Kitabı oku: «Handbuch der Soziologie», sayfa 3
Ulrich Beck und Hartmut Rosa diskutieren ebenfalls unvorhergesehene Effekte gesellschaftlicher Entwicklungen. Unter dem Titel »Eskalation der Nebenfolgen« fragen sie nach jenen Phänomenen, die sich aus räumlichen und zeitlichen Steigerungen, der Kosmopolitisierung und Beschleunigung sozialer Beziehungen ergeben und die Überwindung des methodologischen Nationalismus erfordern. Dabei halten sie sowohl am Gesellschaftsbegriff wie auch an klassischen Erklärungsansprüchen der Soziologie fest und grenzen sich damit von alternativen globalisierungstheoretischen Ansätzen ab, nämlich von system-, weltsystem-, netzwerk- und komplexitätstheoretischen Konzeptionen. Demgegenüber zeichneten sich die Theorien der Weltrisikogesellschaft, der reflexiven Modernisierung und der sozialen Beschleunigung durch den Fokus auf die Dynamisierung der modernen Gesellschaft aus, deren Nebenfolgen die Stabilisierungen dieser Formation unterminieren.
[21]In der Erfahrung des Sinnverlustes hat schon die frühe Soziologie eine grundlegende Herausforderung erkannt. Dabei handelt es sich um einen in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Umbruchserfahrungen zwar fluktuierenden, im Grunde gleichwohl scheinbar bestandsfesten Topos der Selbstbeschreibung moderner Gesellschaften. Entsprechend skizziert Christel Gärtner, wie dieses Problem die Disziplin im historischen Wandel immer wieder neu beschäftigt. Strukturell in der wachsenden Pluralisierung der Muster der Lebensführung und dem gesteigerten Bewusstsein der Kontingenz gesellschaftlicher Traditionsbestände begründet, wird die Diagnose des Sinnverlustes typischerweise in Krisenzeiten formuliert. Der Beitrag stellt entsprechende Diskurse exemplarisch vor, um darin unterschiedliche Modelle der Sinnkonstruktion zu identifizieren, deren Ausgestaltung in Abhängigkeit von gesellschaftlichen Kontexten dargestellt wird. Für die Religionssoziologie und die klassische Gesellschaftstheorie mit ihren zentralen Annahmen zum Säkularisierungsprozess ergibt sich die Herausforderung, das Verhältnis von Religion und Moderne in nicht reduktionistischer Weise und entlang komplexer, gegenläufiger Prozesse neu konzipieren zu müssen.
Der abschließende Beitrag dieses Handbuchs ist der Selbstreflexion der Soziologie auf ihre gesellschaftliche Rolle gewidmet. Zur Klärung der gesellschaftlichen Relevanz soziologischer Gesellschaftskritik erörtert Jörn Lamla das Verhältnis der Soziologie zur Öffentlichkeit. Der Beitrag sichtet zu diesem Zweck die Konzeption der Public Sociology, die zeitdiagnostische Kapitalismuskritik, Ansätze der Kritischen Theorie und der kritischen Soziologie. All diese Ansätze sehen sich in unterschiedlicher Weise mit einstweilen ungeklärten Schwierigkeiten konfrontiert, hinsichtlich der professionellen Maßstäbe der Disziplin und der Problematik, die Standards der Kritik bzw. die kritische Position zu begründen. Bleibt die Soziologie in einem Fall zu bescheiden, so erhebt sie sich ein andermal über die in ihren Illusionen gefangenen Gesellschaftsmitglieder oder aber ihre Begriffe geraten zu schwammig. Am ehesten lasse sich das Wechselspiel von Sozialwissenschaften und sozialer Praxis ausgehend von den rekonstruktiven Zugängen zur Kritik entfalten, wie abschließend am pragmatistischen Modell des Demokratischen Experimentalismus umrissen wird, zu dessen Fortentwicklung und Kritik der Beitrag einlädt.
Die Herausgabe eines Handbuches der Soziologie ist ein Mammutunternehmen, das sich über einen beträchtlichen Zeitraum erstreckt hat und an dem zahlreiche Personen mitgewirkt haben. Wir möchten uns abschließend nicht nur bei den über 30 Autorinnen und Autoren der Einzelbeiträge noch einmal ganz herzlich bedanken, sondern auch bei Katharina Saalfeld und David Reum, die uns als studentische Hilfskräfte bei der redaktionellen Bearbeitung der Texte unterstützt haben, sowie bei Sigrid Engelhardt, die uns mit der gewohnten Umsicht organisatorisch geholfen hat. Seitens des Verlages hat Sonja Rothländer das Projekt mit großer Geduld und ebensolchem Engagement über mehrere Jahre begleitet. Auch dafür möchten wir uns an dieser Stelle vielmals bedanken. Ein persönlicher Dank geht schließlich noch an Christine, Hannah, Linus und Mila.
[22][23]Teil I
Der soziologische Blick
[24][25]Wolfgang Eßbach
Die historischen Quellen soziologischen Denkens: Aus welchen Traditionen entwickelt sich die Soziologie?
1. | Die Soziologie vor der Soziologie |
Seit wann gibt es Soziologie? Welches Datum soll man fixieren, um diese Frage zu beantworten? Wählt man den Zeitpunkt, an dem das Wort Soziologie zum ersten Mal auftaucht, oder den Moment, an dem es zur Selbstbeschreibung des eigenen Denkens benutzt wird? Gilt das Datum, an dem die ersten Lehrstühle für Soziologie eingerichtet werden, oder der Zeitpunkt, an dem Soziologie nicht nur nebenbei, sondern als Hauptfach mit einem eigenen Universitätsabschluss studiert werden kann? Und wer darf überhaupt von sich behaupten, dass er wie ein Soziologe arbeitet? Unabhängig von den Antworten auf die hier gestellten Fragen – man wird Autoren und Werke ausschließen und ins außersoziologische Nichts verbannen, mögen sie noch so sehr unser Wissen über Gesellschaft gefördert haben. Es gilt daher, zunächst den Blick auf die Machttechniken zur Disziplinierung von Disziplinen zu lenken.
Zu den geistlosesten Machttechniken in diesem Felde gehören etwa solche, die zur Soziologie nur Beiträge rechnen, die von fachlich korrekt ausgebildeten Soziologen geschrieben und in Peer-Reviewed-Zeitschriften für Soziologie in den letzten fünf Jahren in englischer Sprache erschienen sind. Wer so vorgeht, für den bildet alles andere eine mehr oder weniger dubiose Peripherie, ist Randgebiet oder ist veraltet und gilt als Tradition.
Zur Disziplinierung von Disziplinen können auch stille Abkommen zwischen Fächern führen, bei denen die Traditionsmasse nach der Devise aufgeteilt wird: Adam Smith bekommen die Ökonomen, Herbert Spencer die Soziologen, Alexis de Tocqueville die Politologen. Was die Tradition angeht, so haben sich die Politologen mit ihrer verbreiteten Facheinteilung »Vergleichende Regierungslehre«, »Internationale Beziehungen« und eben »Politische Theorie« den Löwenanteil der Tradition der europäischen Gesellschaftslehren gesichert, indem sie die »Politische Philosophie« von Platon bis Habermas zu ihrer Fachidentität zählen.
Komplexer ist die Machttechnik, einzelne Figuren der Vergangenheit zu Klassikern der Soziologie zu promovieren. Aber wer entscheidet über solche Promotionen? Geht es nach der Häufigkeit der Zitationen, die über Social Sciences Citation Index oder Arts & Humanities Citation Index festzustellen sind? Ist es ein Konsens, der über Generationen unter Soziologen tradiert und in Curricula und Prüfungsordnungen immer wieder bestätigt wird? In welchem Verhältnis steht die Wissenschaftsgeschichte der Soziologie mit ihren neuen Erkenntnissen zum eingeübten Ensemble des Kanons der Klassiker?
Der pädagogische Nutzen von Listen mit Klassikernamen für die Lehre zur Einführung in die Soziologie steht außer Frage. Doch vermischt sich dieses einfache Anliegen mit der zweischneidigen Debatte um die Identität der Soziologie. Eigentlich ist Identität nichts Besonderes, jedes Phänomen hat seine Identität. Probleme bereiten diejenigen, die von Identitätsängsten geplagt sind. Wo Selbstbewusstsein fehlt, muss Identität her, und der kindliche Wunsch nach [26]schützenden Gründervätern findet bei den zu Klassikern erhobenen starken Heroen der Soziologie seine Erfüllung.
Machttechnisch interessant wird es, wenn man sich derartige Listen genauer ansieht. In der pädagogisch durchaus lobenswerten Liste der Website »50 Klassiker der Soziologie« finden sich beispielsweise Robert Michels, aber nicht Georges Sorel; Arnold Gehlen, aber nicht Max Scheler; Marcel Mauss, aber nicht Claude-Lévi Strauss; Pierre Bourdieu, aber nicht Edgar Morin. Für jeden, der hier zum Klassiker promoviert wurde, gibt es eine diskutable Alternative. Die Exklusion hat freilich eine implizite Logik. Die Ausgeschlossenen gehören zu der Sorte von Wissenschaftlern, die nicht nur für die Soziologie Bedeutendes geleistet haben, sondern auch für Fächer jenseits eng gefasster soziologischer Fachgrenzen.
Wenn man sich von den Machttechniken zur Disziplinierung von Disziplinen verabschiedet und nach sinnvollen Wegen einer Soziologie vor der Soziologie sucht, stellt man rasch fest, dass in der Vergangenheit Autoren über Ordnungen menschlichen Zusammenlebens und den Wandel dieser Ordnungen nachgedacht und geschrieben haben, die sich heutigen Facheinteilungen entziehen. In Europa sind es zwei Formen geistiger Arbeit gewesen, die einen bemerkenswerten Fundus von Kenntnissen und Erkenntnissen über die Sozialität des Menschen geschaffen haben: einmal das Bestreben, das verstreute Wissen Einzelner oder verschiedener Gruppen zu sammeln und zu ordnen, zum anderen das bohrende Nachfragen in Angelegenheiten, die bisher fraglos hingenommen wurden. Für die eine Form steht der Typus des Gelehrten oder Universalgelehrten, für die andere der des Philosophen, wobei sich bei vielen Autoren auch beides mischen kann. Wir unterscheiden drei Wege, mit diesem Fundus umzugehen.
1. Historische Quellen soziologischen Denkens sind aufzudecken, wenn man sich daran macht, die Theorien und Problemlösungen zu rekonstruieren, die Gelehrte und Philosophen für die Fragen entwickelt haben, auf die alle menschlichen Gesellschaften seit Anbeginn eine Antwort suchen: Menschen mussten sich ernähren, mit dem Wetter zurechtkommen und ihre Wohnungen bewohnbar halten. Sie mussten irgendwie miteinander auskommen und den Nachwuchs so erziehen, dass er in die Gruppe integriert werden konnte. Sie mussten die Gebrechlichkeit und Hinfälligkeit des Körpers akzeptieren und diesen schließlich bestatten. Sie mussten zur Kenntnis nehmen, dass Männer und Frauen existieren und dass Generationen kommen und gehen. Sie mussten anerkennen, dass es fette und magere Jahre gibt und dass Feuer, Überschwemmung oder Dürre vieles wieder zunichtemachen konnten. Und sie mussten mit übel gesonnenen Menschen rechnen, mit feindlichen Gruppen, gegen die man Krieg führte, oder mit einzelnen, die in der Gruppe existierten und sich nicht fügen wollten.
Was z. B. bei Aristoteles über soziale Klassen, bei Augustinus über den gerechten Krieg, bei Thomas von Aquin über die Arbeitsteilung, bei Machiavelli über das Absterben veralteter Institutionen, bei Montaigne über das Streben nach einem gesellschaftlichen Gleichgewicht, bei Hobbes über Gewalt, Macht und Herrschaft, bei Hegel über Liebe, Ehe und Familie zu lesen ist, hat nicht nur soziologische Relevanz. Wer sich damit auseinandersetzt, kann zudem Grundfiguren des Denkens über Gesellschaft entdecken, die in der Folge wieder und wieder überschrieben wurden. Kurz gesagt: Man kann zu fast allen Fragen, die sich auf das Zusammenleben von Menschen beziehen, bei Gelehrten und Philosophen früherer Jahrhunderte kluge Einsichten und interessante Argumentationen finden. Was den gedanklichen Zugriff angeht, sind sie bisweilen sogar überzeugender als heutige soziologische Ansätze.
2. Ein anderer Weg, historische Quellen soziologischen Denkens aufzusuchen, besteht darin, die heute verwendeten Grundbegriffe auf ihre geschichtliche Befrachtung hin zu befragen. Auf diese Weise lässt sich prüfen, ob der Begriff noch das trifft, was er treffen soll. Alle Sprache registriert und verwandelt Sachverhalte, sie ist rezeptiv und produktiv. Von der amititia zur Freundschaft, [27]von der communitas zur Gemeinschaft, von der societas zur Gesellschaft, von der Polis zum Staat verändert sich einiges. Es kann geschehen, dass Wort und Sache in einem bestimmten Zeitraum deckungsgleich bleiben. Es kann aber auch geschehen, dass das Wort gleich bleibt, die Sache sich aber ändert, oder umgekehrt: Das Wort ändert sich, und die Sache bleibt gleich. Schließlich können Sache und Wort so auseinanderdriften, dass die alten Zuordnungen unverständlich werden (Koselleck 2006). Die Alternative zu dieser Art einer diachronen Begriffsgeschichte besteht in einer ideengeschichtlichen Forschung, die bei der Nutzung von historischen Quellen soziologischen Denkens mehr auf den historischen Kontext achtet als auf den einzelnen Text oder eine einzelne Aussage. Denn die Klassiker danach zu befragen, was sie zur Idee der Gesellschaft, der sozialen Ordnung, der Funktion der Familie usw. gesagt haben, kann zu dem Mythos führen, dass eine kohärente Lehre vorliegt, wo es sich doch nur um zusammengestückelte Aussagen handelt, die im konkreten Kontext eine ganz andere Funktion hatten (Skinner 2010).
3. Wenn es um die historischen Quellen soziologischen Denkens geht, kann man drittens auch den Blick auf historische Paradigmen der redundanten Denkformen und Sprachspiele lenken, die in allen Bereichen des Wissens in einem Zeitraum von mittlerer Dauer ihre Anwendung finden. Hier ließe sich von politischen Sprachen im Sinne von John G. A. Pocock sprechen, von den verbreiteten Arten, etwas zu problematisieren oder nicht, von den Konventionen der Rhetorik, dem Stil der Plausibilisierung und dem Sortiment von Vokabeln, das eingesetzt wird (Pocock 2010).
Eine solche Analyse lässt sich auch mit Blick auf eine historische Diskursanalyse erweitern, wie wir sie Michel Foucault für die Grammatik, die Klassifikation der Lebewesen und für die Analyse der Reichtümer verdanken, bevor sich das Wissen in Disziplinen der empirischen Felder »Arbeit«, »Leben« und »Sprache« ausdifferenziert hat (Foucault 1974). Auf dieser Ebene von Denkrahmen, bei Foucault episteme genannt, geht es nicht mehr um Autoren, sondern um mögliche Subjektpositionen und Gegenstandsfelder, die die Ordnung des Diskurses zulässt oder nicht.
Alles in allem: Soziologie vor der Soziologie bereitet einige Mühe und bedarf besonderer Anstrengungen, weil Soziologie ein spätes Fach ist, gerade mal gut 100 Jahre alt. Hinzu kommt, dass Soziologen nicht so vorgehen können wie etwa Physiker oder Chemiker, die in den Schriften von Gelehrten und Philosophen früherer Zeit exakt zwischen wahren Einsichten und horrendem Unsinn unterscheiden können, weil für sie der heutige Stand des Wissens maßgeblich ist. In der Soziologie verbietet sich dieses einfache Verfahren. Denn wenn es z. B. um die Validität von Aussagen über Blei geht, so nehmen wir an, dass sich dieser Reinstoff seit langer Zeit nicht verändert hat und das Wachstum des richtigen Wissens und die Bestimmung der Irrtümer auf dem Weg des Experiments gesichert werden kann. Bei Menschen, in Gesellschaft lebend, ändern sich die Dinge. So verfährt denn auch die soziologische Erforschung der Wissenschaftsgeschichte der Naturforschung nach dem Symmetrieprinzip, das lautet: Wahrheit und Irrtum der Wissenschaft einer Zeit sollen mit denselben Begriffen, Ursachen, Faktoren – d. h. eben symmetrisch – erklärt werden. Newtons Irrtümer und seine Durchbrüche sollten gerechterweise mit dem gleichen Maß gemessen werden, weil man sonst den offenen Charakter von Wissenschaft, bei dem ja gerade nicht von vornherein feststeht, was spätere Generationen gebrauchen und anerkennen können und was nicht, grundsätzlich verfehlt (Bloor 1991).
Sich mit den historischen Quellen soziologischen Denkens zu befassen, ist gerade in Deutschland auch aus politischen Gründen von Bedeutung. Denn im Selbstbewusstsein hiesiger Bürger fehlt eine verlässliche politische Konzeption mythischen Charakters, die helfen könnte, im Fluss der Ereignisse, der Krisen und Glücksmomente wieder zur Ruhe zu kommen. Helmuth Plessner hat daran erinnert, dass das Parlament in England, die bürgerliche Emanzipation in Frankreich, die erste bürgerliche Republik in Holland nicht einfach nur wichtige historische Ereignisse und [28]Prozesse darstellten, sondern es sich jeweils um nationale »Grundmythen« handelt. Plessner bemerkt dazu: »Uns fehlt eine solche Grundmythe und infolgedessen eine spezifisch bindende Tradition. Gerade deshalb sind wir das Volk der Geschichte geworden.« (Plessner 1982: 255)
Auch wenn seit 1945 unser historisches Bewusstsein auf Nationalsozialismus, Krieg und Holocaust konzentriert ist – für alle Gesellschaften gilt, dass sie zur Bewältigung ihrer Krisen die guten Geister der Vergangenheit zu Hilfe rufen und den Beistand der Ahnen in Ritualen von Erinnerungskultur erbitten. Für die Krise Europas gilt dies Erfordernis heute in besonderem Maße, geschichtslose Selbstherrlichkeit kann sich dieser Kontinent im Unterschied zu den USA nicht leisten. Denn dort kann man sich auf andere Mythen verlassen und wie Huckleberry Finn auf die Bildungsangebote der Witwe Douglas reagieren: »After supper she got out her book and learned me about Moses and the Bulrushers, and I was in a sweat to find out all about him; but by and by she let it out that Moses had been dead a considerable long time; so then I didn’t care no more about him, because I don’t take no stock in dead people.« (Twain 1885: 2)
Wir beschränken uns in diesem Beitrag auf die Soziologie vor der Soziologie und behandeln das Denken der Gesellschaft bis zu jenem Moment, an dem die heute als Gründerväter der Soziologie gefeierten Autoren Émile Durkheim, Georg Simmel, Max Weber, Vilfredo Pareto, George Herbert Mead u. a. ihre Arbeit aufnehmen.
2. | Entdeckung der Gesellschaft |
Die Entstehung von Soziologie zum Ende des 19. Jahrhunderts ist mit dem eigenartigen Vorgang der Entdeckung der Gesellschaft untrennbar verbunden. Dies meint nun nicht, dass unsere ferneren Vorfahren sich nicht bewusst gewesen wären, dass Menschen in Gesellschaft leben. Sie wussten sehr wohl, dass Menschen, so wie sie ihr Leben führen, einander brauchen. Es war völlig selbstverständlich, dass, wie der Grieche Aristoteles schrieb, der Mensch ein zoon politikon ist – ein Tier sicherlich, aber ein solches, das sich zu einer politisch-gesellschaftlichen Lebensform erheben kann. Die Entdeckung der Gesellschaft im 19. Jahrhundert bezeichnet jenen Vorgang, mit dem eine alte Selbstverständlichkeit von gesellschaftlich-gemeinschaftlicher Seinsweise brüchig wird und Gesellschaft als ein Problem erscheint, für das es neue Lösungen zu finden gilt. Soziologen haben die Gesellschaft nicht aus heiterem Himmel entdeckt, sondern unter einem düsteren Himmel den Aufruhr ihrer Zeit erfahren und sich als soziales Problem versucht verständlich zu machen. Von daher steht soziologische Arbeit immer unter »Zeitdruck« im mehrfachen Sinne. Die Zeit ist zu knapp für das gemächliche Ausreifen der Forschungsergebnisse, und die Zeit bedrückt mit ihren ideologischen Verblendungen ebenso wie mit ihren Ratlosigkeiten.
Gegen diese historische Situierung der Entdeckung der Gesellschaft könnte jemand mit gutem philosophischen Sinn einwenden: Menschen haben doch immer dieselben Probleme gehabt. Dies ist eine sehr ehrenwerte und auch weise Auffassung. Wenn man auf einen hohen Berg steigt und in der klaren Luft einsam stehend über die Welt nachdenkt, wird man wohl zu solchen Auffassungen kommen. Aber unten in den Tälern und Niederungen, da wo sich Soziologinnen und Soziologen aufhalten, stellen sich die Dinge anders dar. Hier gibt es schon ewige Grundprobleme, aber es gibt vor allem Probleme, die auf den Nägeln brennen, angesichts derer man die nicht so relevanten Probleme und Prioritäten durchaus zeitweise vergessen kann. Im 19. Jahrhundert ist das Problem Gesellschaft ein auf den Nägeln brennendes Problem. Denn die lebensweltlichen Gewissheiten der frühen Moderne fallen einem vierfachen Angriff zum Opfer: der Revolutionierung der Politik, der Monetarisierung der Beziehungen, der Industrialisierung der Arbeit und der Autonomisierung der Kunst.
[29]Revolutionierung der Politik: Mit der Französischen Revolution, die 1789 beginnt und deren Ideen der Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sich in der Folgezeit in der Welt auszubreiten beginnen, geht die lange Dauer einer in Stände gegliederten Gesellschaft zu Ende. Das große Muster sozialer Differenzierung war, wenn man den Blick auf den indo-europäischen Kulturkreis eingrenzt, bis dahin erstaunlich konstant. Die historischen Erzählungen berichten von der Vollkommenheit der Gliederung der Gesellschaft in drei Hauptfunktionen: 1. dem göttlichen Gesetz, das zur Ordnung zurückführt, 2. dem bewehrten Arm, der mit Gewalt zum Gehorsam zwingt, und 3. der Fruchtbarkeit der Arbeit, der Fülle und der Feste. Die vollkommene Gesellschaft teilt sich in drei Stände: Geistlichkeit, Adel und Dritter Stand. Der dem Adel entstammende und vom Bischof gesalbte Monarch bildet die Spitze des ständisch gegliederten Gemeinwesens.
Diese trifunktionale Ideologie war historisch nicht unangefochten. Gegenüber der Vollkommenheit der Dreiteilung wird geltend gemacht, dass der Friede der Ordnung nur ein oberflächlicher Schein sei, während in Wahrheit die Gesellschaft von einem geheimen Krieg durchzogen sei, der sie in nur zwei Lager teile. Jedes Individuum würde sich mit dem Offenbarwerden der fundamentalen binären Spaltung der Gesellschaft auf einer Seite finden. Unter dem Ansturm dieser Kritik am Trifunktionalismus brach das alteuropäische Ständesystem zusammen.
Der Vorgang ist am klassischen Beispiel der Französischen Revolution gut zu beobachten. Die berühmte Kampfschrift von Emmanuel Sieyès zeigt lehrbuchartig die Dramatik der Umstellung vom Trifunktionalismus zur Binarität. Der Dritte Stand ist demnach jetzt eine »vollständige Nation«. In ihr gibt es nur zwei Typen von Arbeiten: private und öffentliche. Das alles kann der Dritte Stand leisten. Der Rest, die »Privilegierten«, d. h. Adel und Geistlichkeit, sind überflüssig (Sieyès 1968: 56). Das politische Ordnungsgefüge wurde unter die Imperative »Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit oder der Tod« gestellt, sodass ein junger Anarchist schreiben konnte: »So lange der menschliche Geist nicht seiner Freiheit und ungebundenen Selbstentwicklung überlassen ist, so lange können wir auch nicht sagen, er habe ein Dasein, das seiner würdig wäre.« (Bauer 1842: 9)
Monetarisierung der Beziehungen: Die Ursprünge des Geldes reichen weit zurück. Auch Märkte, auf denen Güter gehandelt wurden, gab es schon lange. Entscheidend ist: Die großen Beschränkungen, denen die europäischen Märkte noch im 18. Jahrhundert unterlagen, fielen in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Stück für Stück weg, so dass sich die Menschen in Europa erstmals mit einem System weitgehend sich selbst regulierender Märkte konfrontiert sahen. Im 19. Jahrhundert musste man schon sehr blind sein, wenn man nicht sehen wollte, wie alle sozialen Beziehungen in den Strudel der ökonomischen Rationalität gezogen wurden, wie auch die ehrwürdigsten Güter der Gesellschaft und der Kultur plötzlich einen Preis bekamen, verkäuflich und käuflich wurden. Die Geldwirtschaft und das Rentabilitätsbewusstsein durchdrangen so sehr die zwischenmenschlichen Beziehungen und das Verhältnis zu Dingen, dass ein anonymer Zeitgenosse feststellte: »Vermögen, Reichtum, Nutzen, Erwerb, Geld – das gilt über alles. Es ist zwar wohl immer geschätzt worden, allein doch nur als Repräsentant der Dinge; jetzt gilt aber der Repräsentant mehr als das Repräsentierte, und die Sachen und Dinge sind bloß Repräsentanten des Geldes geworden.« (Anonym 1834: 47)
Industrialisierung der Arbeit: Die Geschichte der Industrie hat einen langen Vorlauf. Maschinen, mit denen die Körperkräfte des Menschen gesteigert werden konnten, kannte man schon in der Antike. Die Nutzung von Wind und Wasser in der Mühlentechnologie blühte im Mittelalter. Der spätmittelalterliche Bergbau stellte ein Mikromodell der Industrialisierung dar. Es gab zu dieser Zeit ein Ensemble von technischen und sozialen Strategien, die von hier aus in andere industrielle Bereiche eingedrungen sind. Ohne die Lösung der Energiekrise des 18. Jahrhunderts, [30]d. h. ohne den durch die Entfaltung des Bergbaus möglichen Übergang vom Holz zur Kohle, wäre die industrielle Revolution undenkbar gewesen. Die fossile Energie ermöglichte der Dampfmaschinen-Technologie ihren Siegeszug.
Für die Ausbreitung von Maschinen war der Zeitpunkt entscheidend, an dem Maschinen oder einzelne ihrer Module mehr und mehr maschinell erzeugt werden konnten. In der Fabrik stieg daraufhin der Anteil des »toten Kapitals« der Maschinen gegenüber »dem lebendigen Kapital« der Arbeiter. Die technischen Innovationen und die Ausbreitung neuer Maschinen ließen den Unternehmer Robert Owen feststellen: »Die Dampfmaschine und die Spinnmaschine haben jedoch mit ihren Folgeerscheinungen, den zahllosen mechanischen Erfindungen, so viel Unheil über die Gesellschaft gebracht, dass dieses nun weitaus den Segen überwiegt, den sie gebracht haben. […] Die allgemeine Ausbreitung der Fabriken über das ganze Land erzeugt einen neuen Charakter in seinen Bewohnern. […] Der Unternehmer betrachtet die Beschäftigten als bloße Instrumente für seinen Gewinn, während die Arbeiter einen grob gewalttätigen Charakter erwerben.« (Owen 1970: 55 f.)
Autonomisierung der Künste: An Festtagen, wenn die Arbeit ruhte, war Zeit für die Kunst des einfachen Volkes, die herrschenden Schichten hatten dagegen mehr Muße und Mittel für die Repräsentation ihres Ranges und die Feier ihren Lebensstils in Architektur, Bildender Kunst, Musik und Literatur. Die Künstler standen im Dienst der Kirche und des Adels oder waren selbst Angehörige der Oberschicht. Mit der Genese eines bürgerlichen Publikums wuchs sehr langsam die Zahl der Künstler, die ihre Werke auf einem Markt anbieten konnten. Damit erweiterten sich die Chancen für ästhetische Distinktionen, die Stoff für die Kunstdiskussion werden konnten. Sie bezog sich mehr und mehr auf den Wert der Kunst an sich, auf ihre schöpferische Originalität und ihre Kühnheit, sich vom Gewöhnlichen abzuheben. Diese Autonomisierung der Künste führte zu Prozessen kunstinterner Normbildung und der überraschenden innovativen Überschreitung ästhetischer Normen. Charles Baudelaire hat diese Autonomie der Kunst 1855 auf den Punkt gebracht: »Der Künstler hängt nur von sich selbst ab. Er verspricht den kommenden Jahrhunderten nur seine eigenen Werke. Er bürgt nur für sich selbst. Er stirbt ohne Nachkommen. Er war sein König, sein Priester und sein Gott.« (Baudelaire 1983: 234)
Stimmen aus dem 19. Jahrhundert, die die vier Prozesse: der Revolutionierung der Politik, der Monetarisierung der Beziehungen, der Industrialisierung der Arbeit und der Autonomisierung der Künste als etwas grundstürzend Neues erfahren haben, ließen sich mühelos zu einem Riesenchor erweitern. Aus den verschiedensten Perspektiven taucht Gesellschaft als Problem auf: Die Idee der ungebundenen Selbstentwicklung bedroht die soziale Bindung. Das Geld macht Beziehungen käuflich. Die Maschinen führen zu verelendeten und gewalttätigen Arbeitern, die Künstler definieren sich als absolut autonom. – Gesellschaft in dem Sinne, dass Menschen einander brauchen, dass sie ihr Handeln in eine Ordnung bringen müssen – diese alte Vertrautheit bricht. Das Einander-Brauchen funktioniert ganz unsozial als bloßes Ausnutzen. Viele denken sich als Gegenüber der Gesellschaft. Gegen Gesellschaft wird Freiheit, Eigennutz und Autonomie gefordert und praktiziert. Gesellschaft erscheint so als eine Art Nichtgesellschaft oder als Auflösung der Gesellschaft, als gesellschaftliches Chaos – und das ist vielen unheimlich. In einer paradoxen Selbstwahrnehmung sprechen die Menschen davon, dass es gesellschaftliche Kräfte sind, die die Gesellschaft bedrohen.
Mit der Entdeckung der Gesellschaft als einem fraglich gewordenen Phänomen im 19. Jahrhundert bilden sich drei Optionen heraus, deren Erbschaften in die Soziologie eingehen und bis heute Imaginationen ihrer Wirksamkeit stimulieren. Zum einen ist das der Wille zu einer stabileren Sozialordnung, zum anderen der Wille zu einer besseren Gesellschaft, drittens schließlich der Wille zu einer informativen Selbstdarstellung der Gesellschaft.
[31]3. | Die Stabilität der sozialen Ordnung: Staat, Polizei, Selbstregulation |
Der moderne Staat: Eine dramatische Herausforderung für die Stabilität sozialer Ordnung waren die über 200 Jahre währenden europäischen Glaubenskriege in Folge der Reformation. Diese Kriege haben unsere Moderne tief geprägt. Religiöse Reformbewegungen kannte man seit langem. Entscheidend war, dass die religiösen Abweichler Herrscher fanden, die den reformierten Glauben zu ihrer Sache und damit zur Glaubenspflicht für ihre Untertanen machten. Die Glaubenskriege waren somit zugleich Staatenbildungskriege. In der neuen Form des Territorialstaats sollten alle einer Konfession angehören. Der gesellschaftstheoretische Grundsatz lautete: religio vinculum societatis (Jede Gesellschaft braucht eine einheitliche Religion für ihren Zusammenhalt). Dissidenten mussten auswandern, und die Gläubigen, die keinen Staat ihrer Konfession fanden, verschlug es in diesen Kriegen an die Peripherie entweder in den Osten Europas oder – weit erfolgreicher – über den Atlantik nach Nordamerika, um dort eine Gesellschaft auf der Basis der Religionsfreiheit zu errichten.
In Frankreich vertrat der im Glaubenskrieg zeitweise inhaftierte Jean Bodin folgende These: Um trotz konfessioneller Zwietracht, die in religiös erregten Zeiten stets von Neuem aufbrechen konnte, friedlich zusammenzuleben, reiche es nicht, Familien und Gruppen sich selbst zu überlassen. Vielmehr sei eine absolut unabhängige oberste vernünftige Gewalt nötig: »Summa potestate ac ratione moderata.« (Bodin 1591: I, 1) Die maßgebliche Modellvorstellung für eine solche souveräne Macht entwickelte ein anderer Glaubenskriegsgeschädigter: Thomas Hobbes ging davon aus, dass die Natur nicht nur, wie man in der Antike meinte, dafür gesorgt habe, dass jedem das Naturgemäße zur Erfüllung seiner Bedürfnisse gegeben sei, sondern dass im Naturzustand jeder den Anspruch auf alles ihm überhaupt Erreichbare geltend mache. »Sooft daher zwei ein und dasselbe wünschen, dessen sie aber beide nicht zugleich teilhaftig werden können, so wird einer des andern Feind, und um das gesetzte Ziel, welches mit der Selbsterhaltung immer verbunden ist, zu erreichen, werden beide danach trachten, sich den andern entweder unterwürfig zu machen oder ihn zu töten.« (Hobbes 1978: 113 f.) Dieser Krieg aller gegen alle ist nur zu beenden, wenn die Menschen einen Vertrag darüber schließen, auf Gewalt zu verzichten und diese einer souveränen Macht als Monopol zu übertragen.