Kitabı oku: «Gegendiagnose», sayfa 3

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Klinik, Heim, Maßregelvollzug: in der Psychiatrie

Die vor der Psychiatriereform dominierenden, mehr oder weniger isoliert arbeitenden Großanstalten wurden in den letzten Jahrzehnten bautechnisch modernisiert und verkleinert; zahlreiche psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern entstanden. In jeder Region ist mittlerweile eine Klinik beauftragt, den gesetzlichen Versorgungsauftrag – die Pflichtversorgung – sicherzustellen. Derzeit existieren in Deutschland etwa 219 psychiatrische Kliniken und 232 psychiatrische Fachabteilungen an Allgemeinkrankenhäusern. Dazu kommen noch 199 psychosomatische und 174 kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken bzw. Fachabteilungen. Insgesamt umfassen diese Einrichtungen mehr als 79.000 Betten – in den 1970er Jahren waren es etwa 99.000 psychiatrische Betten in Westdeutschland (vgl. Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2012: 3ff., Deutscher Bundestag 1975: 2). Anders als früher sind die Kliniken heutzutage vorwiegend für die Akutbehandlung zuständig, längerfristige Aufenthalte sollen vermieden werden. Da parallel zur moderat gesunkenen Bettenzahl die durchschnittliche Liegezeit von etwa 180 auf 20 bis 40 Tage stark reduziert wurde, ist die Gesamtzahl der ›Fälle‹ – also der in den Kliniken aufgenommenen Menschen – nicht gesunken. Seit 1994 hat die Fallzahl sogar um ca. 46% zugenommen. Zugleich ist die Wiederaufnahmerate gestiegen, also die Rate mehrfacher Klinikaufenthalte pro Person: hier zeigt sich der vielbeklagte ›Drehtüreffekt‹ (vgl. Schneider/Falkai/ Maier 2011: 3ff.). Die Zahl der Zwangseinweisungen ist zwischen 2000 und 2011 von jährlich über 90.000 auf über 130.000, nach anderen Quellen sogar auf über 230.000 gestiegen – in anderen europäischen Ländern werden relativ zur Bevölkerung weitaus weniger Menschen eingewiesen.5 Anträge auf Einweisungen werden von den Gerichten in 99% der Fälle positiv beschieden. Überdurchschnittlich häufig eingewiesen werden Menschen aus niedrigen sozialen Schichten, alte Menschen und Personen mit einer sogenannten Behinderung (vgl. Joeres 2011) – auch Migrant_innen werden häufiger eingewiesen (vgl. Machleidt et al. 2007, Hoffmann 2009).

Im Zuge der Psychiatriereform wurden die Kliniken infrastrukturell und fachlich modernisiert und nach Bevölkerungsgruppen und Diagnosen ausdifferenzierte Behandlungsformen geschaffen. Multidisziplinäre Teams entstanden, vermehrt wurden sozialarbeiterische und psychologisch-therapeutische Techniken in den klinischen Prozess einbezogen. Zudem wurden Gesetze und Fachstandards zur Regulierung der Zwangsbehandlung geschaffen, weiterhin wurde jedoch häufig Zwang angewandt. Neben zahlreichen Fixierungen, erzwungenen Begutachtungen, vermitteltem oder direktem Zwang zur Einnahme von Psychopharmaka existieren weitere offen gewaltförmige Therapieformen fort. Dazu zählt etwa die Elektrokrampftherapie, die in den letzten Jahren wieder rehabilitiert wurde und auch von Sozialpsychiater_innen, wie z.B. Klaus Dörner, nicht generell abgelehnt wird (vgl. Wagner-Nagy 2012, Lehmann 1988).

Jenseits der stationären Psychiatrien, die über die Krankenversicherungsbeiträge finanziert werden, werden Psychiatrisierte auch in eigenen Heimen für ›seelische Behinderte‹ stationär untergebracht. 2010 waren davon ca. 49.000 Menschen (2000: ca. 37.000, 1972: ca. 36.000) betroffen (vgl. Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2012: 30). Zudem werden immer mehr Menschen, die unter gesetzlicher Betreuung stehen, in Obdachlosen- oder Pflegeheime abgeschoben, wo kein therapeutisches Angebot bereitsteht, sondern eine reine Medikamentierung und Verwahrung betrieben wird. Meist haben diese Menschen bereits mehrfache Klinikaufenthalte hinter sich, werden als ›austherapiert‹ oder ›systemsprengend‹ abgestempelt und für Jahre oder Jahrzehnte ohne weitergehende Perspektive im Heim untergebracht. Allein für Berlin werden mehr als 5.000 Heimverwahrte mit einer psychiatrischen Diagnose geschätzt (vgl. Vock et al. 2007: 84). In einem Zeitungsbericht konstatierte ein Berliner Chefarzt 2013: »Inzwischen leben in diesen Heimen mehr Menschen als damals [vor der Psychiatrieform, S.W.] in den großen Anstalten …« (Tramitz 2013)

Zudem findet eine Psychiatrisierung der Delinquenz statt: immer mehr Menschen, die Straftaten begangen haben, aber vor Gericht aufgrund einer ›psychischen Krankheit‹ für schuldunfähig erklärt wurden, werden in den sogenannten Maßregelvollzug eingewiesen. Dort werden sie oft für viele Jahre unter widrigsten Bedingungen eingesperrt und müssen sich einem besonders autoritären psychiatrischen Regime mit sehr hohem Psychopharmaka-Zwang, häufigen Zwangsfixierungen und starken sozialen Reglementierungen unterwerfen. Selbst leichtere Delikte wie Diebstahl oder Fahren ohne Führerschein können mittlerweile zu einer Einweisung in den Maßregelvollzug führen – entsprechend hat sich die Zahl der dort Untergebrachten in den letzten 20 Jahren beinahe verdreifacht.6

Wohnen – Leben – Arbeiten: die Psychiatrie in der Gemeinde

Ein großes Anliegen der Psychiatriereform war, wie beschrieben, die sogenannte Wiedereingliederung der Psychiatrisierten nach dem Klinikaufenthalt – entsprechend wurden Versorgungsstrukturen geschaffen, die als Brücke zwischen dem Klinikaufenthalt und einer Existenz als als autonomer, möglichst lohnarbeitender Bürger_in dienen sollen. Direkt an die Kliniken angebunden wurden die Tageskliniken, die der Anschlussbehandlung oder der Vermeidung eines stationären Aufenthaltes dienen. Ihre Zahl ist so sehr angestiegen, dass mittlerweile auf vier psychiatrisch-stationäre Betten ein Platz in der teil-stationären Tagesklinik entfällt (vgl. Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2007: 37).

Neu geschaffen wurde infolge der Psychiatriereform ein großer gemeindepsychiatrischer Bereich, der im Vergleich zu den Tageskliniken weniger medizinisch-therapeutisch, mehr betreuend und sozialarbeiterisch ausgerichtet ist. Die Angebote werden meist von gemeinnützigen, in Wohlfahrtsverbänden organisierten Vereinen, zum Teil aber auch von privatwirtschaftlich orientierten Trägern, durchgeführt. Diese Form der sogenannten Eingliederungshilfe wird größtenteils über die Sozialhilfe finanziert, insofern die betreffende Person kein eigenes Vermögen aufbringen kann. Eine zentrale Säule ist hier der Bereich ›Hilfe zum Wohnen‹. In Berlin etwa wurden zwischen 1993 und 2001 2.500 Klinikbetten abgebaut und gleichzeitig 2.800 Plätze im Wohnbereich etabliert – mittlerweile wurden noch zahlreiche weitere Wohnplätze geschaffen (vgl. Vock et al. 2007: 16, 41). Neben dem Wohnbereich wurden Angebote im Bereich Hilfen bei der Tagesstrukturierung, Beratung und Kontaktstiftung etabliert. Entsprechend bieten Kontakt- und Beratungsstellen (KBSen) und Tagesstätten Gruppen- und Sportangebote, Ausflüge, Selbsthilfegruppen und beratende Einzelgespräche an. Die KBSen stehen prinzipiell allen Interessierten offen und sollen entsprechend des gemeindepsychiatrischen Konzeptes auch den Dialog und die Kontaktfindung mit Nicht-Psychiatrisierten ermöglichen – in der Regel finden sich dort dennoch vorwiegend oder ausschließlich Psychiatriebetroffene ein. Die KBS-Klient_innen werden oft auch gezielt an weitere Einrichtungen wie Sucht-, Schuldner- oder Familienberatungsstellen weitervermittelt.

Laut Studien nehmen mindestens 75% der befragten gemeindepsychiatrischen Klient_innen Psychopharmaka ein (vgl. Russo 2012: 126). Oft ist die Medikamenteneinnahme Voraussetzung, um das entsprechende Angebot zu erhalten. Klient_innen, die sich verweigern, wird mit Rauswurf gedroht. Auch jenseits des Drucks Psychopharmaka einzunehmen, werden die Betroffenen mehr oder weniger eng sozialarbeiterisch kontrolliert und, vermittelt durch Rehabilitationspläne, Hausordnungen und Einzelkontakte, starken normativen Anforderungen hinsichtlich Tagesstruktur, Habitus und Hygiene unterworfen. Wichtiges Ziel ist dabei die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, die durch Gutachten verschiedener Institutionen, darunter Jobcenter, Krankenkassen und Rentenversicherungen, geprüft werden kann. Je nach Diagnose stehen den Betroffenen verschiedene Arbeitsmöglichkeiten zur Auswahl: von Beschäftigungstagesstätten über stundenweisen Zuverdienst und Werkstätten für behinderte Menschen hin zu Integrationsfirmen. Allein die Zahl der Personen, die mit einer psychiatrischen Diagnose in Werkstätten tätig sind, ist zwischen 2005 und 2010 von ca. 32.000 auf ca. 43.000 gestiegen (vgl. Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2012: 40). Mit dem Integrationsfachdienst besteht eine eigene Einrichtung, welche gezielt die sogenannte Teilhabe von Menschen mit ›körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen‹ am Arbeitsmarkt unterstützen soll. Auch die Politik fordert verstärkt die berufliche Integration, exemplarisch etwa die Landesgesundheitsministerien in einem gemeinsamen Statement: »Das Prinzip Rehabilitation vor Rente wird bei psychisch kranken Menschen eindeutig nicht umgesetzt. […] Ziel muss es sein, die Frühverrentungen zu vermindern.« (Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2007: 48) Dennoch schaffen viele nicht mehr die Rückkehr auf den ersten Arbeitsmarkt oder beantragen nach einer längeren Phase der Krankschreibung Erwerbsunfähigkeitsrente – häufig massiv gedrängt von den Krankenkassen oder den Jobcentern, welche die aus ihrer Sicht kostenintensive Klientel an die Rentenversicherung weiterreichen. Im Jahr 2011 waren 41% der frühzeitigen Verrentungen durch eine psychiatrische Diagnose begründet (24% im Jahr 2000). Damit gelten psychische Ursachen derzeit als Hauptgrund für Frühverrentung (vgl. Deutsches Ärzteblatt 2013).

Gesetzliche Betreuung und ambulante Versorgung: die Psychiatrie zu Hause

Viele der Personen, die im gemeindepsychiatrischen Bereich eingetaktet oder in Heimen untergebracht sind, stehen unter einer gesetzlichen Betreuung. Dieses juristische Instrument wurde 1992 eingeführt und hat das bis dahin bestehende Vormundschaftsmodell abgelöst – laut Bundesregierung wurde dadurch Entmündigung zugunsten von Schutz, Fürsorge und größtmöglicher Selbstbestimmung überwunden (vgl. Bundesministerium der Justiz 2013: 4). De facto steigt die Zahl der Betreuungen seit Jahren stark an; von 1995 bis 2008 hat sie sich in etwa verdoppelt, sodass heute etwa 1,3 Millionen Betreuungen eingerichtet sind.7 Nach meiner Schätzung stehen davon mindestens 300.000 Menschen aufgrund einer psychiatrischen Diagnose unter Betreuung und müssen massive Eingriffe in ihre Autonomie hinnehmen. Je nach Aufgabenkreis der Betreuung sind keine eigenständigen Vertragsabschlüsse mehr möglich bis hin zur Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Betreuer_innen – also des juristischen Wegs, über den Betreuer_innen klinische Zwangseinweisungen und -behandlungen einleiten können. Die Berufsbetreuer_innen haben dabei sehr selten direkten Kontakt mit den Betreuten, im Durchschnitt einmal pro Quartal. In dringenden Situationen sind sie oft nicht erreichbar. Zudem besteht ein doppeltes Jedermensch-Recht: jede_r Bürger_in kann Gesetzliche_r Betreuer_in werden, da eine besondere berufliche Ausbildung nicht verlangt wird. Zugleich kann jede_r Bürger_in für jede_n andere_n eine Betreuung bei Gericht anregen. Letzteres wird neben Ämtern vor allem von Angehörigen, Nachbar_innen und Wohnungsbaugesellschaften genutzt.

Die Zahl der niedergelassenen Psychiater_innen hat sich seit den 1970er Jahren verfünffacht auf mehr als 5.000, die etwa zwei Millionen ›Fälle‹ pro Quartal behandeln (vgl. Schneider/Falkai/Maier 2011: 42f.). Die Psychiater_innen sind – neben den Hausärzt_innen – eine wichtige Anlaufstelle für den Eintritt in das psychiatrische System, sie übernehmen quasi eine Filterrolle und sind oft auch für Einweisungen in die Klinik verantwortlich. Psychiater_innen werden aus ihrer Sicht mit einer relativ geringen Pauschale pro Person vergütet, sodass sie kaum Zeit für Gespräche einräumen, sondern sich vorwiegend auf die Vergabe der Psychopharmaka konzentrieren. Das entspricht ihrer Qualifikation: nach dem Medizinstudium absolvieren Psychiater_innen eine Facharztausbildung und sind auch organisatorisch in die ärztlichen Berufsverbände eingebunden. Medikamente werden von ihnen in der Regel als unverzichtbar und als unbedingte Voraussetzung für einen weiteren Behandlungsprozess legitimiert, viele Psychiater_innen machen sie sogar für eine ›Humanisierung der Psychiatrie‹ verantwortlich: »Die sozialpsychiatrischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte basieren auf der Wirksamkeit der Psychopharmaka.« (Möller/Laux/Kapfhammer 2005: 468) Die Erfindung der Depotspritze, über die Psychopharmaka einige Wochen im Körper verbleiben, machte die quasi lückenlose Kontrolle der Medikamenteneinnahme auch bei Menschen möglich, die sich außerhalb stationärer Settings bewegen. Entsprechend stark ist die Anzahl der verordneten Medikamente gestiegen; Matthias Seibt spricht von einer Vervierfachung der Verschreibungen seit der Psychiatrie-Enquête (vgl. Seibt 2000). Insbesondere der Anstieg der Neuroleptika-Vergabe bei Kindern und Jugendlichen mit Steigerungsraten von 40% innerhalb der letzten Jahre ist auffällig und hat auch für Schlagzeilen in der bürgerlichen Presse gesorgt.8

Neben den Psychiater_innen behandeln ca. 15.000 bis 20.000 ambulante Psychotherapeut_innen etwa 500.000 Personen pro Quartal – 1975 waren es noch ca. 1.500 Therapeut_innen. Menschen mit sogenannten ›schweren psychischen Störungen‹ werden allerdings meist von den Therapeut_innen abgelehnt und Angehörige der Unterschichten haben kaum Zugang zur ambulanten Psychotherapie, sodass es sich vorwiegend um ein mittelschichtsorientiertes Angebot handelt (vgl. Bühring 2001, Deutscher Bundestag 1975: 6).

Psychiatrische Gremien und Sozialpsychiatrischer Dienst: die Psychiatrie wird gemanagt

Angestoßen durch die Psychiatrie-Enquête wurden von den Kommunen flächendeckend Sozialpsychiatrische Dienste eingerichtet, die bei den Gesundheitsämtern angesiedelt sind. Zu ihren Aufgaben gehören die aufsuchende Krisenintervention,9 die auf den Einzelfall bezogene Steuerung der jeweiligen Maßnahmen und die Begutachtung, auch im Auftrag weiterer Ämter, wie etwa der JobCenter und der Rentenversicherung. Zudem reguliert der Sozialpsychiatrische Dienst (SpD) gemeinsam mit dem Sozialamt im Rahmen des sogenannten Fallmanagements die Vergabe von Leistungen im Anschluss an Klinikaufenthalte, koordiniert also die Zuweisungen der Betroffenen im gemeindepsychiatrischen Bereich und kontrolliert deren Entwicklung anhand eines zeitlich durchgetakteten Behandlungsplans. Ursprünglich war der SpD als niedrigschwellige, primär beratende Anlaufstelle für die gesamte Bevölkerung gedacht. Tatsächlich hat er sich jedoch zu einer staatlichen Agentur10 entwickelt, die einerseits die ›Klient_innen‹ durch das (gemeinde-)psychiatrische System delegiert, andererseits abweichendes Verhalten außerhalb der psychiatrischen Versorgung registriert und umfassend dokumentiert. Meist reagiert der SpD hierauf mit Kontrolle und Repression. Nicht umsonst gehört zu seinen Befugnissen die Veranlassung von Zwangseinweisungen. Gerade in Zeiten niedrigen Personalstands bei der öffentlichen Verwaltung und damit verringerter Ressourcen der Ämter sich beratend dem ›Einzelfall‹ zuzuwenden, wird von dieser Option rege Gebrauch gemacht.

Immer wieder wird von reformorientierten Versorgungsforscher_innen die Sektorierung des deutschen Systems beklagt, die aufgrund der zahlreichen Akteure und der zersplitterten Finanzierung durch verschiedene Kostenträger, von Krankenkassen über die Rentenversicherung hin zum Jugend- und Sozialamt, besonders hohe Abstimmung erfordere. Jenseits der individuellen Behandlungsplanung existieren daher zahlreiche Strukturen zur Planung der administrativen und der Angebotsebene. Die hochverdichtete Gremienlandschaft zeigt die Dimensionen des psychiatrischen Feldes mitsamt seiner ausdifferenzierten Teilbereiche und angrenzenden Gebiete an – aber auch die politischen und fachlichen Koordinierungsleistungen, die zu erbringen sind in einer Gesellschaft, in der zunächst jede Einrichtung konkurrenzförmig nur für sich selbst arbeitet. Allein in Berlin arbeiten mehr als 200 psychiatrische Gremien. Die Spannbreite reicht von den Psychiatriekoordinator_innen der Bezirke, welche die gemeindepsychiatrische Versorgung steuern, über Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften, in denen alle Versorgungsakteure zusammenarbeiten sollen, hin zu den Psychiatriebeiräten der Bezirke und des Landes, welche die jeweiligen gesundheitspolitischen Entscheidungsträger_innen beraten. Die Gremien überwachen sowohl die Inanspruchnahme und Finanzierung der Angebote als auch die Frage, ob Bedarf an weiteren Angeboten besteht und gegebenenfalls neuartige Angebotstypen für bestimmte identifizierte Bevölkerungsgruppen (etwa Migrant_innen, Wohnungslose, Schwangere in Krisensituationen) geschaffen werden sollten. In die Gremien sind mittlerweile häufig im Sinne des sogenannten Trialogs einzelne ›politikfähige‹ Vertreter_innen von Betroffenen- und Angehörigenverbänden einbezogen; sie stehen allerdings einer Überzahl an Professionellen gegenüber und müssen sich zudem der Eigenlogik von planerisch-gestaltenden Institutionen im bestehenden System fügen.

Kontrolle – Zwang – Bürokratie: gegen die neue Psychiatrie

Dem sozialpsychiatrischen Reformprojekt wurde vor allem in den 1980ern mit grundsätzlicher Kritik begegnet. Psychiatriekritiker_innen zeigten sich teils enttäuscht, dass statt eines gesellschaftlichen ein medizinischer Krankheitsbegriff fortgeschrieben und anstelle von Selbstorganisation der Betroffenen die Professionellen-Herrschaft prolongiert worden sei. Die Gemeindenähe sei lediglich technokratisch – anhand statistischer Kennzahlen zur durchschnittlichen Entfernung von Wohnsitz und Einrichtung – umgesetzt worden. Die von der Psychiatriereform ventilierte Fiktion der Gemeinde als heilendem sozialen Netzwerk und autonomem Lebensraum widerspreche der tatsächlich stattfindenden Vereinzelung und dem Zerfall der nachbarschaftlichen Beziehungen (vgl. Zurek 1991: 244f.). Betont wurde insbesondere der Kontrollaspekt der reformierten Psychiatrie. So schrieb die Blaue Karawane Bremen, die seit 1985 mit künstlerischen Aktionen für die Auflösung der Kliniken eintrat:

Die sogenannte gemeindenahe Psychiatrie mit ihrem komplexen Versorgungssystem mit Heimen und sozialpsychiatrischen Diensten hatte nicht den mündigen psychisch kranken Bürger geschaffen und auch nicht die Strukturen, die dazu verhelfen könnten; sie hatte eher weitergreifende Instrumente der Reglementierung geschaffen im Sinne des alten Auftrags der Psychiatrie – aber jetzt moderner, eleganter, nutzbarer. (Die Blaue Karawane o.J.)

Auch das Forum Anti-Psychiatrischer Initiativen hielt fest: »Gemeindenahe Psychiatrie führt zur totalen Kontrolle der Betroffenen, zur Psychiatrisierung der Gesellschaft und erwiesenermaßen zum Anstieg von Zwangsunterbringungen.« (Forum Anti-Psychiatrischer Initiativen 1990) Heiner Keupp, damals noch kritischer Sozialpsychologe, führte die ausgeweiteten Kontrolltendenzen auf eine falsche Prioritätensetzung der Psychiatriereform in Deutschland zurück, die im Gegensatz zu Italien nie auf eine Überwindung der Anstalt hingewirkt hätte. Lag in Deutschland der Akzent auf der Installation einer gemeindebezogenen Versorgung von oben, wurde in Italien ein prinzipieller Reformansatz umgesetzt, der sich die Auflösung aller psychiatrischen Kliniken zum Ziel setzte und »verhindern sollte, die Logik der Anstalt ins Territorium zu transportieren« (Battiston/Bonn/Borghi 1983: 243). Die hiesige Bewegung hat sich laut Keupp nur für eine bessere Versorgung, nicht aber für die Befreiung der Betroffenen eingesetzt:

Es wurde versucht, den Versorgungspol der Psychiatrie zu stärken und dadurch den Kontrollplan zurückzudrängen. Der Doppelcharakter von Hilfe und Kontrolle, der für die Psychiatrie von Beginn an konstitutiv ist, konnte dadurch nicht außer Kraft gesetzt werden. Umso weniger Ressourcen für eine angemessene Versorgung verfügbar sind, desto deutlicher zeichnet sich wieder die häßliche Fratze der Kontrolle ab. (Keupp 1987)

Entsprechend bilanzierte Keupp, dass die Anstalt gestärkt aus dem Modernisierungsprozess hervorgegangen sei. Von anderen Autor_innen wurde der bereits angedeutete Zusammenhang einer entfalteten psychiatrischen Angebotsstruktur und erhöhten Zahl von Zwangseinweisungen – ebenso wie gestiegener Psychopharmaka-Vergabe – kritisiert. Durch die zahlreichen ambulanten und beratenden Einrichtungen würden mehr Menschen diagnostiziert und in das System einbezogen: »Die Schwelle zur Psychiatrisierung sinkt.« (Lehmann 1989) In der Kritik stand auch, dass in den neuartigen Versorgungsstrukturen keine tatsächliche Unterstützung, sondern vor allem eine paternalistische Behandlung und Verwahrung der Nutzer_innen geleistet würde. Hans Luger, Mitarbeiter des antipsychiatrischen Projektes KommRum, verwies darüber hinaus auch auf die autoritäre Binnenstruktur und die bürokratische Verfasstheit der Gemeindepsychiatrie. Diese liege meist in der Hand des Öffentlichen Gesundheitsdienstes oder freier Träger der Wohlfahrtspflege:

Die ›psychosoziale Versorgung‹ ist eine eigene fiktive Welt aus ›Betten‹ und ›Plätzen‹, aus Tagessätzen und Paragraphen, aus Akten, Anträgen, Bewilligungen, Berichten, aus politischen Strategien und Bündnissen, aus Gremien und Mauscheleien auf den Fluren. Die konkrete Wirklichkeit derer, ›für die‹ das alles geschaffen wird, […] ist herausgefiltert, weggekürzt. (Luger 1990: 117f.)

Aus der Rationalisierung und Bürokratisierung ergäbe sich für die Betroffenen ein Mangel an einem konkreten Gegenüber, an dem sich Konflikte austragen ließen, und damit eine subtile Entmündigung und politische Passivierung der Betroffenen. Gerade die vielen engagierten und verständigen Mitarbeiter_innen, »die halt leider nicht anders können«, lähmten potenziellen Widerstand:

Das ist das Heimtückische an diesen bürokratischen Hürden: Es ist kein persönlicher Feind mehr sichtbar, kein Unterdrücker, den man wenigstens noch hassen könnte, wie etwa sadistische Ärzte oder Pfleger […] Das persönliche Gefühl der Ohnmacht entwickelt sich entlang der Sachzwänge. (ebd.: 119)

Viele der oben genannten Kritikpunkte sind in den »Thesen zur Abschaffung und Überwindung der Psychiatrie« der Bundesarbeitsgemeinschaft Soziales und Gesundheit der Grünen gebündelt, die unter Mitwirkung von Vertreter_innen der antipsychiatrischen Bewegung entstanden. Auch hier wird eine Stärkung der Klinik konstatiert, da »sie durch gemeindenahe Einrichtungen den Druck der Lagerathmosphäre mindern konnte [und] weil sie nun inmitten einer Vielzahl sozialpsychiatrischer Institutionen mit ihrer Drehtür den Rhythmus des Kreislaufs der Irren bestimmen kann« (Die Grünen 1984: 5). Das neue psychiatrische System sei damit gefährlicher als zuvor, denn es »ist flexibel, hochselektiv, undurchsichtig. Es funktioniert als Frühwarnsystem von Krisen, ohne daß es frühzeitig hilft« (ebd.: 5f.). Die Sozialpsychiatrie habe statt leicht zugänglicher Dienstleistungen für Menschen in Not spezialisierte, expertengeleitete, entmündigende und entpolitisierende Institutionen etabliert. Statt Wohnungen würden Therapeutische Wohngemeinschaften geschaffen: »Sozialpsychiatrische Institutionen übernehmen die Probleme der Leute und verwalten sie, statt daß sie eine Öffentlichkeit dafür schaffen und die Gemeinde zur Auseinandersetzung zwingen.« (ebd.: 6) So radikal und treffend die versammelte Kritik erscheint, waren sich die angeführten Kritiker_innen mit ihren Gegner_innen aus den Reihen der Psychiatriereform doch meist einig, auf Bürger- oder Menschenrechte zu pochen und Teilhabemöglichkeiten – wenn auch unterschiedlich ausbuchstabiert – einzufordern. Die Grünen etwa forderten »Erwerbsmöglichkeiten in kooperativ organisierten Projekten sowie in ›normalen‹ Lohnarbeitsverhältnissen«. Den »Herrschaftscharakter psychiatrisch-therapeutischer Hilfen« wollten sie ausgerechnet damit angehen, indem die »Vorhaltepflicht für therapeutische und betreuende Dienste […] bei der Kommune zu liegen« (ebd.: 8) habe. Ob damit wirklich die versprochene Abschaffung und Überwindung der Psychiatrie erreicht worden wäre?

Viele Facetten dieser aus den 1980er Jahren stammenden Kritik sind heute, nicht zuletzt aufgrund des Schwindens der antipsychiatrischen Bewegung und der allgemeinen Schwäche der Linken, kaum noch vernehmbar. Die wenigen verbliebenen antipsychiatrischen Initiativen beschränken sich meist auf die moralische Skandalisierung der unmittelbar evidenten Repression und des Zwangs in der Klinik in Form von Einweisung, Medikamentierung und Fixierung. Den Wandel der Versorgungslandschaft und des gesellschaftlichen Kontextes thematisieren sie kaum. Wie aber lässt sich das psychiatrische System heute, knapp 40 Jahre nach der Enquête, adäquat kritisieren?

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