Kitabı oku: «Handbuch der Soziologie», sayfa 4
Die moderne Polizei: Die Stabilität sozialer Ordnung bedarf nicht nur grundlegender, den inneren Frieden wahrender verfassungsrechtlicher Formen. Nicht minder wichtig sind Erhalt, Pflege und Förderung gesellschaftlicher Teilbereiche, die sich der moderne Staat zur Aufgabe gemacht hat. Zu den historischen Quellen der Soziologie gehört gleichgewichtig die Kameralwissenschaft, die so genannte »Policeywissenschaft«. Die Staatswirtschaftslehren befassten sich mit der Frage, welches Wissen benötigt wird, um das Ziel zu erreichen, das J. H. G. von Justi so beschrieben hat: »Der Endzweck der Policey ist demnach, durch gute innerliche Verfassungen die Erhaltung und Vermehrung des allgemeinen Vermögens des Staats zu bewirken.« (Justi 1759: 6) Wir haben es hier mit einer Polizei zu tun, die die Steigerung der kollektiven und individuellen Kräfte der Staatsmitglieder zum Endzweck hat. Diese Polizei kümmert sich um Erhaltung und Vermehrung und befasst sich nicht zuerst mit dem Verhältnis von Volk und Herrscher, sondern mit der Bevölkerung. Sie ist der prominente Gegenstand der Staatswissenschaft.
Es geht um die Personen, die ein Staatsgebiet bevölkern, und hieran schließt sich eine Reihe von Fragen an, die zur Anlage von Wissensbeständen führen. Beschäftigt man sich mit der Bevölkerung, gerät zunächst ihre Fruchtbarkeit in den Blick. Wie hoch ist die Geburtenrate, wie hoch die Sterblichkeit? Dann geht es um die Zusammensetzung: Wie viele Frauen gibt es, wie viele Männer? Wie sieht es mit der Zusammensetzung nach Generationen aus? Welches Alter erreichen [32]die Personen? Bevölkerung lässt sich auch unter dem Gesichtspunkt der Produktivität betrachten: Wie steht es um Art und Verteilung der Berufe, des Zusammenhangs von Berufen und zu ihnen gehörigen Ressourcen, die Art der Qualifikationen, des Gelernt-Habens und der Ausbildung. Auch Fragen der Sicherheit, der Regenerierung, der Produktivität, Fragen nach Gesundheitszustand, Krankheitshäufigkeit, Ernährungszustand, Wohnverhältnisse, Kleidung u. a. m. stellen sich im Hinblick auf die Bevölkerung.
Aus der Tradition der Polizeiwissenschaft haben sich bis heute zwei Formen der Wissensvermehrung in der Soziologie erhalten: 1. die Statistik, denn ohne Zahlen sind Aussagen über die Bevölkerung nicht möglich. Wie viele Personen gibt es im jeweiligen Staat? Wie viele leben, wie viele sterben? Womit beschäftigen sie sich? Welche Ausbildung haben sie? Statistik ist eine unentbehrliche Hilfswissenschaft für die quantitative Sozialforschung in der Soziologie geworden. 2. der Lagebericht, denn Zahlen können täuschen. Also muss man die Dinge direkt in Augenschein nehmen. Die Inspektoren reisen im Lande herum, beobachten, besichtigen, führen Gespräche, vernehmen die verschiedenen Parteien, hören Lob und Tadel. Sie notieren sich die Klagen sowie das, was ihnen stolz als Errungenschaft präsentiert wird. Sie gewinnen einen Eindruck; sie machen sich ein Bild von der Lage, ordnen die Informationen; sie recherchieren und schreiben Lageberichte. Diese Berichte zur Lage, die auf direkter Beobachtung und direkter Nachfrage beruhen, finden sich bis heute in der Soziologie als qualitative Sozialforschung. Gegen die Statistik des Belgiers Adolphe Quételet, der für Kollektive Normalverteilungen und Durchschnittwerte errechnete, beharrte Fréderic Le Play darauf, die Familie als Erhebungseinheit zu nehmen und diese auch vor Ort aufzusuchen, was er als Professor an einer Bergbauschule ausgiebig praktizierte. Die Edition »Ouvriers européens« enthält Untersuchungen zu 36 Arbeiterfamilien, die in Inspektorenmanier teilnehmend beobachtet worden waren (Le Play 1855).
Die Selbstregulation moderner Gesellschaft: Neben den staatszentrierten Perspektiven konnte man sich in der Krise des 19. Jahrhunderts auch auf solche Traditionen beziehen, die die Stabilität sozialer Ordnung als eine begriffen, die sich eigentätig aus dem sozialen Leben von selbst ergeben würde. So hatte Michel de Montaigne schon früh die Erfahrung gemacht, »daß die Gesellschaft letztlich stets verschweißt bleibt und zusammenhält, koste es, was es wolle. In welche Lage man die Menschen auch versetzt – auf der Stelle ordnen sie sich unter Schieben und Drängen zu vierlei Schichten übereinander: so wie lose Dinge, die man aufs Geratewohl in einen Sack wirft, von selber sich verbinden und auf vielfältige Weise zusammenfügen – und besser oft, als Kunstfertigkeit sie zu ordnen vermöchte.« (Montaigne 21998: 480 f.)
Gegen die Idee, dass die Stabilität sozialer Ordnung nur durch einen starken Staat zu garantieren sei, hat Charles-Louis de Secondat, der unter dem Namen Montesquieu berühmt wurde, auf dem Wege eines Gesellschaftsvergleichs aufgezeigt, dass die Vielfalt sozialer Ordnungen immer das Ergebnis mehrerer Faktoren ist. Es spielt eine Rolle, wie Wetter und Boden beschaffen sind, denn davon hängt ab, wie die Ernährungsgrundlage, Eigentumsverhältnisse und die Bedürfnisse der Menschen aussehen. Entscheidend sind die konkreten Umstände (circonstances), mit denen der Mensch als flexibles Wesen (être flexible) umzugehen gelernt hat (Montesquieu 1900: II).
Für die Vorstellung einer Selbstregulation sozialer Ordnung bildete die Orientierung an materiellen Interessen einen idealen Ausgangspunkt. Für Adam Smith ist es der Tausch, der das Interesse des einen mit dem des anderen verbindet. Der »Hang zu tauschen, zu verhandeln und eine Sache gegen eine andere auszuwechseln« (»to truck, barter and exchange one thing for another«) gehört für Smith zur anthropologischen Grundausstattung des Menschen: »Kein Mensch sah jemals einen Hund mit einem anderen einen gütlichen und wohlbedachten Austausch eines [33]Knochen gegen einen andern machen.« Wenn der Hund etwas haben möchte, so tauscht er nicht, sondern er »sucht auf tausenderlei Weise sich seinem bei Tische sitzenden Herrn bemerklich zu machen, wenn er etwas zu fressen haben will. Ein Mensch bedient sich bisweilen derselben Künste bei seinen Mitmenschen, und wenn er kein anderes Mittel kennt, sie zu bewegen, daß sie nach seinem Wunsche handeln, so sucht er durch jede mögliche knechtische und schweifwedelnde Aufmerksamkeit ihre Willfährigkeit zu gewinnen.« Aber in »einer zivilisierten Gesellschaft befindet er sich zu jeder Zeit in dem Falle, die Mitwirkung und den Beistand einer großen Menge von Menschen zu brauchen, während sein ganzes Leben kaum hinreicht, die Freundschaft von ein paar Personen zu gewinnen.« (Smith 1846: 24f)
Die Angewiesenheit auf die Hilfe vieler Mitmenschen ergibt sich aus der Arbeitsteilung, die sich in zivilisierten Gesellschaften herausgebildet hat. Für Adam Smith geht die Spezialisierung der Berufe auf den Hang zum Tauschen zurück. Der Einzelne bindet sich mit seiner Spezialität an den anderen, d. h. er macht sich für andere nützlich. Wenn ein jeder die Eigenliebe des anderen zu seinen Gunsten zu interessieren vermag und dem anderen zeigen kann, dass er seinen eigenen Nutzen davon haben kann, wenn er für ihn tut, was er von ihm haben will, dann entsteht ein Zusammenhang, der durch die Eigenliebe den Altruismus fördert. »Nicht von dem Wohlwollen des Fleischers, Brauers oder Bäckers erwarten wir unsere Mahlzeit, sondern von ihrer Bedachtnahme auf ihr eigenes Interesse. Wir wenden uns nicht an ihre Humanität, sondern an ihre Eigenliebe, und sprechen nie von unseren Bedürfnissen, sondern von ihren Vorteilen.« (Smith 1846: 26)
4. | Eine bessere Gesellschaft |
Im 19. Jahrhundert wird Gesellschaft als eine fragliche Angelegenheit entdeckt. Gesellschaftslehren, die Fragen der Herrschaft, der Polizei und der Selbstregulation ins Zentrum setzen, orientieren sich an der Idee einer stabilen Sozialordnung. Was aber, wenn die Idee Platz greift, dass die Gesellschaft von Grund auf neu organisiert werden muss oder dass es eine geschichtliche Progression hin zu einer neuen Gesellschaft gibt, auf die vertraut werden kann oder die zu beschleunigen ist?
Der Traum von einer besseren Gesellschaft findet sich schon in den Idealgesellschaften und Idealstaaten, die Autoren seit der Antike entworfen haben. Das beginnt in Griechenland bei Plato und durchzieht fortan das abendländische Denken. Thomas Morus verdanken wir den Terminus Utopie. Die Autoren von Utopien verfahren konstruktivistisch. Entworfen werden andere Lebensformen, die das überbieten, was die bestehende Gesellschaftsform bietet. Der utopische Konstruktivist spielt das, was ihm wichtig ist, gedanklich durch: Wie wird die Ernährung aussehen, wie der Häuserbau, wie die Zeitregelung, wie die Erziehung, wie die Müllabfuhr und so weiter? Alles muss passen, so dass sich jeder vorstellen kann, dass es besser sei, in dieser Art zu leben, als im jeweiligen Jetzt-Zustand.
Die bessere Gesellschaft muss aber nicht auf eine utopische Insel verlegt werden, sie kann auch als eine besondere Phase im Leben von Völkern geschichtlich situiert werden, als ein goldenes Zeitalter, als Blüte einer Kultur oder als zu erwartender Höhepunkt. So hat Ibn Khaldūn (1332–1406) aus der Erfahrung der Konfrontation von Gesellschaften unterschiedlichen Typs im südlichen Mittelmeer ein zyklisches Geschichtsbild gezeichnet. Nomadische Lebensweisen kennen eine starke Solidarität; mit dem Eintritt in differenziertere urbane Lebensweisen wird der Zusammenhalt jedoch schwächer. Es kommt zu Zerfallserscheinungen, die Gesellschaft ist Eroberungen durch einen von außen kommenden Nomadenstamm hilflos ausgeliefert, den [34]freilich über kurz oder lang dasselbe Schicksal ereilen wird (Khaldūn 1992). Je nach der Selbstpositionierung in einem solchen Ablaufschema kann ein Gesellschaftszustand als besser oder schlechter erscheinen.
Das zyklische Geschichtsbild von Giambattista Vico ist wie viele Denkweisen dieser Art am menschlichen Lebenslauf im Sinne der natürlichen Entwicklung des menschlichen Geistes orientiert und zielt auf eine wiederkehrende Struktur der Gesellschaftsgeschichte von Aufstieg, Fortschritt, Zustand, Verfall und Ende, um dann von Neuem seinen Lauf zu nehmen. Vicos Modell ist in der Hauptsache der Geschichte Roms abgelesen. Nach dessen Untergang kehrt die Stufe heroischer Barbarei im Mittelalter wieder, nicht als identische Wiederholung, sondern bereichert durch die vorausgegangene Entwicklung (Croce 1927). Während Vico seine Sympathie für die heroische Zeit der Kindheit der Kulturen voller Fantasie und Poesie nicht verbarg, projiziert der Marquis de Condorcet den Idealzustand der Gesellschaft in die Zukunft, in der das Menschengeschlecht, neun Epochen durchlaufend, auf einen Zustand der Vollkommenheit zueilt. Die Perfektibilität des Menschen verläuft bei ihm in einer linearen Zeit, die bessere Gesellschaft ist die jeweils nächste (Condorcet 2010).
Mit den Umbrüchen der Französischen Revolution wird die Sehnsucht nach einer ganz neuen Gesellschaft enorm verstärkt. Frankreich entwickelt sich zur Brutstätte von Gesellschaftslehren, deren Leuchtkraft bis heute ausstrahlt. Bei Saint-Simon und seinen Jüngern ist früh schon das Ensemble der postrevolutionären Konstellation präsent, das für das Denken der Gesellschaft im 19. Jahrhundert bestimmend geworden ist: die Idee der Industriegesellschaft, die Arbeiterfrage, der Feminismus und das Ziel einer Ersetzung der Herrschaft von Menschen über Menschen durch eine Verwaltung von Sachen, deren oberste Leitung der Wissenschaft zukommt. Einer der Sekretäre Saint-Simons, Auguste Comte (1798–1857), hat dieser neuen Wissenschaft ihren Namen gegeben: »Soziologie«. Die Soziologie ist die Königin des neuen wissenschaftlichen Zeitalters, in dem die Menschen in der Lage sind, ihr Zusammenleben nach wissenschaftlichen Erkenntnissen zu organisieren.
Die Ideen für eine bessere Gesellschaft gehen dann freilich in verschiedene Richtungen. Comte erfindet die Soziologie als Krönung der positivistischen Wissenschaft, die wie eine Kirche organisiert wird, und legt sich vor seinem Tod 1857 den Titel Le Fondateur de la Religion Universelle. Grand-Prètre de l’Humanité zu. Andere Schüler Saint-Simons wie Barthélemy Prosper Enfantin sahen die Befreiung der Frau und die Abschaffung der Ehe als Königinnenweg zu einer besseren Gesellschaft. Schließlich verstärken die Saint-Simonisten den anschwellenden Strom von Gesellschaftslehren, die die soziale Frage, insbesondere das Elend der Arbeiter fokussieren und die bessere Gesellschaft in einem Sozialismus, Kommunismus oder Anarchismus realisieren wollen.
Verwissenschaftlichung und Fortschritt der Gesellschaft: Die von Comte gestiftete Menschheitsreligion ist der Schluss der Entwicklung des menschlichen Geistes, der in allen Gebieten des menschlichen Wissens drei Phasen durchläuft: die theologische, die metaphysische und die wissenschaftliche. Sein berühmtes Drei-Stadien-Gesetz reflektiert die Korrelation von gesellschaftlicher Organisation und geistigem Zustand. Dem Aberglauben der theologischen Phase, die vom Fetischismus über den Polytheismus bis zum Monotheismus reicht, korrespondiert die Theokratie als soziale Organisationsform, die militärisch geprägt ist. In der metaphysischen Phase sucht der menschliche Geist nicht mehr nach göttlichen Ursachen für Dinge, die er sich nicht erklären kann, sondern konstruiert Abstrakta – Wesenheiten, denen tatsächliche Kräfte und Qualitäten zugesprochen werden können. In sozialer Hinsicht korrespondiert diese Phase mit der Entwicklung des Rechts sowie mit der Krise des Rechts, die in die Revolution münden wird und die sie [35]auch darstellt. Die Entwicklung des menschlichen Geistes finalisiert sich schließlich im positiven Stadium, in dem Ordnung und Fortschritt miteinander versöhnt sind. In diesem »endgültigen Stadium rationaler Positivität« ist die Einbildungskraft ständig der wissenschaftlichen Beobachtung untergeordnet (Comte 1994: 15).
Dieser Positivismus hat viele Wissenschaftler beflügelt, insbesondere in Frankreich, dem ersten Land, in dem Soziologie sich als Fach an Universitäten etablieren konnte. Der Prozess ist mit dem Namen Émile Durkheim (1858–1917) verbunden, der wie kaum ein anderer Wert auf die wissenschaftliche Autonomie der Soziologie gegenüber anderen Fächern gelegt hat.
Parallele Entwicklungen einer Positionierung der Wissenschaft von der Gesellschaft im Rahmen der Evolution des menschlichen Geistes und seiner sozialen Einrichtungen finden sich auch in England. Einflussreich wurde die synthetische Philosophie Herbert Spencers. Ihr Ziel war es, alles verfügbare Wissen in einer universalen Entwicklungslehre zu integrieren (Spencer 1901). Seine Definition von Entwicklung lautet: Entwicklung führt von unzusammenhängender Gleichartigkeit zu zusammenhängender Ungleichartigkeit. Es handelt sich um ein universales Entwicklungsgesetz, das für Himmelskörper, Organismen und Gesellschaften gleichermaßen gilt und für dessen Nachweis Spencer zehn Bände plant und diese in 35 Jahren auch bis auf die geplante Seitenzahl fertigstellt (ein Vergleich zu Luhmanns Zeitplanung bietet sich an).
Bemerkenswert ist die Wendung, die er der Formel vom »Kampf ums Dasein«, die er vor Darwin prägte, gab. Dieser Kampf ist kein letztes Prinzip oder Endzweck, sondern ein Mittel, mit dem sich Gesellschaft als ein Aggregat von Individuen entwickelt. Soziale Aggregate, die voneinander abhängig werden, z. B. zwei gleichartige, aber getrennte Siedlungen, werden in der Entwicklung zu einer Einheit mit innerer Differenzierung. Gesellschaftliches Wachstum durch Integration, Desintegration und höhere Integration vollzieht sich entsprechend der evolutiven Bewegung von unzusammenhängender Gleichartigkeit zu zusammenhängender Ungleichartigkeit. Die Theorie funktionaler Differenzierung ist bei Spencer voll ausgebildet.
Für Spencer ist jede Gesellschaft ein organisiertes Ganzes, an dessen Entwicklung auch diejenigen mitarbeiten, die dagegen sind oder ahnungslos, und das sind die meisten. Wie bei anderen in dieser Zeit auch, kann mit dem Organismusmodell die Erfahrung der ungesellschaftlichen Gesellschaftlichkeit entfesselter Marktgesellschaften theoretisiert und eine Perspektive der Erlösung aus den Übeln gegeben werden. Die Fülle sozialer Konflikte und Spannungen, die schwankenden Ungleichheiten der Lebenslagen können als organische Wachstumskrisen interpretiert werden. Dass Teile einer Gesellschaft ungleich werden, dass soziale Bindungen zerreißen, – diese Phänomene der Auflösung von Gemeinschaftlichkeit in entfesselten Marktgesellschaften werden als Signale einer Krise wahrgenommen werden, die jedoch nur eine Etappe auf der evolutiven Stufenleiter darstellt. Damit gewinnt der ungesellschaftliche Egoismus der Wirtschaftssubjekte eine zusätzliche Bedeutung. Darin kommt nicht nur ein utilitaristisches Streben nach Glück zum Ausdruck, sondern im Organismus der Gesellschaft stellt Egoismus ein Indiz des Wachstums dar. Wachstum heißt eben Ungleichgewicht, heißt aber zugleich Höherentwicklung und Ausdifferenzierung von Funktionen. Alle Rätsel finden in der Entwicklung ihre Lösung und alle Erlösung aus den Übeln einer zerrissenen Gegenwart geschieht durch Entwicklung.
Während Spencer die Praxis des Manchester-Kapitalismus als Weg zu einer besseren Gesellschaft befürwortete, war die Theorie der gesellschaftlichen Evolution von Kulturen des Amerikaners Lewis Henry Morgan wegen ihrer Idee eines Urkommunismus für Sozialisten attraktiv (Morgan 1891). Die Evolution von der ersten Stufe der »Wildheit«, in deren Jäger- und Sammlergesellschaften eine auf Kollektiveigentum basierende matriarchale Organisation vorherrschte, über die Stufe der »Barbarei«, die eine patriarchale, auf dem Privateigentum basierende Organisation [36]von Agrikultur und Viehhaltung kannte, zur »Zivilisation«, deren Kennzeichen Städtebau und Schrift sind, ist für Morgan ein Curriculum, das alle Völker absolvieren.
Morgans Unterscheidung zwischen einer »Societas«, die auf familialen Beziehungen, und einer »Civitas«, die auf Privateigentum beruht, inspirierte auch Ferdinand Tönnies. In der Jugendschrift der Soziologie in Deutschland, wie Max Weber Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies genannt hat, werden nicht nur zwei grundlegende Sozialformen des Menschen, nämlich eben Gemeinschaft und Gesellschaft, unterschieden, sondern Tönnies lässt damit zugleich in einer historischen Reihe das Zeitalter der Gesellschaft auf das der Gemeinschaft folgen (Tönnies 1979). In den ersten Fassungen nannte er das Buch eine Studie zum Naturrecht. Mit Thomas Hobbes hatte sich Tönnies zuvor intensiv auseinandergesetzt. Wichtig wurde für Tönnies dann insbesondere eine von Henry Maine vorgenommene Differenzierung: Soziale Beziehungen, die auf Verträgen beruhen, sind grundlegend unterschieden von der Zuneigung in Familie, Nachbarschaft und Freundschaft (Maine 1917).
Die Geschlechterfrage: Morgans These von einer matriarchalen Organisation frühester Gesellschaften hat insbesondere die europäische Frauenbewegung fasziniert. Ihr kam im Anschluss an Morgans Forschungen Friedrich Engels mit seiner viel gelesenen Schrift Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats entgegen (Engels 1975). Aber auch Auguste Comte gab seiner Soziologie eine enthusiastische feministische Wende, die seine Kollegen irritierte. Neben der wissenschaftlichen Vernunft, die die Ordnung der Dinge aufzeigt, und der Aktivität, die handelnd Fortschritt erzeugt, hat Comte schließlich als drittes Element dem femininen Gefühl eine besondere Funktion zugeschrieben. Dem Bündnis von wissenschaftlicher Grundlage und aktivem Fortschritt fehle »eine hinreichende Vertretung des höchsten menschlichen Regulators. Er kann nur gemäß einem Element, das ihm direkt eigen ist, wie das philosophische Element der Vernunft eigen ist und das populäre der Aktivität, würdig seine Stelle einnehmen. Dies ist das grundlegende Motiv des unumgänglichen Hinzufügens der Frauen zur erneuernden Koalition, sobald als ihre Tendenzen und Bedürfnisse ziemlich klar werden.« (Comte 2004: 248) So steht im positivistischen Gebet »Liebe als Prinzip, Ordnung als Grundlage und Fortschritt als Ziel« die Frau an erster Stelle (Comte 2004: 333).
John Stuart Mill hat das Motiv, das Comte dazu bewegt hat, in den Hausandachten zur Verehrung der »Göttin Gesamtmenschheit« die »Mutter, die Gattin und die Tochter, als die Sinnbilder der Vergangenheit, der Gegenwart und Zukunft, und als die Erweckerinnen der drei socialen Gefühle Verehrung, Liebe und Güte« anzubeten, in der Liebesbeziehung Comtes zur Clothilde de Vaux gesehen (Mill 1968: 106 f.). Im Unterschied zu Comte hat Mill seine Verehrung von Harriet Taylor nicht so weit getrieben. Dennoch ist bekannt, wie sehr sich unter ihrem Einfluss die weiteren Auflagen seiner Principles of Political Economy sozialistischen Auffassungen annäherten. Mill schrieb seiner angebeteten Harriet geniale Qualitäten zu, Tugenden des Geistes und des Herzens »unparalleled in any human being he had known or read of« (Waentig 1924: XI). Die Grundgedanken des Essays über die Freiheit habe Harriet entwickelt – so die devote Widmung der Schrift. Hinzuzunehmen ist Mills berühmte Streitschrift zur Emanzipation der Frau (Mill 2012). Trotz aller Differenzen in den Konzepten des Positivismus liegen Mills »Seelenfreundin« Harriet Taylor und die »angelique influence« Clothildes auf Comte nah beieinander.
Ihre gemeinsame Quelle ist die Saint-Simonistische Schule. Beiden galt die Befreiung der Frau und die Emanzipation des Fleisches als eine »cause sainte«. Die bisexuelle Gottesvorstellung von »Mapah« (Gott als Vater und Mutter) und die androgyne Anthropologie von »Evadam« ließen sich in der Gruppe dann doch nicht konfliktfrei in moralische Maximen umsetzen (Salomon-Delatour 1962). Man stritt sich, ob zwischen »unveränderlichen« Charakteren, für [37]die die Ehe gut ist, und den »veränderlichen«, für die eine promiskuitive Lebensweise angemessen ist, unterschieden werden soll, und einigte sich schließlich, es vorläufig bei der Ehe und der Möglichkeit der Scheidung zu belassen. Die endgültige Entscheidung wird der erwarteten »Femme-messie« zugewiesen.
Der ebenfalls zu Schule Saint-Simons gehörende Olinde Rodriguez erklärt: »Ich erwarte zuversichtlich die Offenbarung der ersten Frau, die an der Spitze der Lehre stehen wird; der befreiten, der freien Frau, der Priesterin für die Zukunft steht es zu, das Gesetz des Anstands, den Kodex der Züchtigkeit zu offenbaren.« (Kool/Krause: 161) Die Saint-Simonisten unternehmen auf der Suche nach der »Femme-messie« eine Orientreise nach Ägypten zu den Wirkstätten der sagenhaften Königin von Saba. Diese Pilgerfahrt war zugleich eine wissenschaftliche Expedition, auf der die Bekämpfung von Seuchen erforscht wurde und Barthélemy Prosper Enfantin den Plan des Suez-Kanals entwarf, den der spätere Konsul Ferdinand de Lesseps realisierte. Die Erfahrungen, die die Krankenschwester Suzanne Voilquin bei ihrem Versuch, muslimische Frauen zur Wissenschaftsreligion zu bekehren, gemacht hat, könnten heute wieder auf Interesse stoßen (Voilquin 1978).
Es sind aber nicht nur Männer, die für die Verbesserung der Lage der Frauen kämpfen. Mary Wollstonecraft war nicht nur die Mutter von Mary Shelley, der Autorin des Klassikers der Weltliteratur Frankenstein oder Der moderne Prometheus und nicht nur die Gattin an der Seite von William Godwin, der in jeder Geschichte des Anarchismus einen herausragenden Platz einnimmt, sie publizierte 1790 A Vindication of the Rights of Men, in dem sie gegen Edmund Burkes Kritik an der Französischen Revolution Stellung bezog. Zwei Jahre später erschien A Vindication of the Rights of Woman, in der sie rhetorisch kraftvoll argumentierend aufzeigt, wie schlecht vorbereitet und in Illusionen befangen Frauen ins Leben gehen und wie wichtig es ist, dass sie zu unabhängigen Selbstdenkerinnen werden, deren Wert nicht in der äußeren Erscheinung begründet ist (Wollstonecraft 2009). Es dauerte, bis der Kampf der »Blaustrümpfe« für die Gleichberechtigung von Mann und Frau, der Ende des 18. Jahrhunderts einsetzte, einige Erfolge aufweisen konnte.
Harriet Martineau redigierte Texte von Auguste Comte so, dass sie lesbar wurden (Hoecker-Drysdale 1998). Ihr eigenes Interesse richtete sie jedoch mehr darauf, wie der Positivismus methodisch gewendet werden konnte. How to Observe Morals and Manners, 1834 auf der Überfahrt nach Nordamerika geschrieben und 1838 publiziert, ist die erste Schrift überhaupt zur soziologischen Methodologie und Methode (Martineau 1989). Die große Studie Society in America ist nach ihrem Regelbuch erarbeitet. Untersuchungsbereiche sind kollektive Werte, Institutionen und der Alltag in den USA (Martineau 2009).
Die saint-simonistische Verbindung der Frauen- und der Arbeiteremanzipation hat Jenny Poinsard d’Héricourt (1809–1875) ernst genommen (Arni/Honegger 1998). Dies bringt sie in eine Frontstellung gegen Comte und seine Art, der Frau in der Theorie eine erhöhte Sonderstellung zuzuweisen und sie zugleich als Priesterinnen für den häuslichen Wissenschaftskult aus der Öffentlichkeit zu entfernen. In ihrem gesellschaftskritischen Hauptwerk von 1860 La femme affranchie zeigt sie, dass Frauen längst schon im Gefüge der modernen Industriegesellschaft einen Platz haben, aber keine entsprechenden Rechte (Héricourt 1860). Streitpunkt wird auch das Verhältnis von Biologie und Soziologie. In Comtes Hierarchie der Wissenschaften von der Astronomie bis zur Soziologie und später Psychologie bildet die Biologie die Grundlage, auf der sich aufsteigend die Wissenschaft von der menschlichen Gesellschaft entfaltet, weil der Unterschied von Mann und Frau als erstes soziales Verhältnis definiert wird.
D’Héricourt, selbst als Hebamme und Ärztin tätig, greift mit Scharfsinn die dogmatischen epistemologischen Vorraussetzungen der Klassifikation der Geschlechter an, insbesondere auch gegen Pierre-Joseph Proudhon, dessen egalitäre Ideen sich nur auf Männer bezogen. Die Argumente, [38]die d’Héricourt gegen Geschlechterklassifikationen ins Feld führt, dürften auch noch übermorgen aktuell sein: »Wir formulieren keine Klassifikation, weil wir keine haben und weil wir keine haben können; es sind keine Grundlagen dazu vorhanden. Eine biologische Induktion erlaubt es uns zwar, die Existenz einer Geschlechterklassifikation anzunehmen. Es ist jedoch gegenwärtig unmöglich, daraus ein Gesetz abzuleiten. Was Weiblichkeit wirklich ist, könnte erst nach einem oder zwei Jahrhunderten gleichartiger Erziehung und rechtlicher Gleichheit erkannt werden.« (Arni/Honegger 1998: 80)
Der Sozialismus: Zum Pathos des wissenschaftlichen Fortschritts, zum Kampf für die Rechte der Frau gesellten sich die Ideen der vielgestaltigen sozialistischen Bewegungen für eine bessere Gesellschaft. Noch beim Soziologentag 1928 in Zürich musste der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Soziologie erklären, dass Soziologie und Sozialismus nicht dasselbe seien. Die sprachliche Nähe war und ist verfänglich und wird die Soziologie wohl auch in Zukunft im Guten wie im Bösen mit allen historischen und aktuellen Bestrebungen verbinden, die unter den Überschriften Kommunismus, Sozialismus, Anarchismus eine bessere Gesellschaft als die bestehende wollen.
Die bessere Gesellschaft erscheint bei manchen Autoren in der Erfahrung der fraglich gewordenen Gegenwartsgesellschaft als eine notwendige Konsequenz der geschichtlichen Entwicklung überhaupt. Andere Autoren wollen nicht länger auf die Idealgesellschaft warten. Sie schlagen vor, einfach mit der neuen Ordnung in kleinem Maßstab lokal anzufangen, nach der Devise: »Werden wir aus Staatsbürgern der alten Ordnung zu Genossen einer Neuen Gemeinschaft! Gründen wir Genossenschaften, Landkommunen, Gemeinschaftsprojekte, in denen es gerecht zugeht.« Im 19. Jahrhundert blüht der Genossenschaftssozialismus in seinen vielfältigsten Formen. Wieder andere wollen sich damit nicht bescheiden, sie fordern den revolutionären Sturz der alten Ordnung und den revolutionären Aufbau einer neuen. Im 19. Jahrhundert steigt die Konjunktur eines revolutionär-eliminatorischen Sozialismus. – Schließlich, vor dieser Alternative zurückschreckend, konzentrieren sich andere auf eine rein defensive Position. Im Gewerkschaftssozialismus entstehen Vereine und Verbände, in denen sich die von den gesellschaftlichen Umbrüchen betroffenen Handwerker und Arbeiter zusammenschließen, um ihre Interessen zu verteidigen. Zwischen diesen vier Möglichkeiten changiert die Diskussion im 19. Jahrhundert und weit darüber hinaus, vielleicht sogar in die Gegenwart hinein, in Nischen, in denen sich die Sehnsucht nach einer besseren Gesellschaft erhält.
Die Soziologie hat auch einen beachtlichen Teil des Erbes dieser Art, für eine neue Gesellschaft einzutreten, aufgenommen. Am wenigsten von der revolutionär-eliminatorischen Seite, obwohl an die Schriften von Georges Sorel zu erinnern ist, in denen Zusammenhänge von Mythos und Gewalt in revolutionären Bewegungen durchdacht wurden, bevor sie im 20. Jahrhundert eine blutige Spur hinterlassen haben (Sorel 1981).
Wichtiger wurde die genossenschaftliche Seite. Wer lernen möchte, wie attraktiv solidarische Lebensformen sein können, tut gut daran, die Schriften von Charles Fourier (1772–1837) in die Hand zu nehmen (Fourier 2006). Man findet dort Vorschläge für eine neue Gesellschaft, in der zu leben als eine wahre Wonne erscheint. Von Fourier kann man nicht groß genug denken, denn er hat Lösungen für zwei Dauerprobleme menschlicher Gesellschaften gefunden, für die Frustration und die Repression. Die fantastische Kühnheit seiner Vorschläge ist bis heute unübertroffen, insbesondere wenn es um die Frage »Wer macht mit wem was wie lange leidenschaftlich gern zusammen« geht. Man könnte darin die Hauptfrage aller Gesellschaftswissenschaft sehen.
Die gewerkschaftliche Seite kämpft um die Erforschung und Förderung der Kräfte, die für eine grundlegende Änderung der Gesellschaft eintreten oder die gegenüber negativen Entwicklungen [39]ein Gegengewicht bilden wollen. Im 19. Jahrhundert war dies die Arbeiterbewegung, das Proletariat. Die Trias von Soziologie, sozialer Frage und Sozialismus war bis weit in den Anfang dieses Jahrhunderts hinein eine spontane Assoziation, der sich niemand entziehen konnte. Heute ist es nicht mehr so einfach, Bewegungen zu identifizieren und zu gewichten. In unserer Gegenwartsgesellschaft gibt es viele Bewegungen, bei denen nicht ohne Weiteres erkennbar ist, was sie sind: Single-purpose movements, so etwas wie neue soziale Bewegungen oder vielleicht gar keine Bewegungen, sondern seltsame Oberflächenspiele, deren Sinn noch nicht geklärt ist.