieser „Buchstaben-Alchimie“, so schreibt er später an Hans ArpArp, Hans, „mit der emotionalen Zeichnung zusammenbringen“9.

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