Kitabı oku: «Handbuch der Soziologie», sayfa 2
3. | Was muss eine umfassende Theorie der Gesellschaft leisten? |
Die in den vorangehenden Abschnitten vorgestellten Beiträge arbeiten die Grundfragen und zentralen Kontroversen der Soziologie mit einer vergleichenden Perspektive auf konkurrierende Theorien, Methoden und Problemdeutungen auf. Dadurch kommen auch die zentralen Gründungsfiguren des Faches immer wieder zur Sprache und werden vielfach gewürdigt. Dieser komparative Blick verdeutlicht nicht nur die anhaltende Definitionsmacht der Klassiker, sondern auch den Auslegungsspielraum, den ihre Werke für nachfolgende Generationen hinterlassen haben. Was damit nicht offenkundig wird, ist jedoch die enorme Leistung, die in den Versuchen der Nachfolger steckt, aus der breiten Erbmasse an Problemstellungen und Lösungsvorschlägen eine kohärente Großtheorie zu entwickeln. Diese Bemühungen, eine umfassende Theorie der Gesellschaft aus vorhandenen Theorieelementen zu rekonstruieren oder durch Abgrenzung davon neu zu schreiben, lassen sich nur sichtbar machen, wenn den einzelnen Ansätzen zu einem solchen Projekt ganze Kapitel gewidmet werden. Darin soll die äußerst anspruchsvolle Arbeit soziologischer Theoriekomposition aufscheinen. Auf den Vergleich solcher Theorieprojekte muss man deshalb nicht verzichten, sofern alle Beiträge sich an einen ähnlichen Aufbau halten, der zu den komplexen Argumentationsketten der sehr verschiedenen Theorien freilich in allen Fällen passen sollte.
Wir betreiben also in diesem Handbuch keine ausführliche Klassikerexegese, weil Autoren wie Max Weber oder Émile Durkheim ohnehin in nahezu jedem Handbuchbeitrag an prominenter Stelle auftauchen, und richten den Fokus stattdessen auf acht theoretische Ansätze aus dem umfangreichen Inventar der Disziplin, die sich aus unserer Sicht in besonderer Weise darum verdient gemacht haben, das volle Arbeitsprogramm einer modernen Gesellschaftstheorie auf eine je eigene, originelle Weise zu entfalten. Auch Paradigmen wie die Sozialphänomenologie oder die Ethnomethodologie sind daher nicht mit einem eigenen Aufsatz vertreten. Sie leisten zwar außerordentlich wichtige Beiträge zum Theoriediskurs, nehmen dabei aber nur einen Ausschnitt dessen in den Blick, was wir unter einer komplexen Gesellschaftstheorie verstehen. Das Programm einer solchen Großtheorie, das zugleich eine gewisse Vergleichbarkeit der vorgestellten Theorien gewährleistet, beinhaltet: a) methodologische Reflexionen über die Bedingungen der [14]Möglichkeit sozialwissenschaftlicher Erkenntnis sowie über die Position und Rolle der Sozialwissenschaften innerhalb der Gesellschaft, b) sozialtheoretische Grundkategorien und Bausteine, die für das gesamte Spektrum der Sozial-, Geschichts- und Kulturwissenschaften Geltung beanspruchen, c) Aussagenkomplexe zum spezifischen Aufbau der modernen Gesellschaft, in der Regel gestützt durch den diachronen Vergleich mit vormodernen Gesellschaften, d) empirisch gehaltvolle Befunde zur Wandlungsdynamik moderner Gesellschaft bis hin zu Gegenwartsdiagnosen und Zukunftsprognosen sowie e) Pathologiediagnosen und Stellungnahmen zu Möglichkeiten und Risiken politischer Steuerung und Intervention, einschließlich der Reflexion auf die Problematik und die Begründbarkeit von normativen Aussagen und Kritik.
Die im Handbuch vorgestellten acht Paradigmen haben in der Regel einen zentralen Referenzautor, dessen Werk sich rekonstruieren und in Verbindung zu soziologischen Debatten und gesellschaftlichen Problemlagen bringen lässt. Behandelt werden die Theorien von Talcott Parsons, Niklas Luhmann, Jürgen Habermas, Michel Foucault, Pierre Bourdieu, Hartmut Esser und James Coleman, Anthony Giddens sowie Bruno Latour. Die inhaltliche Darstellung der Theorien orientiert sich an den oben genannten Programmpunkten und wird zusätzlich durch wichtige Kritikpunkte sowie theoretische Innovationen ergänzt. Eine genaue Aufschlüsselung der Gliederungspunkte für alle acht Großtheorien erübrigt sich hier. Stattdessen begründen wir kurz für jede einzelne, warum wir sie aufgenommen haben und in welchem Kontext sie lokalisiert und diskutiert wird.
Axel Honneth und Kristina Lepold unterziehen das Werk von Talcott Parsons einer anerkennungstheoretisch aktualisierten Lektüre. Zu diesem Zweck skizzieren sie Parsons voluntaristische Handlungstheorie, sein strukturfunktionalistisches Systemmodell, die darauf basierende Theorie moderner Differenzierungsdynamiken und den Fortschrittsoptimismus seiner Modernisierungstheorie einschließlich der Risiken vereinseitigter Modernisierung. Parsons Werk erscheint von hier aus als idealtypisches Beispiel für eine Gesellschaftstheorie in dem von uns definierten Sinne. Seine Bedeutung als Referenztheoretiker für Luhmann, Habermas oder auch Giddens ist unübersehbar und sein Ansatz lebt in den Debatten um »multiple modernities« (Shmuel N. Eisenstadt) und die neofunktionalistischen Theorieprogramme (Jeffrey C. Alexander, Richard Münch) bis heute fort. Für Honneth und Lepold kommt der Gesellschaftstheorie von Parsons aktuelle Bedeutung vor allem deshalb zu, weil sie die Möglichkeit und Notwendigkeit zeigt, den normativen Gehalt der modernen Institutionen (kritisch) zu rekonstruieren, über den die Gesellschaftsmitglieder laufend miteinander streiten und Einvernehmen erzielen können müssen.
Angesichts der enormen Bandbreite seiner Sozial- und Gesellschaftstheorie bedarf es keiner ausführlichen Begründung, warum Niklas Luhmann Aufnahme in den Kanon dieses Handbuches findet. Wolfgang Ludwig Schneider unternimmt eine systematische Rekonstruktion von Luhmanns Schriften und geht auf Schlüsselwerke wie »Soziale Systeme«, »Gesellschaftsstruktur und Semantik« oder »Die Gesellschaft der Gesellschaft« ein. Dabei legt er nicht nur die Basiskategorien der Systemtheorie und ihre beobachtungstheoretischen Prämissen dar, sondern verdeutlicht auch exemplarisch die Theorie funktionaler Differenzierung am Fall des Wissenschaftssystems. Denn an diesem Beispiel wird sichtbar, wie Luhmann den gesellschaftlichen Ort der Soziologie als Teil dieses Funktionssystems zu bestimmen und somit auf seine methodologischen Implikationen hin zu reflektieren vermag. Zum Abschluss modifiziert Schneider in seinem Beitrag Luh-manns Projektion einer funktional differenzierten Weltgesellschaft durch neuere Diskussionen zum Thema Inklusion/Exklusion sowie zur Rolle parasitärer Netzwerke, die eine partielle Erweiterung des Programms der Theorie sozialer Systeme nahelegen.
Im Werk von Jürgen Habermas kommt das Programm einer rekonstruktiv angelegten, d. h. vielfältige Quellen und Vorarbeiten des soziologischen und philosophischen Diskurses aufnehmenden [15]und neu arrangierenden Theoriebildung voll zum Tragen, wie William Outwaithe in seinem Beitrag zu verdeutlichen sucht. Outhwaite arbeitet heraus, wie Habermas zentrale Einsichten der Disziplin zu einer Theorie des kommunikativen Handelns weiterentwickelt. Dazu gehören etwa der Historische Materialismus bei Karl Marx, Ervin Goffmans Modell des dramaturgischen Handelns, George Herbert Meads Theorie der Individuation, John L. Austins Sprechakttheorie, Jean Piagets und Lawrence Kohlbergs Entwicklungspsychologie, Max Webers Rationalisierungsthese oder Émile Durkheims Differenzierungstheorie. Einen Schwerpunkt des Beitrags bilden die Arbeiten, die Habermas seit »Faktizität und Geltung« verfasst hat, um seine Theorie auf aktuelle Herausforderungen wie die Globalisierung oder die Bioethik zu beziehen. Sichtbar werden so nicht zuletzt Kontinuitäten und Brüche zur ersten und dritten Generation der Kritischen Theorie, also zu Theodor W. Adorno, Max Horkheimer oder Walter Benjamin einerseits und zu Axel Honneth, Seyla Benhabib oder Nancy Fraser andererseits.
Als poststrukturalistische Theorieposition, die an der (archäologischen und genealogischen) Untersuchung historischer Formationen von Diskurs- und Zeichenwelten festhält und die Verstrickung der Sozial-, Kultur- und Lebenswissenschaften in das Machtgefüge der modernen Gesellschaft aufzeigt, gehört auch das Werk von Michel Foucault in dieses Handbuch. Wie der Beitrag von Sina Farzin zeigt, leistet Foucault über die Bereitstellung innovativer methodischer Werkzeuge hinaus insbesondere mit seinen Analysen der Kontrollstrukturen und Disziplinierungstechniken sowie den Studien zur Gouvernementalität der Gegenwart wertvolle Beiträge zur modernen Gesellschaftstheorie, die in den letzten Jahren immer weiter in den soziologischen Wissensbestand eingesickert sind.
Ausgehend von dem frühen, mittels ethnologischer Untersuchungen zur Gesellschaft der Kabylen gewonnenen »Entwurf einer Theorie der Praxis« beschäftigt sich Robin Celikates mit den Basistheoremen der kritischen Soziologie von Pierre Bourdieu. Demzufolge setzt Bourdieu eine Traditionslinie moderner Gesellschaftstheorie fort, die auf soziale Kämpfe zwischen Klassen abstellt und erweitert diese mit einer kultursoziologischen Analyse symbolischer Klassifizierungen. Konzepte wie Habitus, Praxis und Feld stehen im Zentrum aktueller Diskussionen über das Programm einer praxeologischen bzw. relationalen Sozial- und Gesellschaftstheorie. Darüber hinaus deckt sein Werk mit Selbstreflexionen des soziologischen Blicks, Analysen zum Geschlechterkonflikt, zeitdiagnostischen Thesen zur Ökonomisierung der Gesellschaft sowie deren politischer Wendung zu einer Kritik der neoliberalen Invasion wiederum alle Stufen des allgemeinen Theorieprogramms ab. Als kritischer Anschluss werden vor allem die Arbeiten um Luc Boltanski und Laurent Thévenot einbezogen, die den »doppelten Bruch« problematisieren, den Bourdieu gegenüber den Illusionen des Common Sense für unvermeidbar halte, der aber die reflexiven Kompetenzen des Alltagslebens unterschätze.
Clemens Kroneberg setzt sich in seinem Beitrag mit den Rational-Choice-Ansätzen auseinander. Neben den handlungs- und spieltheoretischen Grundlagen des Ansatzes wird das »Makro-Mikro-Makro-Modell« zur Erklärung sozialer Tatbestände präsentiert (James Coleman, Hartmut Esser) sowie der Fokus auf die Folgen und Dynamiken aggregierter individueller Entscheidungen gerichtet, in Anlehnung an Mancur Olsons Kollektivgutproblem. Kroneberg nutzt seinen Beitrag nicht zuletzt für ein Plädoyer, in dem er die Theorien der rationalen Wahl gegen klassische Einwände verteidigt, gesellschaftstheoretische Abstraktionen ablehnt und stattdessen für deduktiv-nomologische Erklärungen mittlerer Reichweite votiert.
Mithilfe des Bauplans einer komplexen Gesellschaftstheorie lässt sich auch der Strukturationsansatz von Anthony Giddens sehr gut rekonstruieren, wie Jörg Oberthürs Beitrag zeigt. Mit seinem Theorem der doppelten Hermeneutik zielt Giddens auf die Besonderheiten sozialwissenschaftlicher im Unterschied zu naturwissenschaftlicher Erkenntnis. Und mit der Unterscheidung von [16]Sozialtheorie und Soziologie kennzeichnet er selbst Theorieaufgaben mit unterschiedlichem Generalisierungsanspruch, um die Diskontinuitäten zwischen vormoderner und moderner Gesellschaft identifizieren zu können. Die Wandlungsdynamik der Moderne gleiche inzwischen einer Fahrt mit dem »Dschagannath-Wagen«, sei also kaum mehr zu kontrollieren und erzeuge massive Folgeprobleme, so dass die Soziologie gefordert ist, verbliebene politische Handlungsoptionen zu finden und freizulegen. Abschließend geht Oberthür auch auf zentrale Kritiken und Weiterentwicklungen des Strukturationsansatzes ein, etwa auf Theorien reflexiver Modernisierung.
Schließlich werden im Handbuch auch die Arbeiten von Bruno Latour behandelt. Ausgehend von Latours wissenschaftssoziologisch ausgerichteten Laborstudien zeigt Henning Laux in seinem Beitrag, wie Latour seinen Ansatz im Laufe der Jahre sukzessive zu einer vollwertigen Gesellschaftstheorie ausgebaut hat. Ausgehend von seinem Unbehagen mit dem konstitutionellen Gefüge der Moderne (»Wir sind nie modern gewesen«), formuliert Latour eine Zeit- und Pathologiediagnose (»unkontrollierte Produktion von Hybriden«) und darauf bezogene Überlegungen zur Politik und zur Erneuerung demokratischer Öffentlichkeit (»Parlament der Dinge«). Von hier aus entwickelt er mit der Akteur-Netzwerk-Theorie ein sozialtheoretisches Vokabular, das Studien zu verschiedenen Feldern der Gesellschaft anleitet (u. a. Politik, Recht, Ökonomie, Kunst, Religion). Diese Befunde überführt er schließlich in eine »Soziologie der Existenzweisen«, die eine neuartige Differenzierungstheorie darstellt, mit deren Hilfe nicht nur eine alternative Bestimmung der modernen Gesellschaft, sondern auch eine »diplomatische Soziologie« möglich werden soll. Diese kann dazu beitragen, der planetarischen Bedrohung durch den anthropogenen Klimawandel entgegenzutreten.
4. | Was erforschen Soziologinnen und Soziologen? |
Die Beiträge im vierten Teil des Handbuches geben eine breite und allgemeinverständliche Einführung in traditionelle und zeitgenössische Untersuchungsfelder der Soziologie. Die Erkenntnisse der hier vorgestellten »Bindestrich-Soziologien« bilden ein unverzichtbares Material für die im vorangegangenen Abschnitt exemplarisch vorgestellten Gesellschaftstheorien. Zwischen den Speziellen Soziologien und der Allgemeinen Soziologie besteht dennoch kein unilinearer Zusammenhang; beide befruchten sich vielmehr wechselseitig. Denn ebenso wie allgemeine Überlegungen zur Reproduktion und zum Wandel sozialer Ordnung ohne die Berücksichtigung konkreter Forschungsergebnisse spekulativ blieben, erweisen sich umgekehrt der Zuschnitt und die Gewichtung der einzelnen Untersuchungsfelder als selber theorieabhängig. So spiegelt sich zwar die geläufige Auffassung, im Prinzip lasse sich jedes Thema soziologisch studieren, in der langen Liste disziplinärer Untergliederungen; gleichwohl hat sich die Forschungsintensität historisch ausgesprochen ungleich verteilt und sind gerade die historisch gewachsenen Kernbereiche durch grundlegende Kontroversen geprägt. Die wissenschaftlichen Netzwerke, die sich der systematischen Erforschung gesellschaftlicher Teilbereiche und spezifischer soziologischer Themenfelder widmen, differenzieren sich mithin sowohl in Abhängigkeit von der Struktur der analysierten Gesellschaftsformation als auch entlang konkurrierender sozialtheoretischer Paradigmen. Um die soziologische Forschung in ihrem umfassenden, umstrittenen, unabgeschlossenen und gleichwohl historisch gewachsenen Charakter zu präsentieren, kommen die etablierten Teilbereiche der Disziplin wie die Rechtssoziologie, die Wirtschaftssoziologie, die Kultursoziologie usw. in Einzelbeiträgen zu Wort, für die wir Cluster aus verwandten, institutionell jedoch regelmäßig separierten Themen gebildet haben, die von den Autorinnen und Autoren dieses Abschnitts in ihrem Zusammenhang diskutiert werden, ohne dabei auf eigene Positionierungen zu verzichten.
[17]Den Auftakt macht Paula-Irene Villa, deren Beitrag zu den Feldern »Körper, Geschlecht und Sexualität« die Bedeutung des Natur-Kultur-Dualismus veranschaulicht und aufzeigt, wie diese Unterscheidung im Alltagsverständnis und vor allem in der soziologischen Reflexion brüchig geworden ist. Der Beitrag skizziert die institutionelle Etablierung und den Forschungsstand von Körpersoziologie, Geschlechtersoziologie und Soziologie der Sexualität sowie deren Verhältnis zueinander aus dem in der Disziplin verbreiteten Selbstverständnis, dem zufolge soziologische Forschung darauf zielt, alltagsweltliche Überzeugungen zu hinterfragen. Wie lassen sich die Naturalisierung von Körper, Geschlecht und Sexualität erklären? Welche Konstruktionsprozesse liegen diesen mit welchen Folgen zugrunde? Diskutiert werden, nicht zuletzt mit Blick auf die empirische Forschung, gleichermaßen die praxeologische Perspektive auf die soziale Hervorbringung des vermeintlich Vorsozialen und die Rolle, die gesellschaftlichen Strukturen dabei zukommt. Ein abschließender Ausblick auf die Intersektionalitätstheorie unterstreicht, dass die einzelnen soziologischen Untersuchungsfelder alles andere als hermetisch gegeneinander abgegrenzt sind und von den entsprechenden Forschungen Impulse ausgehen, die neue Perspektiven, konzeptuelle Innovationen und paradigmatische Verschiebungen in anderen gesellschaftswissenschaftlichen Forschungsfeldern anstoßen.
Die Bereiche der Sozialisationsforschung, der Bildungs- und der Familiensoziologie skizzieren Hans-Peter Müller, Erika Alleweldt und Jochen Steinbicker aus sozialstruktureller Perspektive: Welche Funktionen haben Sozialisation, Bildung und Familie für die Reproduktion sozialer Ungleichheit? Die verkürzende Unterscheidung zwischen Mikro- und Makroebene überwindend, zeichnet der Beitrag zunächst die auch institutionell weit vorangeschrittene Ausdifferenzierung dieser ausgesprochen umfangreichen Teildisziplinen im deutschen sowie im internationalen Kontext nach. Vorgestellt wird der Vergesellschaftungsprozess entlang der Forschungen zu Sozialisationsinstanzen und -kontexten, zu Lebensphasen und zu den Dimensionen und Effekten von Sozialisation. Die besondere Bedeutung der primären Sozialisation findet mit Blick auf die Veränderungen des Verständnisses und der Struktur von Familie ebenso Berücksichtigung, wie die Rolle und der Wandel der Bildung unter dem Gesichtspunkt der sekundären Sozialisation thematisiert werden. Die Diskussion der Wissensbestände dieser soziologischen Untersuchungsfelder liefert Hinweise dafür, dass die zentrale Frage nach der Reproduktion sozialer Ordnung nicht ohne klassentheoretische Konzepte und ideologiekritische Überlegungen beantwortet werden kann.
Die normative Regelung gesellschaftlicher Ordnung bildet den Gegenstand des nachfolgenden Beitrags, in dem Susanne Krasmann das sozialwissenschaftliche Wissen zu »Recht, Norm und Sicherheit« diskutiert. Im Vordergrund steht dabei die Spezifik des Rechts. Wie wirken rechtliche Normen? Was unterscheidet sie von anderen sozialen Normen? Anders als z. B. die Moral lässt sich das moderne Formalrecht nur im Zusammenhang mit der Staatsgewalt verstehen. Von diesem Ausgangspunkt her thematisiert der Beitrag zunächst unterschiedliche sozialwissenschaftliche Ansätze zum Zusammenhang von Recht und Ordnung. Das Spektrum der hierfür relevanten Überlegungen reicht von anthropologischen über liberale, sozialkonstruktivistische und materialistische bis hin zu poststrukturalistisch inspirierten Perspektiven. Ganz im Sinne des disziplinären Selbstverständnisses, alltagsweltliche Illusionen kenntlich zu machen, dienen die Widersprüchlichkeiten des Rechts im Verhältnis zu Gewalt, Ordnung, Gerechtigkeit usw. als Leitgesichtspunkte der Darstellung. Systematisch werden diese hinsichtlich der Legitimität sowie der Legalität des Rechts diskutiert und schließlich mit Blick auf den Wandel des Strafrechts und dessen zunehmende Funktionalisierung für Sicherheitszwecke ausgeführt.
Zu den ältesten Teilbereichen der Disziplin zählt neben der Rechts- auch die Wirtschaftssoziologie. Letztere steht im Fokus des Beitrags von Christoph Deutschmann zu »Wirtschaft, Arbeit und Konsum«. Die Aufgabe der Wirtschaftssoziologie wird anhand der Infragestellung der klassischen [18]Arbeitsteilung mit den Wirtschaftswissenschaften umrissen, der zufolge diese die Logik wirtschaftlichen Handelns und jene die soziokulturellen Kontextfaktoren betrachtet. Gegen die modelltheoretischen Annahmen der Wirtschaftswissenschaften zeichnet Deutschmann nach, dass die von der vorherrschenden neoklassischen Theorie als ahistorisch unterstellte ökonomische Handlungsrationalität selbst ein Produkt der geschichtlichen Entwicklung ist, das man zu dem in seiner Wirkungsweise und Dynamik nur verstehen kann, wenn die institutionellen Einbettungen der Wirtschaft nicht als deren äußerlicher Rahmen, sondern als ihre ambivalenten und instabilen Hervorbringungen konzipiert werden. Wirtschaftssoziologische Forschung ziele darauf, die mit der räumlichen sowie sozialen Entgrenzung der Märkte freigesetzte Dynamik zu erfassen, die die gesamte Gesellschaft, das Arbeitsleben und den Konsum inklusive der markteinbettenden Institutionen, Organisationen, Netzwerke und Leitbilder einem fortlaufenden Veränderungsdruck aussetzen.
Auch der anschließende Beitrag stellt die herkömmliche Scheidung und Entgegensetzung von Wirtschaft und Kultur, von Materiellem und Symbolischem in Frage. Die Kultursoziologie hat sich in den vergangenen Jahrzehnten grundlegend verändert. Diese Transformationen manifestieren sich am augenfälligsten in der Entstehung der Cultural Studies. Unter dem Titel »Kultur, Medien und Technik« erläutert Scott Lash, wie weitgehend unsere Lebensform und ihre medialen Kommunikationsweisen heute technologisch durchdrungen sind. In der Folge nehmen gesellschaftliche Zusammenhänge zunehmend einen verselbstständigten, systemischen Charakter an. Der Beitrag fragt nach den kulturellen Grundlagen dieser Entwicklung, die ganz in der Tradition kultursoziologischen Denkens in den gesellschaftlich vorherrschenden, aber kontingenten Rationalitätsmustern identifiziert werden: einer Kontexten gegenüber unsensiblen, kategorisierenden theoretischen Vernunft und einer individualistischen Zweckrationalität. Lash ruft dagegen die antike Erörterung des Technikbegriffs in Erinnerung und findet in diesem Zusammenhang bei Aristoteles die Alternative einer pragmatistischen, produktiven Vernunft, die sich gegen die neoliberale Vereinnahmung unserer technischen Kultur wenden lässt.
Auch das Themencluster »Wissen, Sprache und Macht« wird aus einer kulturtheoretischen Perspektive vorgestellt, die Bedeutungsfragen nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit den materiellen Aspekten des Sozialen erörtert. Sven Opitz und Ute Tellmann skizzieren zunächst, wie sich das kulturtheoretische Paradigma der Soziologie als Bedeutungswissenschaft durch strukturalistische, wissens- und wissenschaftssoziologische Impulse in Abgrenzung zur Hermeneutik entwickelt und die Disziplin für poststrukturalistische Einflüsse geöffnet hat. Sodann stellt der Beitrag dar, wie diese Mittel zur Erforschung von Prozessen der Bedeutungsproduktion für soziologische Machtanalysen der Formierung kollektiver Identitäten fruchtbar gemacht werden. Mit postkolonialen, hegemonietheoretischen, gendertheoretischen, affekttheoretischen und netzwerkanalytischen Ansätzen kommen dabei insbesondere solche Impulsgeber zur Sprache, die derzeit noch jenseits des disziplinären Mainstreams liegen.
Die Politische Soziologie im engeren Sinne thematisiert Hauke Brunkhorst mit Blick auf die Forschungsfelder »Nationalstaat, Demokratie und Solidarität«. Die Ordnungsmuster, entlang derer Gesellschaften sich politisch strukturieren, werden in diesem Beitrag über den Begriff der Solidarität eingeführt. Bei diesem handle es sich nicht etwa um eine auf Freundschaft beruhende soziale Beziehung oder ein ähnlich geartetes affektuelles Band, sondern, wie am römischen Zivilrecht belegt wird, um einen formalen Rechtsbegriff, der die Verbindung von Fremden ermöglicht. Dessen Synthese mit dem egalitären Universalismus des Christentums habe eine Verrechtlichung des Republikanismus und schließlich eine Demokratisierung der politischen Gewalt in die Wege geleitet, als deren zentrales Problem sich bald die Beherrschung des kapitalistischen Systems herausgestellt habe. Eine im Sozialstaat als soziale Gerechtigkeit organisierte gesellschaftliche [19]Solidarität hänge vor allem von starken Gewerkschaften und einem etablierten Parlamentarismus ab. Im Zuge von Europäisierungs- und Globalisierungsprozessen müssen beide durch andere Mechanismen ergänzt, können aber nicht ersetzt werden. So führt der Blick auf den Zusammenhang von Recht, Solidarität und Demokratie zu den in der politiksoziologischen Forschung vordringlichen Fragen nach den zivilgesellschaftlichen Akteuren und Organisationen, den politischen Institutionen und den nationalen, inter-, trans- und supranationalen Strukturen, die die Spannung zwischen Demokratie und Kapitalismus zu mildern in der Lage waren, heute unter Druck geraten und teilweise zusammengebrochen sind.
Der Befund, dass vertikale soziale Ungleichheiten gegenwärtig zunehmen, stellt auch den Ausgangspunkt des Beitrags von Klaus Dörre zur Sozialstrukturanalyse dar. Unter dem Titel »Prekarität, Achsen der Ungleichheit und Sozialstruktur« skizziert der Beitrag zunächst entlang der zentralen makrosoziologischen Kategorien zur Beschreibung sozialer Ungleichheit die Zurückdrängung klassentheoretischer Konzeptionen durch individualisierungstheoretische Ansätze, die der gegenwärtigen Lage nicht angemessen seien. Als Alternative dazu wie auch zu den früheren Begrifflichkeiten, die der gegenwärtigen Lage ebenfalls nicht gerecht werden, ist in den vergangenen Jahren das Konzept der Prekarität als Schlüsselkategorie der Sozialstrukturanalyse ausgearbeitet worden. Dörre stellt den Verlauf der Diskussion, die begrifflichen Innovationen sowie empirische Forschungsergebnisse vor, bettet das Konzept in den theoretischen Rahmen der Intersektionalitätsforschung ein und widmet sich den Herausforderungen, die sich daraus ergeben, die Strukturierung sozialer Ungleichheit aus der Perspektive gesellschaftlicher Unsicherheit in den Blick zu nehmen.
5. | Bedarf es einer neuen Soziologie? |
Die zentralen Herausforderungen, mit denen die Soziologie heute konfrontiert ist, bilden das Thema des fünften und letzten Abschnitts dieses Handbuchs. Wie die Beiträge zu den etablierten soziologischen Untersuchungsfeldern und Teildisziplinen verdeutlichen, sind diese ausnahmslos im Wandel, sowohl aufgrund wissenschaftsinterner Dynamiken und theoretischer Impulse wie auch aufgrund gesellschaftlicher Transformationsprozesse, die nach neuen Beschreibungskategorien, Deutungsansätzen und explanativen Theoremen verlangen. Der durch die Konfrontation konkurrierender Perspektiven vorangetriebene Fortschritt wissenschaftlicher Erkenntnis berührt häufig jedoch nicht die Grundannahmen und paradigmatischen Selbstverständlichkeiten der jeweiligen Forschungsfelder oder gar der Disziplin insgesamt. Nicht jede unvorhergesehene gesellschaftliche Entwicklung stellt die Soziologie vor eine fundamentale Herausforderung, doch einige lassen sich nicht mit dem bestehenden Forschungsinstrumentarium oder durch kleinere begriffliche Anpassungen und theoretische Fortentwicklungen verständlich machen. Die Herausgeber haben sechs gesellschaftlich virulente Problemfelder identifiziert, zu denen die Beiträge einen allgemeinverständlichen Einblick entlang der Frage geben, inwiefern jüngere soziale Entwicklungen und Ereignisse noch innerhalb der vorhandenen sozialwissenschaftlichen Paradigmen adäquat erfasst werden können oder aber die Soziologie ihre bisherigen Grenzen überschreiten muss, um ihrer gesellschaftlichen Funktion gerecht zu werden, einen relevanten Beitrag zur Aufklärung gesellschaftlich drängender Problemkonstellationen zu leisten.
Der Beitrag von Bernd Sommer und Harald Welzer widmet sich dem Feld ökologischer Herausforderungen, die einstweilen vorrangig mit Blick auf den Klimawandel und unter naturwissenschaftlichen und technischen Gesichtspunkten konzipiert werden. Gegen diese Auffassung wird in doppelter Hinsicht die wechselseitige Abhängigkeit der Entwicklung natürlicher und [20]sozialer Zusammenhänge hervorgehoben. Einerseits sind Naturereignisse nur im Kontext gesellschaftlicher Ordnungen herausfordernd, andererseits haben Lebensformen Auswirkungen auf natürliche Systeme, deren Regulierung notwendigerweise diese Lebensformen tangiert und deswegen nicht rein technisch erfolgen kann. Die Einsicht in den Zusammenhang von Klima- und Gesellschaftswandel führt zu der Überlegung, dass es sich bei Ersterem lediglich um ein Symptom menschengemachter Ressourcenknappheiten handelt, deren Ursache in der gewaltigen Zunahme umweltbeeinflussender menschlicher Aktivitäten seit der Industrialisierung zu finden ist und die dem energieintensiven Modell der expansiven Moderne Grenzen setzen. Die Soziologie steht damit vor der Aufgabe, die Möglichkeiten einer alternativen Moderne auszuloten, die bestandsfähige Lebensstile ermöglicht.
So wie die moderne Gesellschaft bislang durch ihre Wachstumslogik gekennzeichnet ist, so ist sie auch durch ihre staatliche Organisation geprägt. Die moderne Gesellschaft ist staatlich organisierte Gesellschaft. Die staatliche Funktion, Gewalt zu monopolisieren, bedeutet mithin, dass sich die moderne Gesellschaft einerseits als weitgehend gewaltfrei darstellt, andererseits aber die Mittel der Gewaltanwendung potenziert hat. Der als solcher mittlerweile nicht mehr umstrittene grundlegende Wandel moderner Staatlichkeit berührt deswegen auch die gesellschaftliche Rolle und Funktion der Gewalt. Steht die Soziologie vor der Herausforderung, mit der Kopplung von Staat und Gesellschaft auch die Verknüpfung von Gewalt und Staat zu überwinden? Diese Frage diskutiert David Strecker, der die sozialwissenschaftliche Forschung zu Begriff, Phänomen und Erklärung der Gewalt skizziert, um am Wandel von Krieg und Terrorismus sowie der gewalteinhegenden zivilisierenden Funktionen klassischer Staatlichkeit die Ordnungsfixiertheit der klassischen Soziologie zu problematisieren und Perspektiven für eine gesellschaftstheoretisch inspirierte, integrative Gewaltforschung zu umreißen.
Auch Stephan Lessenich problematisiert in seinem Beitrag zur Demographie die Nachwirkungen der Orientierung der frühen Soziologie an der Bewältigung von Krisen und der Herstellung sozialer Ordnung. Die Dramatisierung des demographischen Wandels im Begriff der »alternden Gesellschaft« ist ein Mechanismus, die soziale Wirklichkeit zu strukturieren und zu ordnen, erzeugt aber selber wieder Unsicherheiten, nämlich über die Folgen, die Entwicklungsrichtung und den Umgang mit dieser Ordnung. Der Beitrag zeichnet diesen sich selbst unterminierenden Ordnungsimpuls an den Bereichen Alter, Migration und Multikulturalismus nach. Die gesellschaftliche Inklusion der Alten erzeugt die neue Grenze gegenüber den nicht mehr Aktivierbaren, die Mobilisierung transnationaler Arbeitskräfte die Exklusion unerwünschter Migranten und Migrantinnen und die Assimilation ethnischer Minderheiten die Kategorie der Integrationsunwilligen. Das Studium demographischer Entwicklungen weise deswegen auf die Notwendigkeit einer Selbstkritik der auf Ordnungsschaffung abzielenden Soziologie hin, die besser daran täte, Vergesellschaftungsprozesse in ihrem offenen und ambivalenten Charakter zu untersuchen.