Kitabı oku: «Aleister Crowley & die westliche Esoterik», sayfa 8
Das Ritual des Augoeides ist deshalb interessant, weil es fast ausschließlich in einem gedachten rituellen Raum durchgeführt wurde.91 Als es während einer langen Chinareise nicht möglich war, einen physischen Ritualraum zu schaffen und die Vorkehrungen zu treffen, die im Buch Abramelin beschrieben sind, beschloss Crowley, nur seine Vorstellungskraft zu gebrauchen. Dazu hielt er sich sorgfältig an die Anweisungen des Buches, nur dass er dabei die Handlungen, die zur Durchführung des Rituals erforderlich waren, wie auch den besonderen Ritualraum, in dem es stattfinden sollte, lediglich visualisierte. In seiner Autobiographie behauptet er, am Ende dasselbe Ergebnis – das Wissen und das Gespräch – erzielt zu haben, als hätte er das Ritual physisch durchgeführt. Es war eine mystische Erfahrung, die von ihm als eine der wichtigsten in seinem ganzen Leben wahrgenommen wurde.
1929 veröffentlichte Crowley Magick in Theory and Practice, in dem seine Sicht der Magie auf systematische Weise dargestellt wird. Für unser Thema ist interessant, dass wir in diesem Buch eine radikale Neuerung beobachten können, was Crowleys Auffassung vom Heiligen Schutzengel betrifft: er identifiziert diesen plötzlich mit Aiwass. Im Rahmen einer Diskussion über schwarze Magie und die Existenz des christlichen „Teufels“ fügt er in einer Fußnote an:
„Der Teufel“ ist, historisch betrachtet, derjenige Gott eines jeden Volkes, gegen den eine persönliche Abneigung besteht. Dieses hat zu so viel Gedankenverwirrung geführt, dass DAS TIER 666 es vorgezogen hat, Namen stehen zu lassen, wie sie sind, und lediglich zu verkünden, dass AIWAZ – der solar-phallisch-hermetische „Lucifer“ – Sein eigener Heiliger Schutzengel ist und „Der Teufel“ SATAN oder HADIT in unserem besonderen Stück des Sternenuniversums.92
Die Gleichsetzung von Aiwass mit Satan ist an sich interessant genug und hat natürlich denjenigen, die Crowley als einen Satanisten betrachten, einige Argumente geliefert.93 Besonders wichtig für uns hier ist jedoch die Änderung der Sichtweise, was den Heiligen Schutzengel betrifft. Wenn Crowleys Schutzengel Aiwass ist und wenn er Aiwass als eine eigenständige Entität annimmt, dann ist der Schutzengel kein höherer Aspekt des „Selbst“, der durch bestimmte magische Techniken oder durch Yoga erweckt werden und zu dem man Zugang erlangen muss. Er ist nicht mehr der „Höhere Genius“ des Golden Dawn. Auf den ersten Blick wird der Grund für diesen Perspektivenwandel nicht klar ersichtlich. Meine Annahme, warum Crowley so tief davon überzeugt war, besteht darin, dass Aiwass nicht auf die gleiche Weise erklärt werden kann, wie die Geister aus dem Lemegeton oder das Höhere Selbst. Crowley fand, dass die völlige Autonomie von Aiwass mit den religiösen Universalitätsansprüchen von Thelema besser vereinbar war. Andererseits blieb das Wissen von und das Gespräch mit dem Heiligen Schutzengel ein individuelles Erlebnis, das hauptsächlich den spirituellen Fortschritt einer einzelnen Person betraf. Aber warum setzte Crowley an einer Stelle dann Aiwass mit dem Schutzengel gleich? Eine mögliche Erklärung liegt in Crowleys persönlicher Entwicklung und in seiner seit den 1910er Jahren wachsenden Überzeugung, dass er der Verkünder einer universellen religiösen Botschaft sei.94 Magick in Theory and Practice ist voll von Bezugnahmen auf The Book of the Law und von Erörterungen thelemischer Prinzipien. Darum ist die Annahme plausibel, dass Crowley es an einem Punkt für nötig befand, Aiwass mit seinem Schutzengel zu identifizieren, weil er sich nun selbst voll in seine Rolle als Prophet und Messias eingesetzt fühlte. Der Mensch Crowley wurde zunehmend durch das Tier 666, den Logos des Äons ersetzt. Alles wurde von da an neu interpretiert und im Rahmenwerk der neuen Religion zusammengefasst.
Diese neue Ausdeutung änderte Crowley in späteren Jahren nicht mehr. In seinem letzten Buch, das posthum veröffentlicht wurde, kommt Crowley zu einem Schluss, der bereits der Gleichsetzung von Aiwass mit dem Schutzengel innewohnte und meine Annahme bestätigt:
Wir werden bereitwillig zustimmen, dass der Augoeides, der sokratische „Genius“ und der „Heilige Schutzengel“ Abramelins des Magiers identisch sind. Doch können wir das „Höhere Selbst“ nicht darin einschließen; denn der Engel ist ein tatsächliches Wesen mit seinem eigenen Universum, genauso, wie es auch ein Mensch ist oder meinetwegen auch eine Schmeißfliege. Er ist keine bloße Abstraktion, keine Auswahl und keine Erhöhung der eigenen Lieblingseigenschaften, so wie es das „Höhere Selbst“ zu sein scheint.95
Im selben Kontext weist Crowley schließlich jede psychologische Erklärung für die Existenz übermenschlicher Wesen zurück: „Sie sind objektiv, nicht subjektiv.“96 Offensichtlich bemerkte er, dass dieser Gedanke mit dem, was er im Vorwort zum Lemegeton oder im ersten Teil seines Book Four geschrieben hatte, nicht übereinstimmte. In beiden Fällen hatte Crowley eine rationalisierende, psychologische Erklärung für Wesen gegeben, die in magische Praktiken involviert sind. Doch sobald der „Schutzengel“ oder der „Höhere Genius“ zu einer eigenständigen Wesenheit wird, sind die Dinge nicht mehr dieselben. Der Kontakt, den ein Magier möglicherweise zu seinem Schutzengel hat, ist nicht länger zwangsläufig mit spiritueller Selbstverwirklichung verbunden. Jetzt ist diese Verbindung eher eine „der Freundschaft, der Gemeinschaft, der Bruderschaft oder Vaterschaft [sic].“97 Dann finden wir, von der psychologischen Interpretation, die Crowley angenommen zu haben schien, zurück zu einer traditionelleren: der Magier ruft die Geister um ihre Hilfe an, wie jemand bei Bedarf nach einem Arzt oder einem Klempner ruft. Diesbezüglich ist es auch interessant, dass Crowley in Magick without Tears eine explizite, scharfe Trennung zwischen Magie auf der einen Seite und Mystik und Yoga auf der anderen zieht, und dabei seine Präferenz für erstere zum Ausdruck bringt.98 Diese Trennung hätte in seinen früheren Jahren, als er Book Four und Magick in Theory and Practice schrieb, keinen Sinn ergeben.
Schlussbemerkungen
Der Einfluss, den Autoren wie James und Maudsley auf einen Okkultisten wie Crowley hatten, kann nur im Zusammenhang mit den allgemein unter Okkultisten des neunzehnten Jahrhunderts verbreiteten Bestrebungen verstanden werden, sich mit der Moderne zu arrangieren. Dieser Einfluss formte nicht nur Crowleys Auffassung von Magie, sondern auch sein Verständnis von Yoga, und ermöglichte ihm eine vergleichende Perspektive auf spirituelle Praktiken, die ihm eine Gleichstellung westlicher Ritualmagie mit östlichem Yoga erlaubte. Der Wunsch, Gemeinsamkeiten zwischen unterschiedlichen spirituellen Traditionen zu finden, war in der Esoterik sicherlich nicht neu. Was wohl neu war, war die Idee, dazu eher neue psychologische und wissenschaftliche Theorien heranzuziehen als mystische Erkenntnisse oder überliefertes Weistum.
Crowley war von dem naturalistischen, wissenschaftlichen Gedankengut, das im England des neunzehnten Jahrhunderts weite Verbreitung fand und sich auch in neuen psychologischen Theorien artikulierte, die auf die Religion übertragen wurden, spürbar beeinflusst. Dieses Bestreben, die Magie durch ihre Psychologisierung und Naturalisierung zu modernisieren, stieß jedoch mit der religiösen Offenbarung von Thelema auf ein unerwartetes und unausweichliches Hindernis. Von dem Moment an, da Crowley überzeugt war, dass seine persönliche Mission auf diesem Planeten die Verbreitung der neuen Glaubenswahrheit war, die er gefunden hatte, war es nur eine Frage der Zeit, bis der Widerspruch zu seinen früheren, naturalisierenden Interpretationen zum Vorschein kam. Genau diese Spannung war es, die Crowley zunehmend dazu brachte, seinen eigenen Schutzengel mit Aiwass zu identifizieren, und damit implizit den rein mystischen Wert des Erlebnisses von sich zu weisen, das im Buch Abramelin beschrieben wird. Aiwass hatte nicht in seinem Geiste zu existieren, sondern in den Reichen einer spirituellen Realität, die mindestens ebenso objektiv war wie die materielle. Darum war die Psychologisierung der Magie und verwandter spiritueller Praktiken, obwohl sie eine in der Esoterik noch nie dagewesene Kühnheit erreichte, nicht vollkommen – und konnte es gar nicht sein.
Ein Vergleich von Crowleys Ideen mit denen eines seiner interessantesten Schüler, Israel Regardie, ist hier sinnvoll.99 Es ist unmöglich, hier ins Detail zu gehen, doch ein Zitat von Regardie kann uns eine Vorstellung davon geben, wie er die Magie – besonders in Verbindung mit der (analytischen) Psychologie – verstand:
Analytische Psychologie und Magie umfassen meiner Einschätzung nach zwei Hälften oder Aspekte eines einzigen technischen Systems. Wie auch Körper und Geist keine voneinander getrennten Einheiten sind, sondern einfach die duale Manifestation eines dynamischen inneren „Etwas“, so umfassen Psychologie und Magie gleichermaßen ein einziges System, dessen Ziel die Integration der menschlichen Persönlichkeit ist.100
Für Regardie scheinen Psychologie und Magie nahezu vollends gleichgestellt zu sein, soweit, dass sie sogar dasselbe Ziel verfolgen („die Integration der menschlichen Persönlichkeit“). Metaphysische Aspekte bezüglich der magischen Praxis scheinen noch weiter aus seinem Blickfeld zu verschwinden als bei Crowley. Während Crowley den Weg der Naturalisierung und Psychologisierung nicht bis zum Ende gehen konnte, weil er den Universalanspruch seiner Religion bewahren musste, gab es diese Begrenzung für Regardie nicht. Weil er kein Interesse daran hatte, eine neue Religion zu erschaffen oder die Crowleys anzunehmen, war er imstande, den Prozess der Psychologisierung der Magie bis zur letzten Konsequenz fortzuführen, indem er insbesondere psychoanalytische Theorien anwandte. Für Regardie nutzten Magie und Psychoanalyse ähnliche Mittel, um gleiche Ziele zu erreichen, und es bestand für ihn keine Notwendigkeit, einen Glauben an übernatürliche Wesenheiten aufrechtzuerhalten, wie Crowley es tat.
Kapitel 4
Die Geburt eines neuen Äons
DISPENSATIONALISMUS UND MILLENARISMUS IN DER THELEMISCHEN TRADITION1
Henrik Bogdan
Nach dem britischen Okkultisten Aleister Crowley markierten die Frühlingstagundnachtgleiche von 1904 und der „Empfang“ des Liber AL vel Legis (The Book of the Law [dt.: Das Buch des Gesetzes]) zwei Wochen später eine fundamentale Wende in der Menschheitsgeschichte.2 The Book of the Law, ein gechannelter Text, der aus 220 Versen besteht, die in drei Kapitel unterteilt sind, identifiziert Crowley als „das Tier 666“, den Propheten einer neuen Religion „Thelema“. Das damals gegenwärtige Zeitalter bzw. der Äon des Osiris war gekennzeichnet von der Gestalt eines leidenden und sterbenden Gottes, der, wie das Buch verkündete, von einem kraftvollen neuen Zeitalter, dem Äon des Horus, abgelöst würde, „des gekrönten und erobernden Kindes“.3
Die Kernlehre dieses neuen Bekenntnisses von Thelema wurde in drei kurzen Sätzen ausgedrückt: „Tu was du willst, sei das ganze Gesetz“,4 „Liebe ist das Gesetz, Liebe aus eigenem Willen“,5 und „jeder Mann und jede Frau ist ein Stern“.6 Ferner warnte The Book of the Law, dass der Wechsel vom Äon des Osiris zum Äon des Horus kein friedlicher sein werde; vielmehr wurde er nahezu biblisch als eine Zeit der Katastrophen und des Zusammenbruchs vergegenwärtigt, begleitet von Krieg, Zerstörung und Chaos.
In diesem Kapitel geht es um das apokalyptische und millenaristische Geschichtsverständnis in der thelemischen Tradition, wie es Aleister Crowley in seinen Schriften, vornehmlich in seinen eigenen Kommentaren zu The Book of the Law, beschreibt. Ich werde ausführen, dass die millenaristische Geschichtsbetrachtung der Thelemiten, trotz der erbitterten antichristlichen Beschaffenheit Thelemas, eigentlich tief in einem westlich-esoterischen Verständnis von der biblischen Apokalypse, sowie auch im Dispensationalismus John Nelson Darbys, verwurzelt ist. Auch werde ich kurz einige nach Crowley entstandene Neuinterpretationen des thelemischen Dispensationalismus ansprechen.
Die Geburt eines neuen Äons
Auf der Grundlage der Offenbarungen von The Book of the Law sah Crowley die Geschichte der Menschheit in drei Zeitalter oder Äonen unterteilt, von welchen jedes einzelne etwa zweitausend Jahre dauert. Diese Zeitalter markieren evolutionäre Sprünge in der Entwicklung der Menschheit, und in jedem herrschen bestimmte magische Formeln vor.7 Dem neuen Äon des Horus gingen die Äonen von Isis und Osiris voraus, und in der Zukunft wird er vom vierten Äon, dem der Maat (Ma/Hrumachis) abgelöst werden, der auch der „Äon der Gerechtigkeit“ genannt wird. In dem als „alter Kommentar“ bekannten Text (zu The Book of the Law) erklärt Crowley die vier Äonen so:
Die Hierarchie der Ägypter gibt uns diese Ahnenreihe: Isis, Osiris, Horus. Die „heidnische“ Periode ist die der Isis: ein ländlicher, natürlicher Zeitabschnitt der einfachen Magie. Als nächste kamen Buddha, Christus und andere im Äquinoktium des Osiris; als Kummer und Tod die wesentlichen Dinge in den Gedanken des Menschen waren, und seine magische Formel ist die des Opfers.
Nun kommt, vielleicht mit Mohammed als Wegbereiter, im Äquinoktium des Horus das junge Kind, das (mit seinem Zwilling Harpokrates) stark und alles erobernd aufsteigt, Osiris zu rächen und das Zeitalter der Pracht und Stärke hervorzubringen.
Seine Formel wird noch nicht ganz verstanden.
Nach ihm wird das Äquinoktium der Ma, der Göttin der Gerechtigkeit aufsteigen, vielleicht in hundert oder tausend Jahren ab jetzt; denn die Berechnung der Zeit ist hier nicht wie dort.8
Die Vorstellung, dass Religion sich durch eine Reihe von Stufen oder Evolutionssprünge entwickelt, stimmte mit der wissenschaftlichen Literatur zur Religionsgeschichte überein. Darwins Evolutionstheorie wurde von führenden Gelehrten der aufkommenden Disziplinen der Religionsgeschichte (oder vergleichenden Religion) und der Anthropologie übernommen, und von religiösen Gedanken wurde oft angenommen, dass diese sich vom Matriarchat zum Patriarchat entwickelt haben – was in der Begriffssprache von The Book of the Law den Äonen der Isis und des Osiris entspricht.
Der Schweizer Anthropologe und Antiquar Johann J. Bachofen (1815 - 1887) erörterte darüber hinaus die Theorie von der Ersetzung der „primitiven“ Verehrung weiblicher Fortpflanzungskraft durch ein „rationales“ Wissen um männliche Vaterschaft und die anschließende Verschiebung von der Anbetung von Fruchtbarkeitsgöttinnen (wie sie oft als die Große Göttin vergegenwärtigt werden) hin zur Verehrung männlicher Götter in seinem 1861 erschienenen bedeutenden Werk Das Mutterrecht. Nach Bachofen hat sich die menschliche Kultur in vier Stufen entwickelt. Die erste davon war eine primitive, nomadische, polyamore „tellurische“ Stufe, in welcher eine frühe Ausprägung der Fruchtbarkeitsgöttin Aphrodite die vorherrschende Gottheit ist. Die zweite Stufe war die „mutterrechtliche“, die Bachofen als eine Epoche des Mondes beschreibt, in deren Mittelpunkt Landwirtschaft, Gesetzeswesen und Mysterienkulte standen. Die vorherrschende Gottheit dieser Stufe war die Göttin Demeter, die als Verkörperung von Fruchtbarkeit und Weiblichkeit verehrt wurde. Bachofens Beschreibung der „mutterrechtlichen“ Periode war von prägendem Einfluss auf spätere Konzepte eines mutmaßlichen Matriarchates, von dem angenommen wurde, dass es vor dem Aufkommen patriarchaler Kultur- und Religionssysteme existiert habe.
Laut Bachofen wurde der Wandel vom Matriarchat zum Patriarchat durch eine dritte, dazwischen liegende Stufe markiert, die er als die dionysische bezeichnete. Dionysos war der Hauptgott dieser Phase, die mit einer graduellen Maskulinisierung früherer weiblicher Traditionen einherging. Der Übergangsprozess gipfelte in der vierten, der apollonischen Stufe. Nach Bachofen war das die patriarchale, „solare“ Stufe, in der alle Spuren der matriarchalen und dionysischen Vergangenheit beseitigt wurden und die moderne Zivilisation aufkam.9
Die Theorie, dass einst ein weit verbreitetes kulturelles und religiöses Matriarchat existiert habe, das dann patriarchalischen Religionssystemen wie dem Christentum gewichen sei, war 1904, zur Zeit der Rezeption von The Book of the Law, sehr populär.10 Sie wurde allerdings in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts weitgehend infrage gestellt und gilt heute größtenteils als widerlegt, wobei einige ihrer Versionen in gewissen heidnischen und esoterischen Gedankenschulen noch immer überlebt haben.
Crowleys Verständnis der Geschichte religiöser Evolution war zu einem großen Teil vom Werk des britischen Anthropologen und Religionsgeschichtlers Sir James Frazer beeinflusst (1854 - 1941). Crowley übernahm das zwar unausgesprochene, dennoch aber offensichtliche Postulat aus Frazers The Golden Bough [Der Goldene Zweig] – ein Werk, das Crowley als „für alle Schüler unbezahlbar“ bezeichnete11 –, dass das Christentum tatsächlich auf einer primitiven Gedankenform beruhe, die mit einer modernen, wissenschaftlichen Weltanschauung unvereinbar sei.12 Das Hauptargument in The Golden Bough ist, dass das Thema von gewaltsamem Tod und Auferstehung im Mittelpunkt vieler altertümlicher Mythen und Riten des östlichen Mittelmeerraumes steht, wie z. B. bei Adonis, Attis, Dionysos und Osiris. Nach Frazer waren die sterbenden und wiederauferstehenden Götter die Hauptdarsteller eines wiederkehrenden Vegetationsdramas, das in „primitiven Gesellschaften“ oftmals mit den Priesterkönigen identifiziert wurde, die das Heil der Gemeinschaft personifizierten. In seiner Untersuchung der sterbenden und wiederauferstehenden Götter behauptet Frazer, dass die Mythen und Riten auf der Logik eines „primitiven Verstandes“ beruhen, der weniger weit entwickelt sei als der moderne Verstand. Das offensichtliche Ziel von Frazers Kritik ist jedoch nicht die alte Mythologie, sondern das zeitgenössische Christentum. In den Worten von Frazers Schüler Robert Ackerman:
Frazer war an mehr interessiert, als an einer Epistemologie des Primitiven. Denn obwohl er in seinen Untersuchungen über die sterbenden und wiederauferstehenden Götter des östlichen Mittelmeerraumes niemals den Namen Jesus erwähnt, wird man kaum um den Vergleich zwischen den heidnischen Riten, die aus einem unvollkommenen (weil irrationalen) Verständnis des Universums heraus entstanden sind, und dem gegenwärtigen Christentum umhinkommen. Frazer setzte die „objektive“ wissenschaftliche Vergleichsmethode als Waffe ein, um das Christentum letztlich als abgenutztes Überbleibsel einer Zeit der Fehleinschätzungen, der Leichtgläubigkeit und des Aberglauben abzufertigen.13
Die Vorstellung von einem sterbenden und wiederauferstehenden Gott war laut Crowley ein ignoranter Glaube, der zur fortgeschritteneren Denkweise des neuen Zeitalters in scharfem Kontrast stand. Des Weiteren führte Crowley aus, dass die Magie des alten Zeitalters aus magischer Sicht nicht länger wirksam war, da sie auf irrationalem Denken gründete. Dieses wird in The Book of the Law so ausgedrückt: „Alle Rituale, alle Gottesurteile, alle Worte und Zeichen sind außer Kraft gesetzt“.14 Diese Passage kommentierte Crowley folgendermaßen:
Dieser Vers erklärt, dass die alte Magick-Formel – die Formel des Osiris-Adonis-Jesus-Marsyas-Dionysos-Attis etc., des sterbenden Gottes – nicht länger wirkmächtig ist. Sie beruhte auf dem ignoranten Glauben, dass die Sonne jeden Tag und jedes Jahr sterbe und dass ihre Auferstehung ein Wunder sei.
Die Formel des Neuen Äons erkennt das gekrönte und erobernde Kind Horus als Gott. Wir sind alle Glieder vom Körper Gottes, der Sonne; und um unser System ist der Ozean des Raumes. Diese Formel ist auf diesen Fakten zu begründen. Unser „Böses“, „Irrtum“, „Dunkelheit“, „Illusion“, wie immer wir es auch nennen mögen, ist einfach ein Phänomen zufälliger und vorübergehender Getrenntheit. Wenn du „im Dunklen wandelst“, versuche nicht, durch Selbstopfer die Sonne aufgehen zu lassen, sondern warte vertrauensvoll auf die Dämmerung und genieße derweil die Freuden der Nacht.15
Nach Crowley unterschied sich die Magie oder eher „Magick“ (um die von ihm bevorzugte Schreibweise zu verwenden) des Neuen Äons von früheren „alt-äonischen“ Formen der Magie darin, dass sie auf einem modernen wissenschaftlichen Weltbild gründete, während die Magie des Alten Äons auf primitivem und irrationalem Gedankengut beruhte. Crowley beschrieb sein spirituelles System als „wissenschaftlichen Illuminismus“, mit dem Motto seiner Zeitschrift The Equinox als „die Methode der Wissenschaft, das Ziel der Religion“ gedeutet.16
Gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts wurde die Magie zum Gegenstand seriöser Forschung; die Disziplinen der Sozialanthropologie und vergleichenden Religionswissenschaft entstanden. Crowleys Kritik an den althergebrachten Formen der Magie als etwas Irrationalem stimmte weitgehend mit der akademischen Sichtweise dieser Disziplinen überein. Einer der damals führenden Feldforscher auf diesem Gebiet, Edward Burnett Tylor (1832 - 1917), bezeichnete in seiner einflussreichen Studie Primitive Culture nicht nur den Glauben an Magie als einen „verachtenswerten Aberglauben“, sondern erklärte die Magie zu einer der „schädlichsten Wahnvorstellungen, die je die Menschheit quälten“.17
Auf Tylor und nach ihm Sir James Frazer wird in Untersuchungen zur Magie häufig als Hauptexponenten einer „intellektualistischen Schule“ Bezug genommen – das heißt, sie definieren Magie als eine spezifische Gedankenform, die auf einem irrigen, „pseudowissenschaftlichen“ Glauben an die Wirkmächtigkeit von Ideenassoziationen beruht. Tylor betrachtet Magie lediglich als eine primitive Gedankenform, die auf frühe Stufen der menschlichen Evolution zurückgeht. Moderne Erscheinungsformen magischer Praktiken weist er als übrig gebliebene Relikte dieser archaischen Gedankenform zurück.
In wenigen Worten gesagt, ist deren Platz in der Geschichte genau dieser: Sie gehören im Prinzip zu den niedrigsten bekannten Stufen der Zivilisation, und die niederen Rassen, die größtenteils an keiner Bildung in der Welt teilhatten, erhalten sie noch immer kraftvoll aufrecht. Von dieser Ebene aufwärts können wir verfolgen, dass viel von dieser wilden Kunst in der Substanz unverändert an seinem Platz geblieben ist und im Laufe der Zeit viele neue Praktiken entwickelt wurden, während sowohl die älteren als auch die neueren Entwicklungen in den modernen Kulturnationen mehr oder weniger überdauert haben. Doch in den Zeitaltern, da fortgeschrittene Rassen gelernt haben, ihr Denken an immer genaueren Versuchen zu schulen, ist die okkulte Wissenschaft in jenen Zustand des Überlebens abgesunken, in dem wir sie meistens unter uns vorfinden.18
Die Vorstellung von der Magie als Antithese zur modernen westlichen Kultur basierte zu einem großen Teil auf der Prämisse, dass Magie eine Form „primitiven“ Aberglaubens (oder irrationaler Gedanken) sei.19 Diese abergläubische Denkweise wurde oft als assoziatives Denken beschrieben, in welchem auf Ähnlichkeit gründende Vorstellungen ursächlicher Zusammenhänge den Modus Operandi der magischen Praxis konstituieren. Nach diesem Glaubensmuster wird das vom Magier erstrebte Ziel mittels einer Handlung herbeigeführt, die dieses Ziel nachahmt oder ihm ähnlich ist. Das Konzept der geistigen Verursachung – das ist die Überzeugung, dass der Geist die physische Welt beeinflussen kann – ist mit diesem assoziativen Denken untrennbar verwoben. Um ein stereotypisches Beispiel zu nennen: Eine Nadel in eine Puppe zu stechen, wird allein nicht ausreichen, um einem Feind Schmerzen zuzufügen – die Wirksamkeit magischen Denkens ist, so wird geglaubt, von der Absicht des Magiers abhängig. Auch wenn Tyler als erster die Magie als assoziatives Denken identifizierte, war es Frazers weitere Ausarbeitung, die – mit der bekannten Unterteilung der Magie in zwei Kategorien: die Übertragungs- und homöopathische Magie – die tiefsten Spuren in der magischen Forschung hinterlassen hat. Außerdem behauptete Frazer, dass diese Denkweise eine archaische und primitive Gedankenform repräsentiere, die dem religiösen und dem wissenschaftlichen Denken vorausgegangen sei, womit er die Unvereinbarkeit von Magie mit einer modernen rational-positivistischen Weltanschauung betonte. Obwohl Crowley Frazers Kritik, die (alt-äonische) Magie gründe auf primitiven Gedanken, teilte, hielt er nichtsdestotrotz daran fest, dass die altäonische Magie im Zeitalter des Osiris wirksam gewesen sei. Für uns ist im Rahmen dieser Untersuchung wichtig festzustellen, dass Crowley glaubte, dass sich die Voraussetzungen von Magie und Initiation mit jedem neuen Zeitalter ändern und dass er Frazers Auffassung teilte, dass sich die Kultur durch drei verschiedene Stufen entwickelt habe: Magie, Religion und Wissenschaft nach Frazer und die Äonen der Isis, des Osiris und des Horus nach dem Liber AL.