Kitabı oku: «Handbuch der Soziologie», sayfa 12

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1Direkt im Anschluss an Beauvoir vgl. etwa die Studie von Scheu (1977), die zeigt, wie Mädchen und Jungen in der frühkindlichen Sozialisation dazu gebracht werden, sich entsprechend den vorherrschenden Geschlechterklischees zu verhalten. Bereits im Vorschulalter würden auf diese Weise geschlechtsspezifische Verhaltensschemata entwickelt. Eine gute historische Darstellung der moralischen Aufladung des »natürlichen Körpers« sowie der Kritik daran findet sich bei Honegger (1991). Stilbildend für viele aktuelle Forschungen zur Naturalisierung von Geschlecht war Garfinkels Konzept der »kulturellen Genitalien« (Garfinkel 1967). Auf Garfinkels Studie geht der Ansatz des »doing gender« (West/Zimmerman 1987) zurück, der im Weiteren eine ganze Reihe von Studien zu »doing X« angestoßen hat, etwa Behinderung, Rasse, Alter usw. In allen diesen Studien werden unzulässige Naturalisierungen aufgedeckt.
2Einen guten Überblick über die Debatte findet sich in zwei Sammelbänden (vgl. Institut für Sozialforschung 1994, Wobbe/Lindemann 1994) sowie in der Überblicksarbeit von Villa 2011.
3Gustav Friedrich Klemm (1802–1867), deutscher Anthropologe. Sein Hauptwerk war die »Allgemeine Culturgeschichte der Menschheit« 10 Bände 1843–1852.
4Auch Parsons Idee der Evolution von Gesellschaften hin zu funktionaler Differenzierung folgt noch diesem Fortschrittsoptimismus.
5Während der zweiten Phase stand die Diskussion um das deduktiv-nomologische Modell von Hempel und Oppenheim (1948; Hempel 1959) im Zentrum der Diskussion. Auch hier war wieder die Frage, ob dieses Modell allgemein oder für die sozialwissenschaftliche Forschung nicht oder nur in einem eng begrenzten Rahmen gelten soll. In der dritten Phase wird der Universalitätsanspruch des deduktivnomologischen Modells aus der Perspektive der analytischen Philosophie bestritten. Dabei werden Erklären und Verstehen – im Anschluss an Wittgensteins (1977) Theorie der Sprachspiele – als unterschiedliche Sprachspiele verstanden. Zu den wichtigen Autoren dieser Phase zählen Winch (1966) und Whright (1971/2008) sowie Apel (1979) selbst.
6Dieses Verständnis von Erklären baut auf der Analyse des experimentellen Handelns von Wright (1971/2008) auf und entspricht dem von Plessner (1931/1981) formulierten »Prinzip der geschlossenen Frage«.
7Klassisch findet sich dies bei Menger (1893/2004: 42ff, 78). Esser (1993) versucht, einen hermeneutisch verstehenden Rahmen um die Anwendung dieser Erklärung verbürgenden gesetzmäßigen Annahme herum zu konstruieren.
8Vgl. hierzu Apel (1979: 15f) sowie für die Soziologie Simmel (1908/1983: 22f) und Schütz’ Differenzierung zwischen Konstruktionen erster und zweiter Ordnung. Auch der Deutungsbegriff von Luhmann und sein Kommunikationsverständnis bauen auf einem solchen abstrakt formalen Verstehenskonzept auf. In der Analyse von Diskursen zielt das Verstehen darauf, die Regeln und Bedingungen des Kommunizierens und Handelns in den Mittelpunkt zu stellen, um so herauszuarbeiten, welche Möglichkeiten es für Akteure gibt, sich zu äußern bzw. zu handeln (Foucault 1966/1971).
9In der Sekundärliteratur wird die Analyse der Matrix der Moderne immer wieder im Sinne einer allgemeinen Anthropologie missdeutet (Fischer 2008). Auch die Arbeit von Mitscherlich (2007) ist nicht frei von diesem Missverständnis.
10Etwa 30 Jahre später wird Foucault (1966/1971) die Aussage vom möglichen Untergang des Menschen bzw. vom Tod des Menschen wiederholen und damit gerade in Deutschland auf heftige Kritik stoßen. Dabei war dieser Gedanke nahezu identisch bereits 1932 von Plessner formuliert worden.
11Auf die damit entstehenden Probleme hat u. a. Pels (1996) aufmerksam gemacht.
12Dass es sich hierbei um eine systematische Wende handelt, wird von einigen Autoren übersehen, weshalb sie die philosophischen Anthropologien Schelers, Gehlens und Plessners für einen einheitlichen Denkansatz halten (vgl. Fischer 2008).

[99]Ingo Schulz-Schaeffer

Atomismus versus Holismus: Wie entsteht das Soziale?


1.Einleitung

Ist das Ganze durch die Eigenschaften seiner Teile bestimmt? Lässt sich das Ganze dementsprechend aus den Eigenschaften seiner Teile erklären? Auffassungen, die diese Fragen bejahen, werden unter dem Begriff des Atomismus zusammengefasst. Ist man dagegen mit Aristoteles der Auffassung, dass das Ganze mehr ist als die Summe seiner Teile,1 dann vertritt man eine holistische Position. Aus einer holistischen Position muss man nicht abstreiten, dass »das Ganze«, das Gegenstand der Betrachtung ist, aus Teilen besteht. Die holistische Auffassung besagt lediglich, dass das Ganze als Ganzes Eigenschaften besitzt, die nicht aus den Eigenschaften seiner Teile abgeleitet werden können, so genannte emergente Eigenschaften (vgl. Esfeld 2003).

Die Ganzheiten, um die es in soziologischen Beschreibungen und Erklärungen geht, sind Kollektivphänomene vielfältiger Art: soziale Gebilde wie Interaktionsbeziehungen, Organisationen, soziale Bewegungen, Nationalstaaten oder das Weltwirtschaftssystem; soziale Institutionen wie die Familie, der Links- bzw. Rechtsverkehr oder das Gesundheitswesen; und soziale Prozesse wie die Säkularisierung, die Selbstreproduktion gesellschaftlicher Eliten oder die Ethnisierung sozialer Konflikte. Die Frage, von welcher Art die Teile sind, aus denen die Kollektivphänomene des Sozialen bestehen, wird in der Soziologie unterschiedlich beantwortet. Die Antwort auf diese Frage hängt von sozialtheoretischen Grundannahmen ab, bezüglich derer es beim gegenwärtigen Entwicklungsstand der Soziologie keine Einigkeit gibt. Von besonderem Gewicht sind vier sozialtheoretische Positionen: Handlungstheorie, Interaktionismus, Praxistheorie und – im deutschsprachigen Diskurs – systemtheoretische Kommunikationstheorie. Die handlungstheoretische Position lautet, die Soziologie habe »das Einzelindividuum und sein Handeln als unterste Einheit, als ihr ›Atom‹« (Weber 1988 [1922]: 439) zu behandeln. Der Interaktionismus argumentiert, dass die Einzelhandlung keine eigenständige Sinneinheit sei, sondern ihren Sinn daraus bezieht, dass sie Bestandteil von Interaktionen ist, weshalb die Interaktion als Grundelement des Sozialen zu betrachten sei (vgl. Strauss 1993: 25). Der Praxistheorie zufolge beruht das Soziale viel eher auf den stillschweigenden Selbstverständlichkeiten inkorporierten Wissens und Könnens – auf Praktiken also – als auf ausdrücklich intentional gesteuerten Handlungen. Die Systemtheorie Luhmann’scher Prägung schließlich hält dafür, dass alles Soziale aus Kommunikationen besteht. [100]Das Soziale liegt demnach in Gestalt sozialer Systeme vor, die als sinnprozessierende Systeme aus Einheiten sozialen Sinns bestehen: aus Kommunikationen.

Die Wahl der sozialtheoretischen Grundposition und die damit verbundene Entscheidung, was als Grundelement des Sozialen in den Blick genommen wird, hat einen Einfluss darauf, wie atomistisch oder holistisch eine soziologische Beschreibung oder Erklärung ausfällt. Bildet der systemtheoretische Kommunikationsbegriff das sozialtheoretische Fundament, dann ist damit unausweichlich zugleich auch eine holistische Betrachtungsweise des Sozialen verbunden. Denn das zentrale Merkmal der als Kommunikationen bezeichneten sozialen Sinneinheiten besteht darin, dass sie emergente Phänomene des Sozialen sind: dass der Sinn, der auf der Ebene der Kommunikationsprozesse generiert und prozessiert wird, genuin sozialer Sinn ist und nicht auf den Sinn zurückgeführt werden kann, den die Kommunikationsteilnehmer auf der Ebene ihres Bewusstseins als psychischen Sinn generieren und prozessieren. Auch der Interaktionismus und die Praxistheorie konzipieren ihr jeweiliges Verständnis der Grundelemente des Sozialen zumeist in einer Weise, die zu einer holistischen Betrachtungsweise des Sozialen führt. Ich komme darauf zurück. Einzig das handlungstheoretische Verständnis der Grundelemente des Sozialen enthält keine Festlegung auf holistische Erklärungen. Atomistische Erklärungen des Sozialen besitzen dementsprechend ganz überwiegend ein handlungstheoretisches Fundament. Damit ist jedoch nicht gesagt, dass die Wahl einer handlungstheoretischen Perspektive atomistische Erklärungen des Sozialen erzwingt. Auch darauf komme ich noch zurück.


2.Argumente für den Holismus

Der markanteste Vertreter holistischer Erklärungen des Sozialen aus der Gründerzeit der Soziologie ist Émile Durkheim. Er ist es, dessen Herangehensweise wir mit dem von René König geprägten Leitsatz verbinden, »Soziales nur durch Soziales zu erklären« (König 1984: 21).2 Durkheim argumentiert, dass die Regelmäßigkeiten der Natur und die Regelmäßigkeiten des Sozialen ganz unterschiedliche Grundlagen haben. Physikalische Gesetze sind allgemein, weil sie Zusammenhänge beschreiben, die in jedem zugehörigen Einzelfall so ablaufen. Die Allgemeinheit sozialer Regelmäßigkeiten kommt dagegen genau umgekehrt zustande: Ein entsprechendes soziales Phänomen ist allgemein, »weil es kollektiv (d. h. mehr oder weniger obligatorisch) ist; und nicht umgekehrt ist es kollektiv, weil es allgemein ist. Es ist ein Zustand der Gruppe, der sich bei den Einzelnen wiederholt, weil er sich ihnen aufdrängt.« (Durkheim 1984 [1895]: 111) Das Muster der atomistischen Herleitung physikalischer Gesetze lässt sich Durkheim zufolge also nicht auf soziale Phänomene übertragen. Diese lassen sich nur holistisch erfassen, denn die gemeinsam geteilten Anschauungen und Normen des Kollektivs gehen den Anschauungen und Überzeugungen des Einzelnen voraus und bestimmen diese.

Durkheim begründet seine holistische Sichtweise des Sozialen in Auseinandersetzung mit der atomistischen Auffassung, »daß alle sozialen Beziehungen sich auf den Vertrag zurückführen lassen« (Durkheim 1988 [1893]: 450). Das vertragstheoretische Denken ist eine atomistische Herleitung des Sozialen, weil es alle sozialen und gesellschaftlichen Strukturen auf Vereinbarungen zwischen Individuen zurückführt, welche die Individuen zum Zwecke der Verfolgung ihrer individuellen [101]Interessen miteinander eingehen. Heute verbinden wir die vertragstheoretische Herleitung des Sozialen vor allem mit Thomas Hobbes und seinem Hauptwerk Leviathan (vgl. Hobbes 1980 [1651]: 112 ff., 155 ff.), Durkheim bezieht sich hingegen vorwiegend auf vertragstheoretische Überlegungen von Jean-Jacques Rousseau und Herbert Spencer. Gegen die Vorstellung, dass das Soziale seinen Ursprung und seine Grundlagen in der Übereinstimmung der Interessen von Individuen hat, die in Verträgen ihren Ausdruck findet, argumentiert Durkheim,

daß jede Interessenharmonie einen latenten oder einfach nur vertagten Konflikt verdeckt. Denn wo das Interesse allein regiert, ist jedes Ich, da nichts die einander gegenüberstehenden Egoismen bremst, mit jedem anderen auf dem Kriegsfuß, und kein Waffenstillstand kann diese ewige Feindschaft auf längere Zeit unterbrechen. Das Interesse ist in der Tat das am wenigsten Beständige auf der Welt. Heute nützt es mir, mich mit Ihnen zu verbinden; morgen macht mich derselbe Grund zu Ihrem Feind. Eine derartige Ursache kann damit nur zu vorübergehenden Annäherungen und zu flüchtigen Verbindungen führen. (Durkheim 1988 [1893]: 260)

Wenn die Interessen der Beteiligten die einzige Grundlage der Einhaltung von Verträgen wären, dann wären Verträge nicht besonders haltbar und auf keinen Fall ein denkbares Fundament sozialer Ordnung. Vielmehr ist es Durkheim zufolge so, »daß der Vertrag, wenn er eine bindende Kraft besitzt, diese der Gesellschaft verdankt. […] Jeder Vertrag setzt […] voraus, daß hinter den vertragschließenden Parteien die Gesellschaft steht, die einzugreifen bereit ist, um den von diesen Parteien eingegangenen Verpflichtungen Respekt zu verschaffen.« (ebd.: 165) Die inhärente Instabilität von Vereinbarungen, deren einzige Grundlage die Interessen der Beteiligten ist, hat zur Konsequenz, »daß der Vertrag sich nicht selber genügt; er ist nur möglich dank einer Reglementierung des Vertrags, die sozialen Ursprungs ist« (ebd.: 272). Es ist also »nicht alles […] vertraglich beim Vertrag« (ebd.: 267; vgl. ebd.: 450). Diese Formulierung aufgreifend, spricht Talcott Parsons von dem »nicht-vertraglichen Element im Vertrag« (Parsons 1968 [1937]: 319).3

Talcott Parsons ist es auch, der Durkheims Überlegungen systematisiert und zu einem ausgearbeiteten Argument gegen die Möglichkeit einer atomistischen Erklärung der sozialen Ordnung aus individuellen Interessen weiterentwickelt. Parsons bezieht sich dabei vor allem auf die Überlegungen von Thomas Hobbes, was schon damit beginnt, dass er die Frage, wie in einer Gemeinschaft von Akteuren, die in ihrem Handeln eigene Ziele verfolgen, soziale Ordnung möglich ist, als das Hobbes’sche Problem bezeichnet (Parsons 1968 [1937]: 94, 314, 357): In Abwesenheit einer normativen Ordnung und unter der Bedingung, dass die Akteure danach streben, eigene Ziele zu realisieren, wäre ein Zustand des Krieges aller gegen alle die notwendige Folge. Alle Akteure würden zwangsläufig danach streben, durch List oder Gewalt Macht über andere Akteure zu gelangen, um sich diese im Interesse ihrer eigenen Ziele dienstbar zu machen (vgl. ebd.: 92; Hobbes 1980 [1651]: 112 ff.). Eine rein utilitaristische, d. h. auf individuellen Nutzenerwägungen beruhende Gesellschaft wäre also »chaotisch und unstabil, weil sie sich mangels Beschränkungen im Gebrauch von Handlungsmitteln – insbesondere von Gewalt und Betrug – notwendig in einen grenzenlosen Machtkampfverwandeln würde« (Parsons 1968 [1937]: 93 f.). Hobbes zufolge gibt es nur einen möglichen Ausweg aus diesem Problem: In Form eines Gesellschaftsvertrags, d. h. eines Vertrages »eines jeden mit einem jeden« (Hobbes 1980 [1651]: 155), einigen [102]sich die Gesellschaftsmitglieder aus eigenem Interesse darauf, »ihre natürliche Freiheit an eine hoheitliche Autorität abzugeben, die ihnen im Gegenzug Sicherheit garantiert, also Schutz gegen gewaltsame oder betrügerische Angriffe durch andere« (Parsons 1968 [1937]: 90; vgl. Hobbes 1980 [1651]: 155 f.).

Das zentrale Problem dieser Lösung ist, dass jene zentrale Autorität dem Einfluss des interessengeleiteten Handelns der Akteure entzogen sein muss, um unter den genannten Bedingungen soziale Ordnung garantieren zu können. Dann aber kann sie in ihrer Entstehung und in ihrem Fortbestand nicht utilitaristisch – also als Resultat von individuellen Nützlichkeitsüberlegungen – erklärt werden, wie es Hobbes vorschlägt.4 Dieser Einwand, der in großer Klarheit in Richard Münchs Rekonstruktion der Handlungstheorie Parsons’ dargelegt wird (vgl. Münch 1982: 35–37), führt Parsons zu dem Schluss, dass es auf einer strikt utilitaristischen Grundlage keine Lösung für das Problem der sozialen Ordnung gibt (Parsons 1968 [1937]: 93).

Aus der Tatsache, dass Gesellschaften mit hinreichend stabiler sozialer Ordnung existieren, folgt im Umkehrschluss dann, dass die Individuen ihre Ziele nicht ausschließlich auf der Grundlage ihrer jeweiligen Nutzenüberlegungen bestimmen. Denn aus der Existenz sozialer Ordnung folgt, dass die Akteure gemeinsame Ziele verfolgen, diese Gleichgerichtetheit kann nach dem zuvor Gesagten aber nicht Ergebnis individueller Nutzenüberlegungen sein. Erklärbar wird die Existenz sozialer Ordnung dagegen, wenn man annimmt, dass die Ziele der Akteure gar nicht so individuell zweckbezogen generiert werden wie Hobbes und andere Vertragstheoretiker unterstellen, sondern unter dem Einfluss gemeinsamer Wertorientierungen. Diese Annahme, so Parsons, »eröffnet einen Weg, die Grundlage gesellschaftlicher Ordnung als ›immanent‹, im Charakter der Gesellschaft selbst angelegt, zu interpretieren« (Parsons 1968 [1937]: 238). Dies wiederum entspricht genau der Auffassung Durkheims, dass die Allgemeinheit sozialer Phänomene ihren Ursprung im Kollektiv hat und nicht in den Individuen: Das soziale Leben ist »unmittelbar aus dem kollektiven Sein abzuleiten« (Durkheim 1984 [1895]: 203), und zwar »deshalb, weil das soziale Leben der besonderen Formung entspringt, der die einzelnen Psychen vermöge der Tatsache ihrer Assoziation unterliegen und aus der eine neue Existenzform entsteht« (ebd.).

Die Annahme der gesellschaftlichen Vorgegebenheit normativer Strukturen ruft allerdings den Einwand hervor, dass man sich damit der Möglichkeit begibt, die Entstehung der – in ihrer Existenz dann immer bereits vorausgesetzten – normativen Zusammenhänge zu erklären. Um die Entstehung normativer Strukturen zum Gegenstand soziologischer Theoriebildung machen zu können, müsse man, so James S. Coleman, mit einer Handlungstheorie beginnen, die von Individuen ausgeht, welche sich »unbeeinträchtigt von Normen und völlig eigennützig verhalten« (Coleman 1991: 38). Dann aber bleibt das Hobbes’sche Problem weiterhin ein Problem, für das nach einer atomistischen Lösung gesucht werden muss.

Ein Lösungsweg, der von Coleman (1991: 350 ff.) vorsichtig beschritten und von Hartmut Esser (2000: 316 ff.) sehr optimistisch aufgegriffen worden ist, beruht darauf, das Hobbes’sche Problem als ein Problem der Bereitstellung von Kollektivgütern zu reformulieren. Kollektivgüter (oder öffentliche Güter) sind dadurch definiert, dass sie auch von denen genutzt werden können, die zu ihrer Bereitstellung nicht beitragen. Akteure, die profitieren ohne beizutragen, werden als Trittbrettfahrer bezeichnet. Die soziale Ordnung, also etwa der Umstand, dass man sich darauf verlassen kann, dass Verträge eingehalten werden, ist in diesem Sinne ein Kollektivgut. Das [103]Hobbes’sche Problem ist somit ein Trittbrettfahrer-Problem: Für jeden Einzelnen ist es unter individuellen Nutzengesichtspunkten am vernünftigsten Trittbrettfahrer zu sein. Dann aber kommt es gar nicht erst zur Produktion von Kollektivgütern bzw. zur unweigerlichen Zerstörung eines jeden Kollektivgutes, das aus welchen Gründen einmal existiert. Die Sanktionen, die eingeführt werden, um Akteure vom Trittbrettfahren abzuhalten, lassen sich als Kollektivgüter zweiter Ordnung fassen. Denn die Wirkung der Sanktionen kommt ja ebenfalls allen und auch denen zugute, die sich an den Sanktionskosten nicht beteiligen. Das Sanktionsproblem, also das Problem der Sicherstellung der Sanktionierung, ist dementsprechend das zugehörige »Trittbrettfahrerproblem zweiter Ordnung« (Coleman 1991: 350). Coleman argumentiert nun, dass »das Sanktionsproblem weniger kostenaufwendig [ist] als das ursprüngliche Problem« (ebd.: 352), weil den Sanktionskosten ja auch ein Nutzen gegenübersteht, nämlich der Nutzen des Kollektivgutes erster Ordnung, dessen Existenz durch die Sanktionierung sichergestellt wird. Dies rechnet sich dann gegebenenfalls auch aus der Perspektive des individuellen Akteurs, dann nämlich, wenn sich genügend Nutznießer des Kollektivgutes erster Ordnung darauf einigen, sich die Sanktionskosten zu teilen. Eine solche Einigung aber, so Coleman, »ist von der Existenz sozialer Beziehungen zwischen den Nutznießern abhängig« (ebd.: 353). Sie ist mit anderen Worten eine soziale Bindung, die jeder einzelne Beteiligte auch gegen einen größeren individuellen Vorteil durchhalten muss, den er als Trittbrettfahrer erzielen könnte. So führen auch diese Überlegungen letztlich nicht zu einer Lösung des Hobbes’schen Problems allein auf der Grundlage des normfreien und eigennützigen Akteurs (vgl. auch Schulz-Schaeffer 2007: 161 f., Anm. 81).

Die vorangegangenen Überlegungen für eine holistische Erklärung sozialer Phänomene stützen sich vor allem auf eine negative Beweisführung, um zu begründen, dass man von dem immer bereits gesellschaftlich geprägten Individuum ausgehen müsse: auf den Nachweis der Unmöglichkeit, soziale Ordnung auf der Grundlage normfreien, individuell eigennützigen Handelns zu erklären. Es bleibt dabei unerklärt, wie diese vorgängige gesellschaftliche Prägung der Individuen ihrerseits entstanden ist.

Eine solche Erklärung bietet George Herbert Mead an. Seiner Auffassung nach ist die gesellschaftliche Geprägtheit der Individuen ein Produkt der Evolution, ein evolutionäres Erbe, das die Menschheit in modifizierter Form aus dem Tierreich übernimmt: Allgemein ist es von Vorteil, so Mead, wenn Lebewesen einer Art zusammenarbeiten, weil sie sich auf diese Weise besser schützen und ernähren und den Nachwuchs besser aufziehen können. Deshalb bilden sich bereits bei recht einfachen Lebewesen zum Teil recht komplexe Formen der Zusammenarbeit heraus wie dies etwa in Insektengesellschaften der Fall ist. Um ihr Verhalten erfolgreich koordinieren zu können, brauchen die Tiere dabei den Sinn ihres Handelns nicht zu verstehen und müssen dementsprechend auch kein Bewusstsein besitzen (vgl. Mead 1968 [1934]: 56). Die Verhaltensweisen der Einzelindividuen sind zunächst vielmehr über einfache Reiz-Reaktions-Mechanismen miteinander gekoppelt. Der »grundlegende Mechanismus, durch den der gesellschaftliche Prozess angetrieben wird«, so Mead (1968 [1934]: 52), »ist der Mechanismus der Geste, der die passenden Reaktionen auf das Verhalten der verschiedenen individuellen Organismen ermöglicht, die in einen solchen Prozeß eingeschaltet sind. […] Gesten sind Bewegungen des ersten Organismus, die als spezifische Reize auf den zweiten Organismus wirken und die (gesellschaftlich) angemessene Reaktion auslösen.« Auf diese Weise wird individuelles Verhalten zu Verhaltenszusammenhängen verknüpft, welche Mead als gesellschaftliche Handlungen bezeichnet. Die Gesten haben dabei die Funktion, »Reaktionen der anderen hervorzurufen, die selbst wiederum Reize für eine neuerliche Anpassung werden, bis schließlich die endgültige gesellschaftliche Handlung zustande kommt« (ebd.: 83).

Im Laufe der evolutionären Entwicklung werden aus Gesten signifikante Symbole, also sprachliche Äußerungen und andere sinnhafte Zeichenhandlungen, über die dann in menschlichen [104]Gesellschaften die Koordination der gesellschaftlichen Handlungen erfolgt. Dabei behält das signifikante Symbol aber die Funktion der Geste, einzelne Handlungen zu gesellschaftlichen Handlungen zu verketten. Und so wie der Sinn der Tiergesten in den gesellschaftlichen Handlungen liegt, die mit ihrer Hilfe zustande kommen, so leitet sich auch der Sinn der signifikanten Symbole aus den gesellschaftlichen Handlungen ab, die die Individuen zustande bringen, indem sie sich in ihrem Verhalten an diesen Symbolen orientieren. Ebenso wie das reizgesteuerte Verhalten der Tiere sind deshalb auch die durch signifikante Symbole gesteuerten menschlichen Handlungsweisen »sinnlos außerhalb der gesellschaftlichen Handlungen, in die sie eingebettet sind und aus denen sie ihre Signifikanz ableiten« (ebd.: 130). Daran ändert für Mead auch der Umstand nichts, dass dieser Sinn nun als Sinn vorliegt, auf den die Individuen bewusst reflektieren können: »Es gibt einen gemeinsamen Lebensprozeß seitens aller Mitglieder der Gemeinschaft, der mit Hilfe von Gesten abläuft. Die Gesten sind bestimmte Stadien innerhalb dieser kooperativen Tätigkeit, die den ganzen Prozeß lenken. Beim Auftreten von Geist wurde dieser Prozeß lediglich bis zu einem gewissen Grad in das Verhalten des Einzelnen hereingenommen.« (ebd.: 231).

Sicherlich ist Meads funktionalistisch-evolutionstheoretische Betrachtung menschlicher Handlungszusammenhänge überholt. Man wird kaum noch ernsthaft behaupten wollen, dass menschliche Handlungszusammenhänge ihre Existenz dem Umstand verdanken, dass sie den Überlebenserfolg der Gattung verbessern. Der bleibende Wert der Überlegungen Meads besteht vielmehr darin, dass sie eine Erklärung der Entstehung sowohl der Gesellschaft wie des Individuums bieten, die vermeidet, das eine voraussetzen zu müssen, um das andere erklären zu können: Wenn sinnhaftes individuelles Handeln sich sukzessiv aus dem gestengesteuerten Verhalten heraus entwickelt hat, mittels dessen Tiere ihr Zusammenwirken koordinieren, dann bedeutet dies erstens, dass sich ein durch bewusstlose Reiz-Reaktions-Mechanismen hervorgebrachter gesellschaftlicher Zusammenhang schrittweise in einen durch gemeinsam geteilte Sinnstrukturen gewährleisteten gesellschaftlichen Zusammenhang verwandelt. Und es bedeutet zweitens, dass das bewusstseinsfähige menschliche Subjekt selbst ein Produkt dieses Wandlungsprozesses ist. Dementsprechend ist es dann auch nicht mehr erforderlich, die Entstehung gesellschaftlicher Ordnung aus einem Anfangszustand normfreier, eigennütziger Akteure zu erklären. Einen solchen Anfangszustand hat es nie gegeben, sondern einen Prozess der sukzessiven Ablösung von Instinkten und Prägungen durch normative Regulierungen und andere sinnhafte Verhaltenssteuerungen, einen Prozess, währenddessen auch die Möglichkeit des individuell eigennützigen Handelns erst entstanden ist (vgl. Mead 1968 [1934]: 267, 279 f.).

Meads Auffassung, dass Einzelhandlungen nicht für sich existieren, sondern als Bestandteile von gesellschaftlichen Handlungen entstehen, von denen sich ihre jeweilige Bedeutung ableitet, ist im symbolischen Interaktionismus aufgegriffen und auf das Verhältnis von Handlung und Interaktion übertragen worden. Die Aussage lautet nun: Handlungen sind stets in Interaktionen eingebettet und beziehen daraus ihre jeweilige Bedeutung. Anselm Strauss zufolge ist dies die inzwischen allgemein geläufige Sichtweise:

wenn Sozialwissenschaftler ihre Forschungen durchführen, setzen sie gewiss voraus, dass das Handeln in Interaktionen und in Sinnsysteme eingebettet ist. Nur die wenigen Theoretiker, die über das Handeln an sich schreiben (so wie Weber, Schütz und Parsons) tendieren dazu, mit der Handlung zu beginnen, mit einer separaten Insel des Handelns; nicht mit der Annahme, dass Interaktion das vorgeordnete, zentrale Konzept ist, und auch nicht mit der Annahme, dass es ein analytisches Artefakt darstellt, das Handeln von der Interaktion zu trennen. Natürlich handelt eine Person […], aber diese jeweiligen Handlungen sind eingebettet in ein Netzwerk von Interaktionen. (Strauss 1993: 25)

[105]Der evolutionstheoretische Begründungszusammenhang spielt hier keine Rolle mehr, die Abge-leitetheit der Bedeutung von Handlungen aus dem Interaktionszusammenhang gewinnt vielmehr den Stellenwert eines empirischen Grundsachverhalts. Es gibt, so Strauss, »jedenfalls nach der sehr frühen Kindheit so gut wie kein Handeln, bei dem die Handlung von der Interaktion getrennt ist« (ebd.: 22). Weil menschliches Handeln empirisch gesehen ganz überwiegend im Kontext der Interaktion mit anderen Menschen erfolgt, ergibt sich auch die Bedeutung des Handelns dann jeweils erst im Kontext des betreffenden Interaktionszusammenhanges. Dieser Grundsachverhalt wird im symbolischen Interaktionismus dahingehend verallgemeinert, dass alle Sinnmuster und Sinngehalte, die der natürlichen wie der sozialen Welt ihre von den Akteuren wahrgenommene Bedeutung verleiht, interaktiv erzeugt sind: »Für den symbolischen Interaktionismus sind Bedeutungen«, so Herbert Blumer (1973 [1969]: 83 f.), »soziale Produkte, sie sind Schöpfungen, die in den und durch die definierenden Aktivitäten miteinander interagierender Personen hervorgebracht werden.«

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