Kitabı oku: «Handbuch der Soziologie», sayfa 5
Weltgeschichtlich wirksam wurde die Gesellschaftstheorie, die Karl Marx (1818–1883) entwickelt hat. Sein Grundgedanke, dass aus den Widersprüchen der kapitalistischen Gesellschaft freie, solidarische und menschenwürdige Formen menschlichen Zusammenlebens hervorgehren könnten, hat viele Intellektuelle und Politiker in ihren Bann gezogen. Es waren drei sehr verschiedene Themen, die Marx gebündelt hat: Erstens geht es ihm um eine Philosophie der Freiheit. Hegel hatte formuliert, dass Geschichte Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit ist. Marx verbindet dies mit dem Terminus Emanzipation. Sie geschieht freilich nicht gleichsam geschichtsautomatisch, sondern muss von den Unterdrückten erkämpft werden. Dazu kommt zweitens eine Theorie des Klassenkampfs, die Marx der französischen Geschichtsschreibung entnommen hat. Die Historiker Augustin Thierry (ebenfalls einer der Sekretäre von Saint-Simon) und François Guizot sahen im Kampf zwischen Adel und Bürgertum den entscheidenden Motor für den Fortschritt der Gesellschaft. Ihnen galt der Klassenkampf als ein fruchtbares Entwicklungsprinzip der europäischen Zivilisation. Schließlich formulierte Marx drittens eine Kritik der Volkwirtschaftslehren, der Nationalökonomie, der political economy. Der Kernpunkt der Kritik lautete: »Die Arbeit kömmt nur unter der Gestalt der Erwerbstätigkeit in der Nationalökonomie vor.« Die politische Ökonomie muss kritisiert werden, weil sie eine falsche Auffassung von Arbeit hat und dazu muss man sich »über das Niveau der Nationalökonomie erheben« (Marx 1973:477).
Es sind dies drei Themen, die in der damaligen Zeit und lange danach, vielleicht sogar bis heute, voneinander getrennt diskutiert wurden: Was ist Freiheit? Warum Gewalt und Krieg in der Geschichte? Woher kommt Reichtum und Armut der Gesellschaften? Marx’ Intuition war es, diese drei Themen als drei Momente eines Zusammenhangs zusammenzuhalten und sie in den breiten Strom dessen, was man seit 1789 in Europa »Revolution« nannte, einzuspeisen.
Die Verhältnisse zwischen Soziologie und Marxismus sind spannungsreich. Denn Marx war ebenso ein Anti-Soziologe, wie sich die Soziologie als Anti-Marxismus verstanden hat. Verständlich wird diese Spannungslage, wenn man weiß, dass Marx zwei deutsche Anti-Affekte in sein Denken eingelassen hat, die sich gegen die geistigen Traditionen sowohl der Angelsachsen und wie auch der Franzosen richteten, von denen er aber gleichzeitig ungeheuer profitiert hat. Marx hasste einerseits den Bourgeois, jene Gestalt, der er einen französischen Namen gab, hinter der sich jedoch der englische Kapitalist verbarg, der self-made man, berechnend, hartherzig, erfolgreich. Andererseits hasste er die Halbherzigkeit der »nur« politischen Revolution, die die Franzosen 1789 durchgeführt hatten. Marx träumte von einem Deutschland, das besser als alle anderen mit der Zukunft fertig werden würde, darum geißelte er die eklatante Rückständigkeit seiner Landsleute und goss Hohn und Spott über ihre Faulheit und Feigheit, ihre dumme Gutgläubigkeit, ihre gemütliche Provinzialität, ihre unausstehliche Prahlsucht und ihre geistige Verstiegenheit. In Deutschland gab es daher immer auch genügend Gründe für einen Antimarxismus.
Die politischen Ökonomen in der Tradition von Adam Smith hielten daran fest, dass es moralisch besser sei, wenn die Menschen die Dinge, die sie zum Leben brauchen, miteinander [40]austauschen, indem sie nicht für ihre Autarkie, sondern für andere tätig werden und ihre Arbeitskraft auf dem Markt verkaufen. Denn die Lust zu kaufen und zu verkaufen, verbände die Menschen viel stetiger und sicherer miteinander als Affekte anderer Art. Für den ordnungsliebenden Marx war es ein unerträglicher Gedanke, dass die so völlig verschiedenen Substanzen der Welt, wie Tulpen, Tapeten, Tonkrüge und Tauben, und Eigenschaften der Individuen, wie Muskelkraft, Sangeskunst, Liebesfähigkeit und Zerstörungslust beliebig, chaotisch füreinander zur Ware werden.
Zum Antikapitalismus hinzu kommt bei Marx die Kritik an der »Nur«-Politik französischer Art, die auf der Spaltung zwischen Bürger und Mensch (Öffentlichkeit und Privatheit) basierte. Dass so lebenswichtige Themen wie Glück, Besitz, Liebe und Religion dem politischen Zugriff grundsätzlich entzogen sein sollten, d. h. als Privatsache galten, war für Marx besonders dort unerträglich, wo von der Privatsache, etwa dem Privatbesitz von Produktionsmitteln, Wohl und Wehe ganzer Landstriche abhing. So sollte Marx zufolge der Stolz der revolutionären Franzosen, die demokratische Republik, in der geschichtlichen Entwicklung durch einen Verein freier Menschen überboten werden, der ganz vaterlandslos und mit absterbenden Staaten die Welt umspannen sollte, wie ein einziges Friedensreich.
Mit seiner gegen die politische Ökonomie der Angelsachsen gerichteten Kapitalismuskritik und seiner gegen die politische Philosophie der Franzosen gerichteten Staatskritik ist Marx in Deutschland ein solch geistiger Riese gewesen, dass die sich bildende Soziologie um 1900 alle Hände voll zu tun hatte, etwas dagegenzusetzen.
5. | Literarische Selbstdarstellung der Gesellschaft |
Besonders in den wachsenden Städten wird die moderne Gesellschaft als ein unheimliches Phänomen entdeckt. Durch die Alphabetisierung der städtischen Bevölkerung entsteht zugleich ein größeres Lesepublikum und der Bedarf an Lektüren wächst, aus denen zu erfahren ist, in welcher Gesellschaft man lebt (Lepenies 1985). Eindrucksvoller als die Traktate der Gesellschaftslehren oder die statistischen Abhandlungen sind die lebendigen Darstellungen gesellschaftlichen Lebens, die in Erzählungen und Romanen auf den Markt kommen. Stilbildend für diese Literatur sind die Werke von Honoré de Balzac (1799–1850). Der literarische Durchbruch gelingt ihm in der sogenannten Julimonarchie (1830–1848), einer Periode, in der Frankreich einen rasanten Prozess wirtschaftlichen Wachstums erfährt. In seinen Romanen und Novellen schildert Balzac, wie sich Menschen und ihre Beziehungen in der entfesselten Marktgesellschaft verändern. Arnold Hauser hat bemerkt, »daß Balzac in seinen Werken viel mehr das Bild der nächsten Generation zeichnet, als das seiner eigenen, und daß seine ›nouveaux riches‹ und Parvenus, seine Spekulanten und Glücksritter, seine Künstler und Kokotten für das zweite Kaiserreich charakteristischer sind als für die Julimonarchie. Hier scheint tatsächlich das Leben die Kunst nachgeahmt zu haben« (Hauser 1973: 811). Im Vorwort zur Comédie humaine beruft sich Balzac auf Buffons Histoire naturelle und zeigt seine Absicht an, die französische Gesellschaft so systematisch zu analysieren, wie es Buffon mit dem Tierreich gemacht hatte. Für den ersten Teil der Comédie humaine sieht er den Titel Études sociales vor.
Im 19. Jahrhundert blüht die sozialkritische Schriftstellerei eines Charles Dickens, der in Oliver Twist (1837) seinen kleinen Helden das ganze Elend von Armut, Kinderarbeit und Kriminalität erleben lässt. Außerdem beschreibt Edmond de Goncourt in Germinie Lacerteux (1865) das wechselvolle Schicksal des Dienstmädchens Germinie. Gustav Freytag erzählt in dem Bestseller Soll und Haben (1855) von Adligen, die in Verkennung der neuen Welt durch Verschwendung ins [41]Elend geraten, von geldgierigen Juden und braven deutschen Bürgern – ein Roman, der geeignet war, antisemitische Stereotype zu verstärken. In Adalbert Stifters Der Nachsommer (1857) werden die Beschäftigung mit alter Kunst und die Naturbetrachtung zu Gegenwelten, in denen sich ein Lebensstil jenseits blanker kapitalistischer Gesinnung ein Stück weit erhalten kann. Die Welt der Reichen in England und den USA, die Henry James in Bildnis einer Dame (1881) schildert, ist nur oberflächlich beneidenswert. Hinter der Fassade herrschen Neid, Intrige und ein Leiden an den moralischen Verhältnissen. Das Leiden der Unterschichten hat Émile Zola in Germinal (1885) am Beispiel der Lage der Bergarbeiter, der Bergwerksunfälle, der Not in Streiks und der politischen Auseinandersetzungen dargestellt. Die Zerrissenheit der sozialen Beziehungen kommt nicht zuletzt in den Romanen über Ehe und Ehebruch verbunden mit wirtschaftlichen und moralischen Krisen zum Ausdruck, so beispielsweise in Gustave Flauberts im Untertitel Ein Sittenbild aus der Provinz genannten Roman Madame Bovary (1857), in Lew Tolstois Anna Karenina (1877/78) oder Theodor Fontanes Effi Briest oder L’Adultera.
Es waren Schriftsteller, die die wachsenden Großstädte des 19. Jahrhundert in Europa mit dem Dschungel verglichen – ein Dschungel, der zu ganz außerordentlichen Beobachtungen und Reflexionen Anlass bot. In der Stadt gibt es eine ganz eigenartige Mischung von Sichtbarem und Unsichtbarem, von Geheimnisvollem und Oberflächlichem. Zu den populären Literaturen, die über die große Stadt geschrieben wurden, gehören die Detektivgeschichte und der Kriminalroman (Kracauer 1971). Der Detektiv ist die Verkörperung der umherwandelnden Ratio in der Stadt, der dank seiner Beobachtungsgabe und seiner intellektuellen Kräfte in der Lage ist, Verbrechen aufzuklären. Er informiert über Sensationen. Dazu muss der Detektiv Strategien der Orientierung ausbilden, die den Städten gerecht werden, diesen Haufen von Artefakten, diesen Ansammlungen konkurrierender Weltbilder und der Massierung von Fremden. Die Orientierungen des Detektivs sind andere als die desjenigen, der eine stabile Sozialordnung anstrebt, und auch desjenigen, der eine bessere Gesellschaft möchte. In der großen Stadt entspringt aus den gesellschaftskritischen Romanen und literarischen Fantasien der Detektivliteratur eine neue soziologische Perspektive, nämlich die Zeitungsreportage, die die Bewohner einer Stadt darüber informiert, was in ihrer Stadt passiert. Denn die Großstadt ist der Ort, der fortwährend Neuigkeiten generiert. Presse und Großstadt gehören zusammen (Lindner 2007).
Zu den frühen Formen des Journalismus zählt die Berichterstattung über Verbrechen, die sich in der Stadt ereignen. Reporter lungern vor den Polizeibüros herum, um Neues zu erfahren, oder sie nehmen an Gerichtssitzungen teil. Sie wagen sich in Stadtteile, die verrufen sind, und schreiben über sie. Sie kontrastieren die reichen und die armen Viertel. Zwischen den Gesinnungsblättchen der Linken und der monatlichen Einbruchsstatistik der Polizei informieren Reporterinnen und Reporter über eine Unmenge von News. Dazu bedienen sie sich spezieller Techniken, der Recherche, die in die Praxis der Soziologie eingehen werden. Sie fragen Leute aus, d. h. sie machen Interviews, und sie nehmen verdeckt an Sitzungen sonst geschlossener Gesellschaften teil, sie enthüllen Skandale und Schiebereien. Historisch gesehen ist gerade der amerikanische Journalismus Ende des 19. Jahrhunderts das große Laboratorium der Methoden der empirischen Sozialforschung: Interview, teilnehmende Beobachtung, Experiment. Für diese Entwicklung steht der Name Robert Ezra Park: Er ist zuerst Reporter und zeitweise Presseagent des farbigen Bürgerrechtlers Booker Washington, dann erhält er 1914 mit 50 Jahren eine kleine Stelle bei den Soziologen an der Universität in Chicago. Dort gerät er in Kontakt mit Ethnologen, aber er sagt sich, »why go to the North Pole or climb Everest for adventure when we have Chicago«, und wird Begründer der berühmtem Chicago School of Sociology, deren Produktionen bis heute Vorbilder für soziologische Fallstudien sind (Makropulos 1988).
[42]6. | Glanz und Elend disziplinärer Spezialisierung |
Die universitäre Etablierung der Soziologie um 1900 fällt in eine Zeit, die durch zwei dramatische Prozesse gekennzeichnet ist: zum einen durch ein enormes Mengenwachstum wissenschaftlicher Publikationen, dem nur mit einer universitären Aufsplitterung von Disziplinen, Teildisziplinen und Unterdisziplinen beizukommen ist; zum anderen durch die Grundlagenkrise eines Wissenschaftsverständnisses, das sich am Ideal objektiver Erkenntnis der Wirklichkeit orientiert. Spezialisierung und Grundlagenkrise verstärken sich dabei gegenseitig. Die Psychologie trennt sich von der Philosophie, die Geografie von der Geschichtswissenschaft, die Religionswissenschaften von der Theologie. Aus Wissenstraditionen der Sprachwissenschaft, der Rassenkunde, der Altertumswissenschaften und der Archäologie entsteht die neue Disziplin der Völkerkunde, aus Geschichtsphilosophie und Nationalökonomie die Soziologie. Mathematik, Physik, Chemie, Biologie lösen ihre Verbindung mit der allgemeinen Philosophie und legen sich eigene Philosophien zu, die sie Theorie nennen, etwa »theoretische Mathematik«, »theoretische Physik« usw. Einige Philosophen wollen die Philosophie als das für die Prüfung von Wahrheit lange Zeit maßgebliche Fach nur noch als »Wissenschaftstheorie« betreiben, aber nicht alle Disziplinen wollen sich von diesen Theoretikern in ihre eigenen Fachtheorien reinreden lassen. Die arbeitsteilige Industrialisierung hatte die Universitäten erfasst und konnte genauso wenig Zusammenhalt und sinnhafte Kohärenz bieten wie die kapitalistische Gesellschaft. Und so ist es im Kern bis heute geblieben.
Zweifellos ist der Wissenszuwachs in diesem System vorteilhaft für diejenigen, die ganz spezielle Informationen suchen und auch benötigen. Die Soziologie als ein spätes Fach an Universitäten ist mit der Spezialisierung von Bindestrich-Soziologien in diesen Prozess eingebunden. Die Erinnerung an die Soziologie vor der Soziologie kann da helfen, im noch undisziplinierten großen Garten des Denkens der Gesellschaft die bleibenden Aufgaben der Soziologie festzuhalten: stabile Sozialordnung, bessere Verhältnisse, Anteilnahme an unserer Lebenswelt.
Literatur
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[45]Georg Kneer
Wissenschaftstheoretische Positionen: Wie verhält sich die Soziologie zu ihrem Gegenstand?
Der Beschäftigung mit wissenschaftstheoretischen Fragen kommt in der Soziologie gerade auch im Vergleich mit benachbarten Wissenschaftsdisziplinen ein auffallend hoher Stellenwert zu. Ein Indiz hierfür dürfte sein, dass sich gleich mehrere Beiträge dieses Handbuchs mit Themen befassen, die in das Gebiet der Wissenschaftstheorie fallen, angefangen bei der Problemstellung »Atomismus versus Holismus« bis hin zu der Frage nach den Möglichkeiten und Perspektiven einer soziologischen Gesellschaftskritik. Jedenfalls spricht viel für die Vermutung, dass Themen und Problemgesichtspunkte, die unmittelbar das wissenschaftliche Selbstverständnis berühren, das Fach in besonderer Weise faszinieren – und zugleich ein erhebliches Konfliktpotenzial beinhalten. Wenn nämlich behauptet wird, dass die Entwicklung der Soziologie maßgeblich durch eine Reihe von grundlegenden Debatten (u. a. Werturteilsstreit, Positivismusstreit, Theorienvergleichsdebatte, Streit um die Postmoderne) geprägt worden ist, dann ließe sich das Gesagte wohl mit gutem Recht dahingehend ergänzen, dass es in diesen Kontroversen häufig auch – um nicht zu sagen: vornehmlich – um die epistemologischen und wissenschaftstheoretischen Grundlagen der soziologischen Fachdisziplin ging.
Thema des vorliegenden Beitrags ist, entsprechend der Gesamtanlage des vorliegenden Bandes, die wissenschaftstheoretische Reflexion des Zugangs der Soziologie zu ihrem Gegenstandsbereich. In den Fokus der Betrachtung rücken dabei zwei begriffliche Unterscheidungen, die in den weit verzweigten Selbstverständigungsdebatten über das Verhältnis von soziologischer Wissenschaft und sozialer Wirklichkeit eine prominente Rolle gespielt haben bzw. bis heute spielen. Gemeint sind die Begriffspaare Verstehen/Erklären sowie Konstruktivismus/Realismus. Beide Unterscheidungen können auf langjährige, mitunter höchst erstaunliche Begriffskarrieren verweisen, und zu beiden Unterscheidungen findet sich ein ebenso vielschichtiges wie vielstimmiges Angebot an Auffassungen, Standpunkten und Sichtweisen. Ausgehend jeweils von einer knappen Erläuterung der verwendeten Begrifflichkeit wird im Folgenden eine (eng umgrenzte) Auswahl an klassischen und zeitgenössischen Positionen zu den beiden genannten Themenfeldern vorgestellt.
1. | Verstehen/Erklären |
Den Ausgangspunkt der Debatten über Verstehen und Erklären bildet die Frage nach der methodologischen Einheit bzw. Differenz von Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits.1 Später kamen weitere Themen und Problembezüge [46]hinzu. Streitpunkte sind etwa, ob mit den Begriffen des Verstehens und Erklärens exklusive, d. h. sich wechselseitig ausschließende oder einander ergänzende, wenn nicht sogar kongruente Zugangsweisen gemeint sind, welche Typen des Verstehens und Erklärens sich wie unterscheiden – und gegebenenfalls: kombinieren – lassen und ob einem bestimmten Verstehens- bzw. Erklärungstypus Vorrang vor anderen zukommt.2 Mit Blick hierauf wird im Folgenden auch auf die Redeweise von der Verstehen/Erklären-Kontroverse verzichtet, sondern davon gesprochen, dass sich entlang des Begriffspaars von Verstehen und Erklären eine Vielzahl von Debatten mit weitreichenden epistemologischen, gegenstandstheoretischen und methodologischen Bezügen überlagern und durchkreuzen.
Aus einer theoriegeschichtlichen Perspektive wird man davon sprechen können, dass die Debatten über Verstehen und Erklären Mitte/Ende des 19. Jahrhunderts mit dem Bemühen deutscher Historiker bzw. Philosophen um eine eigenständige methodische Profilierung der Geschichtswissenschaften einsetzen.3 Johann Gustav Droysen und Wilhelm Dilthey proklamieren einen Wissenschafts- und Methodendualismus, demzufolge die Geisteswissenschaften mit dem Verfahren des hermeneutischen bzw. interpretativen Verstehens über eine Sondermethodologie verfügen und sich somit trennscharf von den erklärenden Naturwissenschaften unterscheiden lassen. »Die Natur erklären wir, das Seelenleben verstehen wir.« (Dilthey 1982: 144) Die damit eröffnete Methodendebatte wird in der sich zu diesem Zeitpunkt konstituierenden Soziologie aufgegriffen und fortgesetzt; bei Georg Simmel (1989, 1999) etwa finden sich – allerdings im Kontext seiner Beschäftigung mit Fragen der Geschichtsforschung – mehrere Angaben zum methodischen Erklären (wobei er insbesondere auf Probleme und Unzulänglichkeiten einer Geschichtserklärung mittels historischer Gesetze hinweist) und vor allem zum Verstehen (hier unterscheidet Simmel mehrere Verstehenstypen, wobei für die weitere Debatte in erster Linie seine Differenzierung zwischen einem subjektiven Motivverstehen und einem sachlichem Verstehen relevant wird).
Von den soziologischen Klassikern hat sich zweifellos Max Weber am ausführlichsten – und am folgenreichsten – mit Fragen des Verstehens und Erklärens beschäftigt. Zu notieren gilt es zunächst, dass Weber seinen Ansatz selbst als verstehende Soziologie bezeichnet. Diese Selbstauskunft meint freilich keine Distanznahme zu dem Anliegen eines systematischen Erklärens. Anders als Droysen und Dilthey behandelt Weber die methodischen Zugänge des deutenden Verstehens und kausalen Erklärens nicht als exklusive, wechselseitig einander ausschließende Verfahrensweisen. Sein Bemühen ist vielmehr darauf gerichtet, Verstehen und Erklären miteinander zu kombinieren. Allerdings finden sich bei Weber verschiedene, z. T. deutlich divergierende Angaben, wie eine solche Kombination im Einzelnen aussehen könnte. Zumindest drei solcher Verknüpfungsformen lassen sich unterscheiden.
[47]a) Partielle Kongruenz: Verstehen meint für Weber u. a. die deutende Rekonstruktion der Motive des oder der Handelnden, wobei ein solches Verstehen der Handlungsmotive zugleich ein (kausales) Erklären der Handlungsursachen leistet, womit zugleich gesagt ist, dass für Weber, um seine frühe Antwort auf eine später häufig diskutierte Frage anzudeuten, Handlungsgründe zugleich Handlungsursachen sind. Der Vorgang des Verstehens wird damit weitgehend dem Verfahren des Erklärens angeglichen, weil Verstehen, zumindest in der Form des Motivverstehens, auf ein »erklärendes Verstehen« (Weber 1988: 547) abzielt. Soziale Handlungen stellen, insbesondere was die subjektiven Gründe und Absichten bzw. Zwecke betrifft, verständliche Sinnzusammenhänge dar, »deren Verstehen wir als ein Erklären […] des Handelns ansehen« (ebd.; Hervorhebungen geändert, G. K.).
b) Komplementarität: Verstehen und Erklären ergänzen sich wechselseitig, allerdings beginnen sie, so Weber (1988: 436), »am entgegengesetzten Pol des Geschehens mit ihrer Arbeit«. Das Verstehen zielt darauf ab, den Sinnzusammenhang des Handelns möglichst evident zu deuten (für Weber besitzt eine zweckrationale Deutung des Handelns das Höchstmaß an Verständlichkeit), wobei ein hoher Grad an Sinnadäquanz freilich keinen Beleg dafür liefert, dass das Handeln auch faktisch entsprechend abgelaufen ist. Dem Verstehen wird deshalb korrigierend ein Erklären zur Seite gestellt, das mittels kausaler Zurechnung die statistische Wahrscheinlichkeit bzw. Regelmäßigkeit des Aufeinanderfolgen von Vorgängen ermittelt. »Kausale Erklärung bedeutet also die Feststellung: daß nach einer irgendwie abschätzbaren […] Wahrscheinlichkeitsregel auf einen bestimmten beobachtbaren (inneren oder äußeren) Vorgang ein bestimmter anderer Vorgang folgt.« (Weber 1988: 550) Die beiden Verfahren des Verstehens und Erklärens thematisieren den gleichen Sachverhalt aus deutlich divergierenden Perspektiven; und dies, so Weber (1988: 436 f.), weil die sinnhafte Deutbarkeit eines Geschehens, für das sich das Verstehen interessiert, nicht unbedingt mit (einer empirisch nachweisbaren) Häufigkeit und umgekehrt die statistische Wahrscheinlichkeit eines Geschehens, auf die das Erklären rekurriert, nicht zwangsläufig mit Verständlichkeit einhergeht.
c) Vorrang des Verstehens vor dem Erklären: Ein dritter Vermittlungsvorschlag findet sich in den Ausführungen Webers, in denen er genauer auf die besonderen Voraussetzungen und Ziele der Sozial- und Kulturwissenschaften zu sprechen kommt. Hier räumt er dem Verstehen einen Vorrang vor dem Erklären ein. Dass Weber den eigenen Ansatz als verstehende Soziologie – und eben nicht als verstehende und erklärende Soziologie – bezeichnet, hat also seinen guten Grund. Weber besteht nämlich auf der Auffassung eines deutlichen Gegensatzes von Sozial- und Kulturwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits, vertritt also die Position des Wissenschaftsdualismus. Bei der Erläuterung seiner Auffassung beruft er sich zustimmend vor allem auf die neukantianische Wissenschaftslehre von Heinrich Rickert, daneben finden sich in seinen Ausführungen mehrere Argumente, die der hermeneutischen Tradition entnommen sind. Mit Soziologie ist für Weber, so lässt sich in aller Kürze sagen, eine Wirklichkeitswissenschaft gemeint, die das soziale Geschehen in seiner Eigenart und Kulturbedeutung verständlich machen will. Funktionale Erklärungen (d. h. die Analyse bzw. Ermittlung von funktionalen Zusammenhängen) und nomologische Erklärungen (also Erklärungen mit Hilfe von Gesetzmäßigkeiten werden – sofern sie überhaupt gelingen – nicht grundsätzlich abgelehnt, doch sie gelten lediglich als Hilfsmittel, gewissermaßen nur als Vorarbeiten einer wirklichkeitswissenschaftlichen Betrachtung. Und: Verstehen genießt einen Vorrang vor dem Erklären, weil die Besonderheit der Soziologie bzw. der Sozial- und Kulturwissenschaften eben auf einer Mehrleistung des Verstehens basiert: »Wir sind ja bei ›sozialen Gebilden‹ […] in der Lage: über die bloße Feststellung von funktionellen Zusammenhängen und Regeln (›Gesetzen‹) hinaus etwas aller ›Naturwissenschaft‹ (im Sinn der Aufstellung von Kausalregeln für Geschehnisse und Gebilde und der ›Erklärung‹ [48]der Einzelgeschehnisse daraus) ewig Unzugängliches zu leisten: eben das › Verstehen‹ des Verhaltens der beteiligten Einzelnen.« (Weber 1988: 554 f.)
Verschiedene Grundbegriffe und Argumente Webers sind in den nachfolgenden Debattenbeiträgen wiederholt aufgegriffen bzw. erneut vorgebracht worden – ohne dass dies den Beteiligten stets klar gewesen ist und ohne dass sie allesamt Webers Anliegen einer Vermittlung oder gar Integration von Verstehen und Erklären geteilt hätten. Das zuletzt Gesagte gilt zunächst einmal für einheitswissenschaftliche Ansätze, die auf deutliche Distanz zu Webers Auffassung einer wissenschaftstheoretischen Besonderheit der Sozial- und Kulturwissenschaften gehen.4 Aus der Sicht von Theodore Abel (1948) kann der Hinweis auf die methodische Operation des Verstehens eine wissenschaftsdualistische Ansicht nicht stützen, da sich mittels eines verstehenden Zugangs zwar Hypothesen formulieren, aber nicht verifizieren lassen – und sich die Sozialwissenschaften somit in ihrer Beweisführung auf keine Sondermethodologie stützen können. Für die monistische Position, also für die Auffassung einer methodischen Gleichartigkeit von Sozial- und Kulturwissenschaften einerseits und Naturwissenschaften andererseits steht insbesondere das von Carl G. Hempel und Paul Oppenheim (1948) formulierte deduktiv-nomologische Erklärungsmodell, wonach die Erklärung eines – natürlichen oder sozialen – Ereignisses erfordert, dass die Aussage, die das Ereignis beschreibt, aus universalen Gesetzesaussagen sowie Beschreibungen der Anfangsund Randbedingungen logisch abgeleitet werden kann.5 Ein eigenständiges Verstehen ist im so genannten covering law-Modell der Erklärung – der Name verweist darauf, dass bei diesem Erklärungstypus das Explanandum, d. h. das zu Erklärende, hinreichend von gesetzesartigen Aussagen abgedeckt wird – weder erforderlich noch vorgesehen ist (genauer gesagt weist Hempel, ähnlich wie Abel, dem Verstehen eine Hilfsfunktion zu): Erklärungen basieren auf Gesetzen, d. h. sie führen universale Regelmäßigkeiten an – ohne dass verlangt würde, dass diese Regelmäßigkeiten zugleich sinnhaft verständliche Zusammenhänge (im Sinne Webers) darstellen.