Kitabı oku: «Handbuch der Soziologie», sayfa 6
Hempels und Oppenheims Auffassung einer einheitlichen und verbindlichen Erklärungslogik hat eine lange, hoch komplexe Kontroverse ausgelöst. Im hier interessierenden Kontext sind vor allem kritische Einwände relevant, die von Seiten interpretativer Ansätze vorgetragen werden. Mit dem Begriff der interpretativen Soziologie bzw. des interpretativen Paradigmas ist eine Perspektive gemeint, die betont, dass die soziale Wirklichkeit von den Akteuren in und durch Interpretationsleistungen aktiv hervorgebracht wird und daher die Sozial- und Kulturwissenschaften – entsprechend ihres besonderen, sinnhaft strukturierten Gegenstandsbereichs – auf einen vorrangig verstehenden, hermeneutischen oder eben interpretativen Zugang angewiesen sind.6 Damit wird keineswegs die Möglichkeit der Erklärung von Handlungen, Interaktionsmustern, kommunikativen Prozessen etc. bestritten. Behauptet wird aber, dass derartige Erklärungen nicht dem Muster [49]einer deduktiv-nomologischen Erklärung folgen, sich also grundsätzlich von naturwissenschaftlichen Erklärungen unterscheiden. Dem einheitswissenschaftlichen Programm halten die Verfechter des interpretativen Paradigmas, kurz gesagt, die Auffassung einer Eigenständigkeit bzw. Besonderheit sozial- und kulturwissenschaftlicher Erklärungen entgegen. Thomas P. Wilson fasst die methodologische Grundaussage interpretativer Ansätze dahingehend zusammen, dass Erklärungen sozialer Ereignisse und Prozesse, anders als naturwissenschaftliche Erklärungen, auf intentionale bzw. sinnhafte Phänomene (Motive und Absichten der Akteure, subjektive Situationsdeutungen, kulturelle Schemata, normative Regeln etc.) Bezug nehmen, die sich allein mittels eines deutenden, verstehenden Zugangs erschließen lassen. »Wird nun soziale Interaktion als interpretativer Prozess angesehen, dann können solche Erklärungen sinnvoll nicht in deduktiver Weise konstruiert werden, sondern sie müssen aufgefasst werden als Akte, mit denen den Handelnden Absichten und Umstände zugeschrieben werden, die geeignet sind, dem Beobachter das beobachtete Handeln verständlich zu machen.« (Wilson 1973: 69) Ein ähnlich lautendes Argument wird von Seiten der so genannten Wittgensteinianer (Dray 1957, Winch 1974, Wright 2000) innerhalb des interpretativen Theorienlagers vorgetragen, die auf einer strikten Abgrenzung des Modells einer intentionalen bzw. teleologischen Handlungserklärung (d. h. der Erklärung einer Handlung im Rekurs auf subjektive Ziele oder Zwecke) gegenüber dem naturwissenschaftlichen Standardverfahren einer Kausalerklärung (mittels der Bezugnahme auf Gesetze) bestehen.7 Demzufolge erfordert die informative Erklärung einer Handlung die Angabe von Handlungsgründen, wobei es aus ihrer Sicht verfehlt wäre, die Gründe des Handelns als kausale Handlungsursachen zu begreifen, weil sich Handlungsgründe und Handlungen, anders als Ursachen und Wirkungen, nicht unabhängig voneinander identifizieren lassen. Hieraus ziehen die »Intentionalisten« die Schlussfolgerung, dass zwischen Handlungsgründen und Handlungen kein kausaler, sondern ein begrifflicher bzw. sinnhafter Zusammenhang existiert, der sich allein mit interpretativen Mitteln verständlich machen, jedoch nicht im Rückgriff auf Kausalgesetze erklären lässt.
Wenngleich gesagt werden kann, dass insbesondere in den Sozialwissenschaften die kritischen Stimmen gegenüber Hempels und Oppenheims Postulat eines einheitlichen Erklärungsprinzips überwiegen, sollte man umgekehrt die von verschiedenen Seiten signalisierte Zustimmung nicht übersehen. Ein aktuelles Beispiel für eine soziologische Theorieposition, die sich an dem genannten Erklärungsmodell orientiert, stellt der Ansatz von Hartmut Esser (1993) dar. Im Anschluss an Hempel und Oppenheim betont Esser, dass soziologische Erklärungen, wie alle wissenschaftlichen Erklärungen, eine deduktiv-nomologische Struktur aufweisen. Bei der genaueren Ausarbeitung seiner eigenen Konzeption nimmt er freilich verschiedene Änderungen/Erweiterungen am Ausgangsmodell vor, aus denen bestimmte Konsequenzen für das Begriffspaar von Verstehen und Erklären resultieren: Zunächst präzisiert Esser, dass mit den Gesetzen, die eine soziologische [50]Erklärung anführt, nicht kollektive Strukturgesetze, sondern individuelle Handlungsgesetze gemeint sind – wobei er freilich, anders als Hempel und Oppenheim, ausschließlich auf ein einziges Gesetz verweist: das Theorem der rationalen Nutzenwahl, das für Esser (1999: 16) eine oder besser: die »nomologische Regel […] der Selektion des Handelns« beschreibt. Zudem legt er Wert auf die Feststellung, dass die Anwendung einer allgemeinen Mikrotheorie des Handelns lediglich den mittleren Schritt einer insgesamt dreigliedrigen Erklärungslogik darstellt. Diesem Schritt geht die Rekonstruktion der sozialen Situation, in der die Akteure sich befinden, voraus; zudem erfolgt in einem anschließenden dritten Schritt eine Erklärung der kollektiven Folgen individueller Handlungen. Im Gegensatz zum zweiten Erklärungsschritt, der mit der Theorie der rationalen Handlungswahl »ein kausales Gesetz mit allgemeiner Geltung« (Esser 1999: 16) anführt, kommen sowohl der erste und der abschließende Erklärungsschritt ohne die Angabe von streng universalen Regelmäßigkeiten aus. Insbesondere gilt es jedoch zu erwähnen, dass Esser an die Ausformulierung des dreigliedrigen Modells der soziologischen Erklärung den Anspruch knüpft, »jede grundsätzliche Trennung zwischen kausalem Erklären und interpretierendem Verstehen« (Esser 1993: 598) aufzuheben. Demzufolge leistet vor allem der erste Schritt (rekonstruktive Deutung der subjektiven Definition der Situation) ein interpretatives Verstehen, dagegen der zweite Schritt (Erklärung der Handlungswahl sowie des Handlungsablaufs) und der dritte Schritt (Erklärung der kollektiven Wirkungen des Handelns) ein ursächliches Erklären. Mit seinem Bemühen, die methodischen Zugangsweisen des interpretativen Verstehens und des deduktiv-nomologischen Erklärens integrativ miteinander zu verschränken, nimmt Esser gewissermaßen eine Mittlerrolle zwischen monistischen und dualistischen Positionen der Wissenschaftstheorie ein: Auf der einen Seite folgt er Hempel und Oppenheim in der Auffassung einer einheitswissenschaftlichen Erklärungskonzeption. Auf der anderen Seite spricht er methodendualistisch von einem »grundlegenden Unterschied zwischen Natur- und Sozialwissenschaften« (Esser 1993: 597), der seines Erachtens daraus resultiert, dass die Sozialwissenschaften, anders als die Naturwissenschaften, darauf angewiesen sind, ihre ›Objekte‹ zu verstehen, da sie in ihren Erklärungen die Sichtweisen der handelnden Akteure berücksichtigen.
Weiter oben ist bereits vom so genannten interpretativen Paradigma die Rede gewesen. Allerdings gilt es zu beachten, dass der Begriff des Interpretationismus uneinheitlich verwendet wird. In diesem Kontext ist neben der zuvor erläuterten Begriffsfassung eine weitere Verwendungsweise von Interesse. Der Begriff dient auch zur Bezeichnung einer bestimmten wissenschaftstheoretischen Position, die der interpretativen Tätigkeit eine zentrale Rolle in sämtlichen Wissenschaftsdisziplinen zuweist. Demzufolge sehen sich nicht allein die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften, sondern eben auch die Naturwissenschaften fortlaufend mit der Aufgabe des Deutens und Auslegens konfrontiert. Für diese interpretative Wende in der allgemeinen Wissenschaftstheorie stehen insbesondere die Arbeiten von Willard Van Orman Quine und Thomas Kuhn. Sie untergraben mit ihren weitreichenden Thesen den orthodoxen Konsensus der älteren (positivistischen) Wissenschaftstheorie: Quine (1984) spricht von einer Unterbestimmtheit der Theorien durch die Daten und betont den holistischen Charakter der Bestätigung und Widerlegung von Theorien; Kuhn (1976) stellt die etablierte Auffassung einer kumulativen Entwicklung wissenschaftlichen Wissens in Frage. Zugleich damit kündigen sie die Annahme einer neutralen Beobachtungssprache auf. Wissenschaftliche Beobachtungen sind demzufolge theoriebeladen, sie liefern also keine interpretationsfreien Belege. Was als wissenschaftliches Datum zählt, ergibt sich erst im Kontext theoretischer Deutungen. Und umgekehrt ist auch die Beantwortung der Frage, welche theoretischen Konsequenzen aus dem Hinweis auf bestimmte Belege resultieren, auf ein fortlaufendes Auslegen angewiesen. Die wissenschaftliche Tätigkeit stellt sich in dieser Sicht als eine deutende (hermeneutische) Tätigkeit dar, in der fortlaufend [51]Daten im Licht von Theorien, und Theorien im Licht von Daten interpretiert und reinterpretiert werden.
Die damit angedeutete interpretative Wende hin zu einem postempiristischen Wissenschaftsverständnis ist in den Sozialwissenschaften breit (und weitgehend zustimmend) rezipiert worden. Umstritten geblieben ist allerdings, welche Konsequenzen hieraus im Einzelnen für das eigene wissenschaftstheoretische Selbstverständnis resultieren. In der Kontroverse stehen sich (idealtypisch formuliert) erneut zwei Theorielager gegenüber. Die eine Seite hält mit Blick auf die Zugangsweise des Verstehens – auch nach der Ausweitung des Interpretationsbegriffs – an der Auffassung einer methodischen Besonderheit der Sozialwissenschaften fest, befürwortet also eine wissenschaftsdualistische Position. Dabei wird von dieser Seite nicht bestritten, dass die Naturwissenschaften, ganz im Sinne der postempiristischen Wissenschaftstheorie, eine interpretative Dimension aufweisen; diese Auskunft wird freilich durch die Auffassung ergänzt, dass sich für die Sozialwissenschaften die Aufgabe der Interpretation in besonderer, nämlich gleich in zweifacher Weise stellt. In aller Kürze lässt sich diese Auffassung mit dem von Anthony Giddens (1984) formulierten Schlagwort einer doppelten Hermeneutik kennzeichnen. Zusätzlich zu der interpretativen Herausforderung, wissenschaftliche Daten mit Hilfe von Theorien zu gewinnen, zu prüfen und somit zu deuten (woran zugleich die hermeneutische Tätigkeit der Auslegung des verwendeten Theorie- und Beschreibungsvokabulars geknüpft ist), sehen sich die Sozialwissenschaften demzufolge mit einem weiteren Verstehensproblem konfrontiert. Sie haben dem Umstand Rechnung zu tragen, dass sie es in ihrem Objektbereich, anders als die Naturwissenschaften, mit einer »vor-interpretierten Welt« (Giddens 1984: 179) zu tun bekommen, also auf eine soziale Wirklichkeit treffen, die bereits sinnhaft konstituiert ist – und dass sie aus diesem Grunde gar nicht umhin kommen, jene Begriffe, Auffassungsweisen und Deutungsschemata interpretativ zu erschließen, »die die Handelnden selbst für die Konstitution und Rekonstitution der sozialen Welt benutzen« (ebd.: 191). In dieser Sicht stellen die Interpretationen, die die Sozialwissenschaften anbieten, stets Interpretationen von Interpretationen dar, also Reinterpretationen (innerhalb der eigenen Wissenschaftssprache) von jenen vorgängigen Interpretationen, die von den handelnden Akteuren formuliert und verwendet werden.
Den Verfechtern einer doppelten Hermeneutik stehen die Befürworter einer antidualistischen Interpretationskonzeption konträr gegenüber. Dabei legen die »Anti-Dualisten« zunächst Wert auf die Feststellung, dass sich ihre Position deutlich von einer monistischen Wissenschaftsauffassung unterscheidet (Rorty 1981, 1991; Rouse 1990: 166 ff.). Ihr Ausgangspunkt ist die These einer weitreichenden Pluralisierung wissenschaftlicher Theorien und Methoden (disunity of science). Der Hinweis auf die nachhaltige Diversifizierung der modernen Wissenschaften dient ihnen zugleich dazu, die Auffassung einer eindeutigen Zuordnung von bestimmten Methoden zu einzelnen Disziplinen bzw. Disziplingruppen zurückzuweisen. Auf Ablehnung stößt damit auch die wissenschaftsdualistische Annahme einer strikten Unterscheidung zwischen den Zugangs- und Verfahrensweisen der Naturwissenschaften auf der einen Seite und denen der Sozialwissenschaften auf der anderen Seite. Aus Sicht der Anti-Dualisten orientiert sich diese Auffassung einer prinzipiellen Methodendifferenz an den gleichen fragwürdigen Prämissen, denen auch das einheitswissenschaftliche Programm verpflichtet ist. Gemeint ist insbesondere die Annahme, dass sich mit den Mitteln der Wissenschaftslogik ein stabiler (ahistorischer) Methodenkanon unverbrüchlich ausweisen lässt – sei es für die Wissenschaften insgesamt oder sei es zumindest für einzelne Disziplingruppen. Diese Annahme kontern die Anti-Dualisten mit einem pragmatischen Gegenargument: Die Frage nach geeigneten methodischen Zugangsweisen lässt sich demzufolge nicht, etwa im Rekurs auf ontologische oder epistemologische Erwägungen, ein für alle Mal verbindlich, sondern nur in Abhängigkeit von (historisch wechselnden) Erkenntnisinteressen [52]und Erkenntniszielen beantworten. An dieses Argument ist ein weiterer Kritikpunkt geknüpft, der sich unmittelbar gegen das Programm einer doppelten Hermeneutik richtet. Aus der Perspektive der Anti-Dualisten unterläuft der Gegenseite ein Fehlschluss. Die Schlussfolgerung, dass die Sozialwissenschaften gar nicht umhin können, die vorgängigen Interpretationsleistungen der Akteure ihrerseits zu interpretieren, ist demnach keineswegs zwingend, da eine Erkundung der sozialen Welt auch entlang anderer, abweichender Gesichtspunkte bzw. Perspektiven erfolgen kann.8 Den Protagonisten einer doppelten Hermeneutik halten sie den Einwand entgegen, dass diese in ihren Arbeiten gewissermaßen dem Beschreibungsvokabular – und damit: den Deutungen und Sichtweisen – der handelnden Akteure ein Privileg einräumen. Ein derart vorrangiges Beschreibungsvokabular kann es nach Auskunft der Anti-Dualisten jedoch nicht geben, weil je nach gewähltem Erkenntnisziel gänzlich unterschiedliche Beobachtungs- und Theoriesprachen von Vorteil (oder Nachteil) sein können.
Einen weiteren Kritikpunkt gilt es zumindest anzudeuten. Die Anti-Dualisten werfen den Protagonisten einer doppelten Hermeneutik eine widersprüchliche Argumentation vor, die bei der Analyse der sozialen Welt eine konstruktivistische Perspektive, dagegen mit Blick auf die Welt der Natur eine realistische Auffassung vorbringt. Das verweist darauf, dass die Debatten über Verstehen und Erklären intern verknüpft sind mit den Diskussionen über Konstruktivismus und Realismus, die im zweiten Teil dieses Beitrags thematisiert werden. Auf Vorbehalte seitens der Anti-Dualisten trifft u. a. Giddens’ Hinweis auf die Besonderheit der Wissenschaften vom Sozialen. Seine Auskunft, dass es allein die Sozialwissenschaften mit einer vor-interpretierten Welt zu tun bekommen, legt demzufolge den fragwürdigen Umkehrschluss nahe, dass die Naturwissenschaften gewissermaßen auf eine Wirklichkeit an sich treffen, die sie erst im Nachhinein in ihrer Theoriesprache deuten. Eine derartige Auffassung erliegt jedoch, so die Kritik, dem Mythos des uninterpretiert Gegebenen.
2. | Konstruktivismus/Realismus |
Auseinandersetzungen über Konstruktivismus und Realismus nehmen in der wissenschaftstheoretischen Reflexion der Soziologie bzw. der Sozialwissenschaften einen breiten Raum ein. In den weit verzweigten, nach außen hin nur unscharf abgegrenzten Debatten geht es um eine Vielzahl von Streitpunkten. Diskutiert wird u. a. über Wirklichkeitsbegriffe und epistemologische Zugangsweisen, über geltungs- und bedeutungstheoretische Aspekte, über Fragen der wissenschaftlichen Objektivität und Wahrheit. Insofern stellt die Redeweise von der Konstruktivismus/Realismus-Kontroverse [53](wie ja auch die von der Erklären/Verstehen-Debatte) eine beträchtliche Vereinfachung dar. Ebenso liegt eine Verkürzung vor, wenn – wie es allerdings häufig geschieht – behauptet wird, dass es sich bei Konstruktivismus und Realismus per se um grundlegende Alternativen handelt, die konträre und damit unvereinbare Antworten auf die angedeuteten Wirklichkeits-, Erkenntnis- und Wahrheitsfragen geben. Das Verhältnis von konstruktivistischen und realistischen Positionen ist weitaus vielschichtiger. Ein Grund hierfür lautet, dass die Ausdrücke Konstruktivismus und Realismus Sammelbegriffe darstellen, die jeweils ein breit gefächertes Spektrum an z. T. äußerst divergierenden Ansätzen und Standpunkten umfassen. Man bekommt es also mit ganz unterschiedlichen Konstruktivismus/Realismus-Konstellationen zu tun – und zwar in Abhängigkeit davon, welche Begriffsbestimmungen gewählt werden bzw. welche Varianten oder Spielarten jeweils gemeint sind. Diese Überlegung wird durch die Beobachtung gestützt, dass keineswegs alle Debattenbeteiligten einen strikten Gegensatz zwischen konstruktivistischen und realistischen Positionen behaupten. Daneben finden sich auch die Auffassungen einer partiellen Überschneidung oder wechselseitigen Ergänzung, mitunter ist gar von einer Indifferenz die Rede. Bevor im Folgenden ausgewählte Positionen hierzu vorgestellt werden, gilt es zunächst, die verwendete Begrifflichkeit (in der gebotenen Kürze) zu erläutern.
Der Begriff des Realismus verfügt über eine altehrwürdige philosophische Tradition und wird in einer Vielzahl von Bedeutungen verwendet. Die häufigste Erwähnung finden die Varianten des ontologischen und erkenntnistheoretischen Realismus. Der ontologische Realismus steht für die These, dass die Existenz und Beschaffenheit der Wirklichkeit unabhängig davon ist, was Menschen darüber denken, sagen oder wissen können. Der erkenntnistheoretische Realismus vertritt die Auffassung einer epistemischen Zugänglichkeit, behauptet also, dass die Strukturen der Wirklichkeit erkennbar sind. Die beiden Realismusdefinitionen besagen keineswegs das Gleiche. Verschiedentlich wird sogar davon gesprochen, dass sie sich widersprechen – da einer wirkmäch-tigen Auffassung zufolge allein das, was denkabhängig ist bzw. vom Menschen hervorgebracht wird, auch erkannt werden kann. Insofern ist richtig, dass derjenige, der die ontologische Unabhängigkeitsthese übernimmt, nicht zugleich auch von der epistemischen Zugänglichkeitsthese überzeugt sein muss. Die prominenteste Fassung dieser Auffassung ist vermutlich Immanuel Kants Kombination von externem Realismus und transzendentalem Idealismus. Kant bestreitet nicht, dass eine denkunabhängige Wirklichkeit existiert, aber er behauptet, dass wir nicht diese Wirklichkeit an sich, sondern nur die Erscheinung dieser Wirklichkeit erkennen können. Die (subjektiven) Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung sind, so Kant, zugleich die Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung (und nicht: der Dinge an sich).
Der Begriff des Konstruktivismus weist, ebenso wie der Begriff des Realismus, eine Vielfalt von Bedeutungen auf. Ein Grund hierfür ist sicherlich, dass von Konstruktivismus in ganz unterschiedlichen Kontexten die Rede ist. Doch auch, wenn man allein soziologische bzw. sozialwissenschaftliche Begriffsfassungen berücksichtigt, wird man kaum von einer einheitlichen Verwendungsweise sprechen können. Insofern besteht auch keine Einigkeit darüber, welche Theorieprogramme und Ansätze im Einzelnen dem Konstruktivismus zugerechnet werden können. Wenngleich viele Beobachter die Einschätzung teilen, dass konstruktivistische Perspektiven gerade in den letzten drei oder vier Jahrzehnten erheblich an Einfluss gewonnen haben, so bleibt doch das Ausmaß dieser Expansionsbewegung umstritten. Für die eine Seite stellt der Konstruktivismus eine zwar relevante, keineswegs jedoch die einzige Position innerhalb eines breiten soziologischen Theorienspektrums dar, die andere Seite spricht dagegen davon, dass sich seit einiger Zeit in den Sozial- und Kulturwissenschaften – zumindest implizit – ein konstruktivistischer Grundkonsens breit gemacht hat (vgl. etwa Schülein 2002, Renn 2012). Angesichts des Fehlens einer einheitlichen Begriffsbestimmung geht man zumeist unmittelbar dazu über, [54]unterschiedliche Spielarten und Varianten des Konstruktivismus zu unterscheiden. Angaben darüber, welchen (kleinsten) gemeinsamen Nenner die verschiedenen Begriffsfassungen bzw. Versionen aufweisen, begnügen sich zumeist mit der Auskunft, dass mit dem Begriff Konstruktivismus eine theoretische Perspektive gemeint ist, die eine (soziale) Fabrikation, Hervorbringung bzw. Produktion unterschiedlicher Entitäten bzw. Wirklichkeitsbereiche behauptet. Ausgehend von diesem Hinweis wird man sagen können, dass zwischen den verschiedenen Varianten z. T. weitreichende Differenzen existieren, im Rahmen welcher soziologischer Theorieprogramme die Metapher der Konstruktion ausbuchstabiert wird, wie der Vorgang einer sozialen Fabrikation genauer erläutert wird und welche Entitäten als das Resultat entsprechender Hervorbringungsprozesse begriffen werden. Mit Blick auf die zuletzt angeführte Frage wird vielfach zwischen moderaten und radikalen Ansätzen unterschieden. Moderate Versionen des Konstruktivismus grenzen demzufolge die These einer sozialen Konstruiertheit auf bestimmte Typen von Ereignissen bzw. Entitäten ein, während radikale Spielarten sämtliche Phänomene als konstruiert begreifen.
Diese knappen begrifflichen Hinweise mögen genügen, um sich im Folgenden der Ausgangsfrage nach dem Verhältnis von soziologischer Wissenschaft und sozialer Wirklichkeit zuzuwenden. Vereinfachend wird man sagen können, dass aus Sicht »der« Konstruktivisten wissenschaftliche und damit soziologische Erkenntnis eine beobachterabhängige Konstruktion darstellt, aus der Perspektive »der« Realisten zwar nicht die Erkenntnis des Gegenstands, jedoch der Erkenntnisgegenstand unabhängig vom wissenschaftlichen Beobachter existiert. Ob und inwieweit sich diese schematische Kennzeichnung als ein strikter Gegensatz deuten lässt, dürfte u. a. davon abhängen, wie die verwendeten Begriffe jeweils interpretiert werden. Das Merkmal einer Beobachter(un)abhängigkeit lässt nämlich zahlreiche Differenzierungen zu. Das Gleiche kann mit Blick auf die Kategorie der Konstruktion gesagt werden: Konstruktion der Erkenntnis kann, muss aber nicht, vollständige Selbstproduktion der Erkenntnis meinen; es sind also, anders gesagt, zahlreiche Abstufungen bezüglich des Grads der Autarkie bzw. Autonomie wissenschaftlicher Erkenntnis möglich. Hinzu kommt, dass die Bezeichnung der (wissenschaftlichen) Erkenntnis selbst mehrdeutig ist. Erkenntnis meint zum einen die Einheit der Unterscheidung von Erkenntnis und Gegenstand, zum anderen nur eine der beiden Seiten der Unterscheidung. Aufgrund der erwähnten Punkte (Begriffsvielfalt, Pluralität an Differenzierungsmöglichkeiten, Unklarheit des Erkenntnisbegriffs) sind die vorgenommenen Zurechnungen, welche Position dem Lager des Realismus bzw. dem des Konstruktivismus zugehört, umstritten. Im Weiteren wird deshalb gar nicht erst der Versuch einer eindeutigen Lagerzuordnung unternommen. Wichtiger dürfte es sein, mit Blick auf die genannte Thematik verschiedene Problembezüge und Betrachtungsweisen vorzustellen.
Das Thema der Beobachterabhängigkeit wissenschaftlicher Erkenntnis wird bereits in der Gründungsphase der akademischen Soziologie intensiv diskutiert. Terminologisch gilt es zu beachten, dass bei den soziologischen Klassikern von Konstruktivismus so gut wie überhaupt nicht, von Realismus nur selten explizit die Rede ist. Ausgehend von einer weiten Begriffsfassung, die den gegenwärtigen Konstruktivismus als Fortführung einer vieljährigen, spätestens mit Kant einsetzenden Denktradition begreift, wird man jedoch auch bei den soziologischen Gründungsvätern auf eine Vielzahl von Überlegungen stoßen, die eine konstruktivistische Ausrichtung aufweisen. Erneut gilt es vor allem an Weber zu erinnern, der sich in seinen Beiträgen zur Wissenschaftslehre, wie angedeutet, zustimmend auf die neukantianische Philosophie von Rickert beruft. Insbesondere übernimmt Weber von Rickert die Auffassung, dass der Gegenstand, auf den sich die sozial- bzw. kulturwissenschaftliche Untersuchung bezieht, gewissermaßen vom wissenschaftlichen Beobachter hervorgebracht, d. h. (mit-)konstituiert wird. Als Ausgangspunkt fungiert dabei [55]die Überlegung, dass die wissenschaftliche Erkenntnis nicht die unendliche Wirklichkeit – Rickert und Weber sprechen mit Blick auf die Unendlichkeit des Weltgeschehens von einer extensiven und intensiven Mannigfaltigkeit, die sich als solche nicht getreu abbilden und damit erkennen lässt –, sondern stets nur Ausschnitte dieser Wirklichkeit thematisieren kann. »Es gibt keine schlechthin ›objektive‹ wissenschaftliche Analyse des Kulturlebens oder […] der ›sozialen Erscheinungen unabhängig von speziellen und ›einseitigen‹ Gesichtspunkten, nach denen sie […] als Forschungsobjekt ausgewählt, analysiert und darstellend gegliedert werden.« (Weber 1988: 170) Als Auswahlgesichtspunkte fungieren in den Kulturwissenschaften Wertideen, die Ausschnitte der unendlichen Wirklichkeit als bedeutsam und damit als wissenswert erscheinen lassen. Nur dadurch, dass ›wir‹ wertend an die Wirklichkeit herantreten, lassen sich Teile des unendlichen – und zunächst einmal: sinnlosen – Weltgeschehens aussondern und zum Gegenstand des kulturwissenschaftlichen Erkennens machen. Ausgehend hiervor spricht Weber von einer »ewige[n] Jugendlichkeit« (ebd.: 206) der Sozial- und Kulturwissenschaften: Mit dem Wandel der Kultur ändern sich auch ›unsere‹ (Forschungs-)Interessen und damit die spezifischen Gesichtspunkte, von denen aus wir die Wirklichkeit betrachten.
Webers konzeptuelle Anleihen, die er beim Neukantianismus vornimmt, erinnern in bestimmter Hinsicht an Überlegungen, für die sich konstruktivistische Ansätze stark machen. Insbesondere ist richtig, dass sich Weber gegen einen einfachen Abbildrealismus ausspricht. Doch geht Weber generell auf Distanz zur Position des Realismus? Einmal abgesehen davon, dass sich Weber hierzu nicht geäußert hat (und ihm die Frage vermutlich äußerst merkwürdig vorgekommen wäre), gilt es an das zuvor Gesagte zu erinnern. Die Antworten dürften unterschiedlich ausfallen – je nachdem, welche Fassung des Realismusbegriffs gewählt wird. Jedenfalls können auch diejenigen, die in Weber einen Verfechter des Realismus sehen, eine Vielzahl von Belegen anführen. Für diese Realismus-These spricht u. a., dass bei Weber, genau genommen, nicht von einer Konstruktion und damit Hervorbringung, sondern einer Auswahl des Erkenntnisgegenstands die Rede ist,9 dass Weber, im Gegensatz zu (emanatistischen) Identitätstheorien, die Kluft zwischen Begriff und Wirklichkeit nicht einzieht oder dass Weber einen nicht-relativistischen Wahrheitsbegriff vertritt: Subjektive Wertideen bestimmen zwar, was Gegenstand der kulturwissenschaftlichen Untersuchung wird, sie haben, so Weber, jedoch keinen Einfluss auf die Gültigkeit der Untersuchungsergebnisse.10 »Denn wissenschaftliche Wahrheit ist nur, was für alle gelten will, die Wahrheit wollen.« (Weber 1988: 184)
Émile Durkheim nimmt eine deutlich abweichende Position hinsichtlich der genannten Thematik ein. In seiner Schrift zu den Regeln der soziologischen Methode betont er, dass der sozialen Wirklichkeit eine eigenständige Form der »Objektivität« (Durkheim 1984: 126) zukommt und auch »objektiv untersucht« (ebd.: 91) werden kann. Relevant im hier interessierenden Kontext ist [56]vor allem, dass Durkheim den sozialen Tatbeständen, die den Gegenstandsbereich der Soziologie bilden, neben den Eigenschaften der Äußerlichkeit, Allgemeinheit und Zwanghaftigkeit auch das Merkmal der Unabhängigkeit zuspricht. Unabhängig sind soziale Phänomene für ihn zunächst insofern, als sie nicht im Verhalten bzw. Handeln einzelner Individuen aufgehen, sondern eine eigenständige Realitätsebene bilden, d. h. eine Realität sui generis. Independent sind soziale Phänomene für ihn aber auch insofern, als sie, vergleichbar mit Dingen, unabhängig vom wissenschaftlichen Blick existieren. Durkheim zeigt sich überzeugt davon, dass sich die sozialen Phänomene, so wie sie wirklich sind, wissenschaftlich analysieren und erklären lassen. Eine wichtige Voraussetzung hierfür ist, dass die Soziologie sämtliche alltagsweltlichen Vormeinungen und Vorbegriffe, die sich gleichsam wie ein Schleier zwischen uns und die sozialen Phänomene schieben, systematisch ausschaltet; hiervon ausgehend muss die Soziologie die Dinge, die sie thematisiert, gewissermaßen objektiv definieren, d. h. »nicht nach einer bestimmten Auffassung, sondern nach den ihnen innewohnenden Eigenschaften« (ebd.: 131). Deutlich distanziert sich Durkheim von einer instrumentalistischen Auffassung, der zufolge wissenschaftliche Begriffe nicht unabhängige Gegenstände referieren, sondern mehr oder weniger nützliche Denkwerkzeuge darstellen. Die Soziologie, so heißt es bei ihm, »benötigt Begriffe, die die Dinge adäquat zum Ausdruck bringen, so wie sie sind, und nicht so, wie sie für die Praxis nützlich wären« (ebd.: 138).
Ausgehend von diesen Äußerungen haben verschiedene Interpreten die Schlussfolgerung gezogen, dass Durkheim die Position eines soziologischen Realismus vertritt, gelegentlich wird er stärker noch mit einer abbildrealistischen Auffassung in Verbindung gebracht. Deshalb gilt es darauf hinzuweisen, dass sich bei Durkheim auch abweichende Äußerungen finden lassen, in denen er stärker den konstruktiven Eigenanteil des Erkennens betont; überhaupt gilt zu beachten, dass er sich, was hier allerdings nur angedeutet werden kann, vielfach zustimmend auf die Philosophie von Kant bezieht. Zudem können auch die zuvor referierten Äußerungen Durkheims, jedenfalls zum Teil, mehr oder weniger konstruktivistisch – sprich: instrumentalistisch – reinterpretiert werden. Danach gibt der französische Soziologe, wenn er etwa von der Dinghaftigkeit sozialer Phänomene spricht, keine Auskunft über deren ontologischen Status, sondern formuliert lediglich die methodische Regel, dass sich soziale Tatbestände wie unabhängige Dinge behandeln lassen (was eben nicht besagt, dass sie auch derartige Dinge sind). Diejenigen, die Durkheim dann doch dem realistischen Theorielager zuordnen, können sich freilich auf die Beobachtung stützen, dass er in gewisser Weise Überlegungen vorwegnimmt, die in späteren Debatten von expliziten Befürwortern des Realismus formuliert werden. Zu nennen wäre etwa Roy Bhaskars (1998) Version eines kritischen Realismus, bei der zwischen verschiedenen Wirklichkeitsdimensionen unterschieden wird. Sozialwissenschaftliche Theorien, die aktuelle Ereignisse erklären, sind gut beraten, so Bhaskar, neben empirischen Regelmäßigkeiten auch tiefer liegende Mechanismen und Strukturen zu berücksichtigen, die ebenso ›wirklich‹ sind wie die direkt messbaren Erscheinungen an der Oberfläche. In anderen Kontexten ist auch von einem wissenschaftlichen Realismus die Rede: ›Theoretischen Entitäten‹, die zwar nicht unmittelbar beobachtet werden können, deren Existenz jedoch theoretisch erschlossen werden kann, kommt demzufolge ebenso wie direkt wahrnehmbaren Einheiten der Status beobachtungsunabhängiger Dinge zu.