Kitabı oku: «Bürgergesellschaft heute», sayfa 4
Die kurze Herrschaft des liberalen Bürgertums
Zwar herrschte das „deutsche“ Bürgertum in Österreich zunächst nur in Gestalt der Bürokratie.11 Mit der Zurücknahme „bürgerlicher“ Freiheiten erhielt aber das unternehmerische Großbürgertum erhebliche Freiräume. Die schwierige finanzielle Lage des Staates steigerte noch die Einflussmöglichkeiten der Finanzbourgeoisie, denn der Staat brauchte ungeheuer viel Geld für den Aufbau des neuen, staatlichen Gerichts- und Verwaltungssystems mit zahllosen neuen Beamten. Gleichzeitig blieben die Ausgaben für Armee und die (neue) Gendarmerie hoch.12 Und sie stiegen noch, als im Rahmen des Krimkrieges Österreich die rumänischen Fürstentümer besetzte und eine Armee in Galizien stationierte. Diese Politik führte zur Dauerfeindschaft mit Russland, ohne die liberalen Westmächte (England, Frankreich) als Freunde zu gewinnen. Schließlich wurde nach der Niederlage bei Solferino 1859 dem Kaiser bedeutet, dass es neue Kredite für den hoch verschuldeten Staat nur mit einer parlamentarischen Vertretung, zumindest für eine Kontrolle der Staatsfinanzen, geben würde. So erzwang man vom unwilligen Kaiser die Einrichtung von Vertretungskörpern, von Landtagen und eines gesamtstaatlichen „Reichsrats“, die in erster Linie als Kontrollore der Steuerzahler gegenüber der undurchsichtigen Ausgabenpolitik des Staates gedacht waren.
Das 1861 im Rahmen des „Februar-Patents“ erlassene Wahlrecht für Gemeinden und Landtage, aus denen dann erst die Vertreter im Reichsrat gewählt wurden, war sehr deutlich auf die Interessen des Bürgertums zugeschnitten. Da es theoretisch in erster Linie um die Finanzkontrolle ging, wurde das Wahlrecht konsequent an die Steuerleistung gebunden: In den Gemeinden war jede Person wahlberechtigt, die eine direkte Steuer (Grund-, Gewerbe-, Hausklassen- oder Einkommensteuer) bezahlte. Für die Landtage waren allerdings nur die oberen zwei Drittel der Gemeindewähler bzw. in großen Städten nur Steuerzahler mit einer Steuerleistung von mehr als zehn Gulden pro Jahr wahlberechtigt. Zusätzlich wahlberechtigt waren Inhaber von Bildungspatenten: Lehrer, Professoren, Priester, Ärzte, Ingenieure, Advokaten, in den Küstengebieten auch Kapitäne. Gemeindevertretungen, Landtage und „Reichsrat“ sollten von „Besitz und Bildung“ beherrscht werden.
Erst 1867 – nach der Niederlage von Königgrätz – erhielten diese Vertretungskörper mehr Aufgaben und alle Staatsbürger mit den fünf Staatsgrundgesetzen („Dezemberverfassung“) die vom liberalen Bürgertum schon lange geforderten Grundrechte, die Unabhängigkeit der Rechtsprechung, die Trennung von Justiz und Verwaltung und eine klare Definition für die Positionen von Parlament und (kaiserlicher) Regierung. Jetzt wurde auch erstmals eine Regierung eingesetzt, die weitgehend aus Herren aus dem Bürgertum bestand – das „Bürgerministerium“. Sein Chef, der Ministerpräsident, war zum Ausgleich für soviel Bürgerlichkeit „Carlos“ Fürst Auersperg, der „erste Kavalier des Reiches“. Die bürgerlichen Minister leisteten in der Tat gute Arbeit. Erwähnt sei hier nur die Verabschiedung des Reichsvolksschulgesetzes, das der Unterrichtsminister Leopold Hasner Ritter von Arta (1818– 1891)1869 im Reichsrat eingebracht hatte. Die Vertretung des Bürgertums, der deutsche, zentralistische Liberalismus, entwickelte noch bis 1875 einige Lösungskompetenzen für Felder, die zukünftiges „zivilgesellschaftliches“ Engagement erleichtern sollten, etwa durch das Genossenschaftsgesetz (1873), das die 1867 errungene Vereinsfreiheit im Bereich der wirtschaftlichen Tätigkeit ergänzen sollte. Mit der Koalitionsfreiheit erleichterten die Liberalen auch die Selbstorganisation der Arbeiterschaft. Nach einigen konfessionellen Gesetzen war um 1875 ihre Gestaltungskraft erlahmt. Die Liberalen wurden zu Verteidigern der errungenen gesetzlichen und der erarbeiteten materiellen Möglichkeiten, aber sie verloren jetzt ihre Rolle als vorwärtstreibende Spitze der bürgerlichen Gesellschaft. Sie wurden tatsächlich konservativ.
Die Schwäche des Bürgertums der Habsburgermonarchie
Der Börsenkrach von 1873 und die anschließende langwierige Wirtschaftskrise erschütterten das Vertrauen in die angeblich so segensreichen Kräfte des freien Marktes ebenso wie das Vertrauen in die liberale Politik. Dazu kam schamlose Korruption in den Kreisen der liberalen Abgeordneten, die als Belohnung für die Verabschiedung von diversen Eisenbahngesetzen gleich mit Aktien der neuen Eisenbahngesellschaften ausgestattet wurden.13
Die antiliberale Kritik bezeichnete die bürgerlichen Liberalen als Privilegienritter, die Bauern, Kleingewerbler und Arbeiter ausbeuteten und ihnen überdies noch ihre politischen Rechte verwehrten. Waren sie nicht Nutznießer dieses Staates, dessen obrigkeitliche Orientierung dem (von der Theorie her) so stark auf Selbständigkeit und die Freiheit der Person ausgerichteten Bürgertum in Wahrheit sehr zustatten kam, insofern als dieser Staat dem Bürgertum alles bereitstellte, was dieses brauchte – wie einen großen gemeinsamen Markt, Schutz des Eigentums und parlamentarische Budgetkontrolle? Diese Kritik verband sich mit antisemitischen Haltungen, die sowieso noch wegen der kirchlichen Verurteilung der Juden als „Christusmörder“ bei vielen Katholiken fortlebten. Im katholischen „Vaterland“ vom 20. Dezember 1871 werden die liberalen Wirtschaftsgesetze (Aufhebung der Zünfte, Gewerbefreiheit, Mobilisierung des bäuerlichen Besitzes, Aufhebung der „Wuchergesetze“ usw.) als Niederreißen „aller Schranken“, welche das „christliche Volk schützten“ zugunsten der Juden kritisiert: „Der Arbeiter- und Handwerkerstand wandert in die Fabrik, der Grundbesitz in die Hände, die Häuser in das Eigentum und das Vermögen der Völker in die Taschen der Juden […].“14
Die Verteidigungsposition, die der bürgerliche Liberalismus ab etwa 1875 bezog, hing auch mit den Zahlenverhältnissen zusammen. Für die Zeit um 1870 hätte man mit den damals Wahlberechtigten in Städten und „Industrialorten“ wahrscheinlich den größten Teil des Bürgertums umschreiben können. Später wurde das, als Folge von Wahlrechtserweiterungen, immer weniger möglich. Nimmt man an, dass „Bürgerlichkeit“ ein gewisses Einkommen voraussetzte, dann ermöglicht die Statistik der 1896 eingeführten Personaleinkommensteuer eine erste Annäherung. Der Anteil der Steuerpflichtigen an allen Berufstätigen lag damals bei 6,5%. Sicher bürgerlich dürften jene etwa 33 Prozent der Steuerpflichtigen gewesen sein, die mehr als 2.400 Kronen Einkommen hatten, also etwa 300.000 Einkommensbezieher. Die bürgerlichen Schichten umfassten daher, bei Annahme einer durchschnittlichen bürgerlichen Haushaltsgröße von vier Personen mindestens 1,2 Millionen Menschen oder ca. 4,6 Prozent der im Jahre 1900 etwa 26 Millionen Gesamtbevölkerung des österreichischen Reichsteiles. Auf die Kleinheit der österreichischen Mittelschichten verwies auch der prominente liberale Politiker Ernst von Plener (1841–1923) während der Debatte um das allgemeine Wahlrecht 1905/06 – nach seinen Berechnungen waren in Österreich 3,4 Prozent, hingegen in Preußen 9 und in Sachsen sogar 13 Prozent der Bevölkerung einkommensteuerpflichtig.15
Dieses Bild ändert sich, wenn man die westliche Reichshälfte der Habsburgermonarchie („Zisleithanien“) mit dem Gebiet der Republik Österreich vergleicht. Das ist natürlich auf die Tatsache zurückzuführen, dass nach dem Zerfall der Monarchie das wichtigste bürgerliche Zentrum, die Metropole Wien, auf ihrem Gebiet zu liegen kam.
In Wien lebte um 1900 etwa ein Viertel aller Steuerpflichtigen, die ziemlich genau ein Drittel aller steuerpflichtigen Einkommen des alten Österreich verdienten. Noch deutlicher tritt die Dominanz Wiens bei den höheren Einkommensklassen hervor: Während Wien 1907 nur ein Viertel der Steuerträger in den unteren Klassen stellte, stieg dieser Anteil bei den „Reichen“ (mehr als 12.000 Kronen Jahreseinkommen) auf 45 Prozent (1906) bzw. fast 52 Prozent bei den sehr Wohlhabenden (über 40.000 Kronen Jahreseinkommen). Mehr als die Hälfte aller Spitzeneinkommen des alten Österreichs gelangten also in Wien zur Veranlagung!16
Wenn man die relativ kleine Zahl der bürgerlichen Existenzen ins Auge fasst, dann wundert die relative Schwäche der bürgerlichen Klassen im Gesamtsystem der Monarchie nicht sehr. Drei weitere Probleme schwächten die Kraft dieser Gruppen noch mehr:
1 1 Die insgesamt schon nicht großen bürgerlichen Klassen waren in wenige großstädtische (insbesondere Wiener) Konfigurationen und viele mittel- und kleinstädtische Gruppen geteilt, mit nur geringer Übereinstimmung in Vermögenslage, Kultur oder politischen Haltungen. Ein dichtes Netz von großen Mittel- und kleineren Großstädten wie in Deutschland (oder England) fehlte. Verstärkt wurde diese Differenzierung noch dadurch, dass das unbestreitbar wirtschaftlich dominierende Wiener Bürgertum nicht zu einer eindeutig das kulturelle und politische Leben der Monarchie beherrschenden Klasse wurde, wie etwa die Pariser Bourgeoisie. Denn dieses Wiener Bürgertum war einerseits bewusst deutsch – das verhinderte die Identifikation der nichtdeutschen bürgerlichen Klassen mit dieser führenden Bourgeoisie; und es wurde andererseits sehr stark als „jüdisch“ wahrgenommen – das schuf schon in Wien selbst eine erhebliche Kluft zwischen dem liberalen Großbürgertum und dem zunehmend antisemitisch eingestellten Mittel- und Kleinbürgertum. Darüber hinaus aber verhinderte diese Wahrnehmung die Identifikation der vielfach deutschnational-antisemitischen Mittel- und Kleinstädter mit dem Wiener liberalen Bürgertum.17
2 2 Die fortschreitende Demokratisierung des politischen Lebens bis hin zum allgemeinen Männerwahlrecht 1906 untergrub die wenig belastungsfähige und prekäre Vorherrschaft des deutsch-österreichischen Bürgertums noch mehr. Die nationalistischen, antisemitischen und sozialistischen Massenbewegungen bedrohten die bürgerlichen Positionen und trugen dazu bei, dass „bürgerlich“ von einem Kürzel für „fortschrittlich“ zu einer Metapher für vorsichtig, sicherheitsbedacht, fortschrittsskeptisch, defensiv gegenüber den Anforderungen weiterer politischer Modernisierung werden konnte. Vielleicht kam die Demokratisierung im alten Österreich tatsächlich nicht zu spät, sondern zu früh – vor der für eine moderne Demokratie notwendigen vorausgehenden „Verbürgerlichung“ der Gesellschaft.
3 3 Das Bürgertum differenzierte sich zunehmend in sprachnational orientierte bürgerliche Klassen. Damit war jede einzelne nationale bürgerliche Konfiguration automatisch in einen Mehrfrontenkrieg verwickelt: gegen die Agrarier (Adel und Bauern) und ihre starken Durchsetzungsmöglichkeiten im politischen System; gegen die zunehmend erstarkende Arbeiterbewegung; gegen die jeweils andere nationale Bewegung; gegen die kleinbürgerliche, zumeist antisemitische Kritik aus den Städten; unter Umständen auch gegen den Staat.
Dennoch blieb bis 1914–18 allen diesen bürgerlichen Klassen gemeinsam, dass sie ganz offensichtlich am wirtschaftlichen Aufschwung teilhaben und sehr beträchtliche Vermögen erwirtschaften konnten. Die Jahrzehnte vor 1914 waren, wie dies Roman Sandgruber so treffend formulierte, eine „Traumzeit für Millionäre“18. Das alte Österreich hatte zwar 1896 eine „progressive“ Einkommensteuer eingeführt, der höchste Steuersatz lag allerdings bei 5 Prozent. Wer eine gute Hand für das Geldverdienen hatte, konnte enorm reich werden. Es blieb daneben auch ein gewisses Vertrauen in Aufstieg und Sekurität sowie in die Fortschritte von Technik und Wissenschaft. Und es blieben auch, über alle nationalen und sozusagen religiösen Trennlinien hinweg, Formen des Anstands, der Höflichkeit, der Alltagskultur, der Sommerfrische und der Aufenthalte in den renommierten Badeorten, kurz: einer eigentlich übernationalen Bürgerlichkeit, bestehen. Ökonomisch ging es in den bürgerlichen Klassen allgemein aufwärts, und vielleicht würde der materielle Aufstieg auch der nichtdeutschen Bürgerlichen irgendwann einmal ein Abschleifen der nationalen Konturen und einen neuen Konsens ermöglicht haben.
1918 – Ende der bürgerlichen Welt?
Doch 1914 wurde in Wien ein Weltbrand entzündet, den die Habsburgermonarchie nicht überlebte. 1918 zerbrach nicht nur die Monarchie, sondern auch die sichere Welt des Bürgertums – die Welt der soliden, traditionellen Geschäftsbeziehungen zwischen Reichenberg, Prag, Proßnitz, Wien und Budapest, zwischen Lemberg und dem Balkan, Triest und Alexandria. Es zerbrachen der gemeinsame Markt und der gemeinsame Staat. Was wurde nun aus den bürgerlichen Schichten?
Die traditionellen Sicherungsstrategien der bürgerlichen Schichten (auch der kleineren) erwiesen sich als trügerisch: Weder der Besitz an Wert- (insbesondre Staats-)Papieren noch der Besitz eines Miethauses, weder eine gehobene Position im öffentlichen Dienst noch im privaten Dienstleistungssektor schützten in der Kriegs- und Nachkriegsinflation vor plötzlichen Vermögensverlusten – bis hin zur totalen Infragestellung der Lebensgrundlage. Selbst sehr vorsichtig agierende Rentiers, die sich keineswegs auf Kriegsanleihen einließen, verloren bis zu drei oder vier Fünftel ihres Vermögens.19
Aber dieser Bruch traf nicht alle bürgerlichen Klassen der Monarchie in gleicher Weise. Sicher, gewisse Vermögenseinbußen durch den Wertverlust der österreichischen (und ungarischen) Staatspapiere dürften so ziemlich alle Besitzenden erlitten haben. Aber es ist erstaunlich, wie schnell die tschechoslowakische Aufbauanleihe unmittelbar nach der Staatsgründung 1918 überzeichnet war – die tschechische Bourgeoisie hatte offenkundig einige Reserven, die sie dem alten Österreich vorenthalten hatte, dem neuen – ihrem – Staat aber gerne anvertraute. Hauptverlierer der Veränderung war eindeutig – Otto Bauer hat das in oft zitierten Worten gesagt – das deutsch-österreichische, insbesondere das Wiener Bürgertum: „[...] Derselbe Prozeß der Geldentwertung [...] hat breite Schichten der alten Bourgeoisie pauperisiert. Zunächst traf dieses Schicksal die Rentiers [...] Mit den Rentiers wurden die Hausbesitzer expropriiert [...] Auch die höhere Beamtenschaft wurde von der Geldentwertung niedergedrückt [...] Es war das Altwiener Patriziat, es waren die führenden Schichten der österreichischen Intelligenz, es waren große Teile des mittleren und kleineren Bürgertums, die durch die Geldentwertung verelendet wurden. Sie waren die eigentlich herrschende Klasse der Habsburgermonarchie gewesen. Sie waren die Träger des österreichischen Patriotismus, der altösterreichischen Tradition gewesen. Sie hatten der Habsburgermonarchie ihre Beamten, ihre Offiziere gestellt. Sie waren die Träger des österreichischen Patriotismus, der altösterreichischen Tradition gewesen. Sie waren seit einem Jahrhundert die Träger der spezifisch österreichischen Kultur, der Wiener Literatur, der Wiener Musik, des Wiener Theaters gewesen. Sie waren die eigentlich Besiegten des Krieges. Es war ihr Reich, das im Oktober 1918 zusammengebrochen war. Und mit ihrem Reich hatten sie auch ihren Reichtum verloren [...]“ 20.
Allerdings hat gerade der Mieterschutz verarmten Bürgerlichen weiterhin die Aufrechterhaltung eines Wohnstandards ermöglicht, der bei einem völlig freien Wohnungsmarkt nicht zu halten gewesen wäre.21 Auch die Freizeit- und Sommerfrischegewohnheiten veränderten sich kaum. Im Gegenteil – gleich nach dem Kriege flüchtete man sich oft in die Sommerfrischen, in der stillen Hoffnung, hier gäbe es bei den Bauern noch etwas Nahrung. Der Kapitalmangel ließ auch keinen bedeutenderen Käufermarkt für schon früher erstandene Sommersitze entstehen, sodass auch hier eine recht erstaunliche Kontinuität zu beobachten ist.22
Materielle Depravierung – politische Desorientierung?
Die Inflation vernichtete zahlreiche Kapitalien, vor allem jene, die in staatlich gesicherten Papieren (und hier wiederum: vorab in Kriegsanleihen) angelegt waren. Es gibt kaum eine bürgerliche Autobiografie, die diese Tatsache nicht erwähnt – es hat ja auch fast alle Menschen von irgendwie bürgerlichem Zuschnitt getroffen.23 Ganz gleichartig hat sich – Otto Bauer hat das schon richtig gesehen – die Mieterschutzgesetzgebung ausgewirkt, die die Hausbesitzer faktisch enteignete. Im Allgemeinen war es bis 1914 eine gängige Sicherungsstrategie im mittleren Bürgertum, durch den Besitz eines Zinshauses für das Alter vorzusorgen. Heinrich Röttinger (✝1952), zuletzt Direktor der Universitätsbibliothek (1933 Ruhestand) hatte 1914 ein Jahreseinkommen von mehr als 16.000 Kronen; es stammte nur zu 34 Prozent aus dem (immerhin schon K 5.400 betragenden) Gehalt, zu fast 36 Prozent aber aus Vermietung und zu 15 Prozent aus Kapitalerträgen. Nicht untypischerweise gehen nach 1918 die letzten beiden Posten auf Null zurück, teils durch Entwertung, teils durch systematisches Abstoßen des Hausbesitzes und der Wertpapiere. Nun erst war der Beamte zur Gänze auf sein Gehalt verwiesen.24 Für das hochentwickelte Sicherheitsbedürfnis der Bürgerlichen der späten Monarchie, das Stefan Zweig so liebevoll gezeichnet hat,25 war die Erfahrung der Unsicherheit ein zentraler Schock. Beamte verloren in der Inflation mehr als 85 Prozent ihres Realeinkommens (1920: Beamte erhielten 14 Prozent der Friedenskaufkraft), und noch 1925 betrugen die Beamtenbezüge nur etwa 56 Prozent der Friedenshöhe.26 Unterstrichen wurde dieser materielle Positionsverlust durch die Nivellierung der Einkommenssituationen während der Inflation: Im März 1922 verdiente (im Vergleich mit 1914) ein Kohlenträger das 1.300-fache, ein Friseurgehilfe aber nur das 400-fache, ein Hochschulprofessor das 214-fache, ein Hofrat das 124-fache und ein Hilfsarzt gar nur das 100-fache. Im März 1922 verdiente ein qualifizierter Arbeiter der Metall-, Zucker oder Elektroindustrie bis zu 1,8 Millionen Kronen, ein Ministerialrat 1,5 Millionen Kronen.27 Auch wenn es nach der Stabilisierung (Herbst 1922) wieder zu einem wachsenden Auseinanderdriften der Lohnschere kam, blieben doch die Relationen völlig andere als es den traditionellen Vorstellungen entsprach. Keineswegs waren die Arbeiter „reich“ geworden – sie verdienten noch immer, im Vergleich zu den entsprechenden Arbeitern anderer Länder, sehr wenig.28 Dennoch bedeutete die Wahrnehmung der Nivellierung für die betroffenen „Bürgerlichen“ genau den Verlust an gesellschaftlichem Vorsprung, den das Bürger-Sein bisher ausgemacht hatte.
Das Gefühl der materiellen Depravierung verband sich in den ersten Nachkriegsjahren mit der Erfahrung gesellschaftlicher Machtlosigkeit, angesichts der Dominanz der Linken auf den Straßen und im politischen Prozess: „Gestützt auf die Straße und die Mittel des gewerkschaftlichen Kampfes, sicher der aus ihren Reihen geworbenen Bundeswehr, kann sich die Sozialdemokratie den ungeheuren Luxus gestatten, alle Verantwortung den bürgerlichen Parteien zu überlassen, da sie in Wirklichkeit auch unter einem bürgerlichen Kabinett die leitende Vormacht bleibt. Die Stützen des alten Regimes aber, Bürger und Bauer, räumen verschüchtert das Feld, irre geworden an der eigenen Bestimmung [...]“29.
Die Erfahrung anhaltender materieller Schlechterstellung ging bei nicht wenigen „Bürgerlichen“ auch nach der Übernahme der Regierung durch „bürgerliche“ Koalitionen weiter. So erzwang die Genfer Sanierung von 1922 einen weitgehenden Beamtenabbau. Man nannte eine runde Gesamtziffer von 100.000 „abzubauenden“ öffentlich Bediensteten. Bis Ende 1925 wurden tatsächlich 83.386 Staatsangestellte entlassen oder in Pension geschickt, dazu kamen noch etwas mehr als 10.000 Südbahn-Bedienstete. Die Gesamtzahl erreichte etwa 50 Prozent der noch Aktiven, d. h., dass ca. ein Drittel aller im öffentlichen Dienst Stehenden von dieser Maßnahme getroffen wurde. In den folgenden Jahren reduzierte sich die Zahl der öffentlich Bediensteten nur langsam, um als Folge des Zusammenbruchs der Creditanstalt und der enormen staatlichen Kosten für deren Sanierung neuerdings stärker abzunehmen: Waren in Hoheitsverwaltung, Bundesbetrieben und Bundesbahn 1926 etwa 200.000 Menschen beschäftigt, so waren es 1933 nur mehr 166.000 (später stieg diese Zahl wieder leicht, aber nur wegen der höheren Zahl von eingestellten Soldaten und Polizisten).30 Ähnlich wirkten sich die seit der Stabilisierungskrise von 1924 aufeinander folgenden Bankenzusammenbrüche aus. So zählte der Reichsverein der Bank- und Sparkassenbeamten 1924 noch 24.500 Mitglieder, 1926 aber nur mehr knapp 11.000 und 1931 nur mehr 7.700.31
Die von Monarchiezerfall, Inflation, Mieterschutzgesetz, Budgetsanierung und Bankzusammenbrüchen am stärksten betroffenen bürgerlichen Gruppierungen lebten zu einem hohen Prozentsatz in Wien. Dass „Republik“ für diese verarmten und statusverunsicherten Bürgerlichen des positiven Beiklanges entbehrte, den das Wort für uns heute allgemein hat, ist zwar unerfreulich, aber nicht unverständlich. Weniger verständlich ist es, dass die „bürgerlichen“ Parteien und Regierungen so wenig Einsatz für die Interessen dieser, ihrer Klientel zeigten. Die radikalen Bezugskürzungen, die man im Zuge der CA-Krise deren Bediensteten zugemutet hat, veranlassten selbst Otto Bauer im Hauptausschuss des Nationalrates zu der Wortmeldung, er habe natürlich nichts gegen solche Bezugskürzungen, er möchte sich aber doch die Bemerkung erlauben, dass die bürgerlichen Parteien durch ein solches Vorgehen den Ast absägen, auf dem sie sitzen.32 Vermutlich war jenes Vorgehen Ausdruck gewisser antisemitischer Strömungen bei den Christlichsozialen und Großdeutschen (Bankdirektoren waren vielfach Juden) und im Zusammenhang damit wohl auch der Versuch, durch Schuldzuschreibungen und massives Vorgehen gegen Bankdirektoren und -beamte Popularität zu gewinnen.33
Die Erinnerungen Alexander Spitzmüllers (1862–1953) bieten für dieses Verhalten insbesondere der Christlichsozialen breites Material: Der ehemalige Staatsbeamte, dann Bankdirektor (bei der Creditanstalt), österreichischer Handelsminister und letzter gemeinsamer Finanzminister der österreichisch-ungarischen Monarchie, war trotz seiner eindeutig katholischen Haltung für die Christlichsozialen immer ein Außenseiter geblieben. Man hat ihm weder für sein Bemühen als Gouverneur der Österreichisch-Ungarischen Bank (bis zu deren Liquidierung 1923) noch als Leiter der Creditanstalt während der Krise 1931/32 entsprechend gedankt, ihn im Gegenteil bei der Durchführung dieser mühevollen Geschäfte auch noch nach Kräften behindert.34 Spitzmüllers Memoiren sind kein Einzelfall. Die Erinnerungen von Hans Loewenfeld-Russ, der als höchst anerkannter Ernährungsfachmann nicht nur der Monarchie, sondern auch noch der jungen Republik in unveränderter Loyalität zur Verfügung stand, beschreiben die Blockade jeder weiteren öffentlichen Karriere seitens der christlichsozialen Partei, nachdem er dort als Folge einer Äußerung im Kabinett als Sympathisant der Sozialdemokraten enttarnt schien.35
Unternehmerkreise hielten daher schon früh Ausschau nach Alternativen. Sie unterstützten die Heimwehren als militärische Kraft gegen den Republikanischen Schutzbund der Sozialdemokratie. Besonders die Leitung der „Alpine“ in der Steiermark forcierte die Heimwehren. Hier wurde von der Firmenleitung zur Schwächung der sozialdemokratischen Gewerkschaften auch eine „gelbe“ Heimwehrgewerkschaft gefördert. Bürgerliche Frustration äußert sich besonders deutlich im Wiener Wahlergebnis des Jahres 1932, als bei den Gemeinde- bzw. Landtagswahlen die Christlichsozialen herbe Verluste zugunsten der Nationalsozialisten erlitten.