Kitabı oku: «Identitätskonzepte in der Literatur», sayfa 2
Dass Strobls Texte sich für aktuelle Interpretationsansätze – etwa anhand des Theorieensembles von Judith Butler – eignen, wurde bereits nachgewiesen.14 So scheint es auch lohnenswert, den Fokus von der im Fenriswolf explizit behandelten Modellierung von Künstleridentitäten hinsichtlich allgemeiner Identitätsbildungsmodelle zu erweitern und zu fragen, ob die narratologisch auratisierten Lebenswege der Modellautoren nicht als itinerative Re-inszenierungen gelesen werden könnten, somit ein respektables Spektrum maskuliner role-models zur Zeit der Jahrhundertwende abgeben würden.15 Das sei aber einer anderen Studie vorbehalten. Aber schon jetzt gilt: Staubmilben aller regionalen Literaturen, hütet euch!
Schriftstellerische Identitätsentwürfe im mehrsprachigen Luxemburger Literatursystem der 1960er bis 1980er Jahre1
Fabienne Gilbertz, Luxemburg
Mehrsprachigkeit ist nicht erst seit den Zeiten der Globalisierung ein wesentliches Merkmal vieler Literatursysteme; weltweit sind literarische Systeme durch ein Neben- und Miteinander verschiedener Sprachen geprägt. Das Luxemburger Literatursystem ist keine Ausnahme: Seit seiner Entstehung sind Deutsch, Französisch und Luxemburgisch die am meisten verwendeten Literatursprachen.2 Dabei ist der Sprachgebrauch jedoch nicht, wie in Belgien, der Schweiz oder anderen mehrsprachigen Literatursystemen Europas, an bestimmte Regionen oder Sprachgemeinschaften gebunden. Daraus ergibt sich nicht nur die wesentliche Frage, ob es sich um mehrere Luxemburger Literaturen oder um eine Literatur in mehreren Sprachen handelt;3 die Luxemburger Schriftsteller:innen sehen sich darüber hinaus immer wieder dazu veranlasst, ihre Sprachwahl zu motivieren, ja zu rechtfertigen. In den 1980er Jahren erklärte der Autor Georges Hausemer in diesem Zusammenhang: „Die Frage nach der Wahl einer bestimmten Sprache kommt für die meisten luxemburgischen Autoren der Frage nach der Liebe gleich: warum und wieso diese und nicht jene, warum die Blonde und nicht die Brünette, wieso der Bärtige anstatt des Langhaarigen?“4 Hausemer zufolge haben jeder Autor und jede Autorin je individuelle Gründe, sich für eine und gegen eine andere Literatursprache zu entscheiden. Dieser Aspekt der literarischen Sprachwahl wird dementsprechend im vorliegenden Beitrag nicht eingehender behandelt. Im Folgenden wird vielmehr diskutiert, inwiefern sich die Sprachwahl auf die Identitätsentwürfe – oder, mit Jérôme Meizoz argumentiert, auf die textuelle und kontextuelle posture – von Luxemburger Autorinnen und Autoren auswirkt.5 Im Fokus steht dabei die Frage, ob und wie die in literarischen Texten, aber auch in Interviews, Artikeln und Briefen artikulierten Identitätsentwürfe mit der Wahl der Literatursprache zusammenhängen.
Die Mehrsprachigkeit der Luxemburger Gesellschaft, die sich im Literatursystem als einem gesellschaftlichen Teilsystem spiegelt, führt zu Reflexionen über die sozialen Funktionen und das künstlerische Potential der verschiedenen Sprachen.6 So stellt der Soziologe Fernand Fehlen ein „klares Prestigegefälle“7 zwischen der französischen und der deutschen Sprache bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein fest. Dabei kommen dem Französischen als Sprache der Bourgeoisie nicht nur symbolische Funktionen zu: Indem seine Beherrschung eine Voraussetzung für den Zugang zum höheren Dienst ist, gewinnt das Französische ganz konkrete, soziale Relevanz und wird zur Sprache der gesellschaftlichen Eliten.8 Das Deutsche hingegen ist als Alphabetisierungssprache die am besten beherrschte Schriftsprache für einen Großteil der Luxemburger:innen, während das Luxemburgische lange Zeit vor allem als mündliche Alltagssprache diente.9 Obwohl sich diese Konstellation in den letzten Jahren verändert hat (durch eine allmähliche Aufwertung des Luxemburgischen als Schriftsprache, aber auch durch eine stärkere Präsenz des Englischen), haben die soziolinguistischen Verhältnisse einen nachhaltigen Einfluss auf die ästhetische Beurteilung der Literatursprachen: Den drei Sprachen werden je unterschiedliche ästhetische Wirkungsbereiche zugesprochen.10 So begründet der Literaturwissenschaftler Frank Wilhelm seine These, dass es sich bei der mehrsprachigen Luxemburger Literatur tatsächlich um drei verschiedene Luxemburger Literaturen handele, mit einer angeblichen Affinität zwischen Literatursprache und beschriebenem Gegenstand:
Globalement on peut dire que les littératures en langues allemande et luxembourgeoise induisent des œuvres proches du vécu de leur public, correspondant à la sensibilité générale, alors que la littérature de langue française, produite par et pour la bourgeoisie, donne des œuvres plus abstraites où le quotidien luxembourgeois est moins à l’honneur, mais où l’écrivain peut davantage s’inscrire dans l’universel ou, au contraire, cultiver ses propres lubies. La littérature de langue allemande a peut-être le mieux assimilé la réalité socioéconomique. Même si certains auteurs grand-ducaux s’expriment en deux, voire en trois langues, cela ne veut pas dire qu’ils abordent la littérature sous le même angle. Certains sujets se traitent mieux dans telle langue que dans telle autre.11
Wilhelm argumentiert, dass sich mit dem Luxemburgischen und dem Deutschen alltägliche Erlebnisse besonders gut ausdrücken ließen, während das Französische einen höheren Abstraktionsgrad ermögliche. Die Literaturwissenschaftlerin Jeanne E. Glesener hat an anderer Stelle bereits dargelegt, dass Wilhelms These als Sprachtypologie nicht haltbar ist:12 In ihrem Aufsatz The Separateness of Luxembourgish Literatures revisited erläutert Glesener, dass eine strikt getrennte Betrachtung der Literatursprachen nicht erst seit dem vermehrten Aufkommen mehrsprachiger Texte in den 2000er Jahren wenig sinnvoll erscheint, da eine solche Trennung den Blick für sprachübergreifende literarische Entwicklungen versperrt.13 Wenngleich Wilhelms Unterscheidung demnach als generelle Taxonomie nicht funktioniert, trifft sie jedoch auf bestimmte Perioden zu, beispielsweise auf die 1960er bis 1980er Jahre. Luxemburgisch wurde lange Zeit von vielen Autor:innen nicht als ernstzunehmende Literatursprache berücksichtigt; dem Literaturwissenschaftler Mars Klein zufolge wurde es „in manchen poetologischen Überlegungen […] als reines Medium für volkstümliche Unterhaltung vornehmlich in den Sparten Volkstheater und Volkspoesie“14 angesehen. Seit den 1970er Jahren – im Zuge der 68er-Bewegung – wurden jedoch vermehrt auch „sozialkritische Stoffe vom Kabarett bis zum Roman, vom Hörspiel bis zum Dokumentartheater“15 auf Luxemburgisch verhandelt. Deutsch war ab diesem Zeitpunkt zwar immer noch die zentrale, jedoch nicht mehr die einzige Sprache des literarischen Engagements, der Subversion und des Experiments. Tatsächlich waren es zumeist auch die Schriftsteller:innen, die zunächst auf Deutsch schrieben, die sich in den 1970er und 1980er Jahren der luxemburgischen Sprache zuwandten. Die französischsprachige Luxemburger Literatur dieser Zeit war hingegen von ästhetizistischen und puristischen Tendenzen bestimmt.
Diese unterschiedlichen Literaturkonzeptionen, so die These des vorliegenden Beitrags, existierten jedoch nicht nur innerhalb des Luxemburger Literatursystems, sondern können vielmehr als ein Ausdruck von Tendenzen gedeutet werden, die sich auch außerhalb des Großherzogtums in den deutsch- und französischsprachigen Literatursystemen vollzogen. Besonders sichtbar wurden diese Tendenzen anlässlich der Mondorfer Dichtertage, die zwischen 1962 und 1974 alle zwei Jahre im Luxemburger Kurort Mondorf organisiert wurden und namhafte Vertreter:innen der deutsch- und französischsprachigen Literatur zusammenbrachten.16 Jede Ausgabe der Dichtertage stand unter einem Motto, so z.B. „Kann Poesie die Welt verändern“ (1966) oder „Deutsche und französische Literatur seit 1945“ (1968). Diese Fragestellungen, die den Diskussionsrahmen definieren und den Austausch zwischen deutsch- und französischsprachigen Autor:innen anstoßen sollten, kehrten jedoch vielmehr die grundlegenden Unterschiede zwischen den Sprachgruppen hervor. Dem Luxemburger Autor und Journalisten Henri Blaise zufolge ging es bei der Konfrontation in erster Linie „um moderne und progressive Literatur, um Engagement, um ‚neuen Wein in alten Schläuchen‘, kurz die traditionsbelastete ‚querelle des Anciens et des Modernes‘.“17 In einem Beitrag für den Deutschlandfunk fasste der deutsche Autor und Redakteur Dieter Hasselblatt seinen Eindruck, den er bei der Mondorfer Tagung 1966 von seinen französischsprachigen Kolleg:innen gewonnen hatte, folgendermaßen zusammen:
Die französischen Kollegen sind zu bewundern: daß sie sich so stark von einer Weltliteratur und deren jüngsten Entwicklungen abzukapseln vermögen, daß sie mit einem so guten Gewissen nichts zur Kenntnis nehmen als sich selbst, und daß sie nicht bemerken, wie sehr sich ihre eigene Gegenwartsliteratur […] um anderthalb literarische Epochen verspätet. Symbolismus, nichts anderes als was Mallarmé gemacht hat, und wenn die Frage der Veränderung der Welt durch die Literatur diskutiert wurde, vermochten die französischen Schriftsteller und Kritiker sich mit der schönen Gebärde eines selbstsicheren Eskapismus auf die Devise zurückzuziehen „der Schriftsteller wohne zuallererst nicht in der realen Welt, sondern in einer ‚Monde des Mots‘, in einer Welt der Worte.“18
Den Luxemburger Kommentator:innen zufolge vertraten die meisten der anwesenden französischsprachigen Autor:innen eine ästhetizistische Literaturkonzeption, während ihre deutschsprachigen Kolleg:innen eine gesellschaftskritische, engagierte Kunst forderten. Der Luxemburger Germanist Alain Weins spricht rückblickend von einem in Mondorf zutage tretenden „interkulturellen Mißverständnis“,19 und dem Schweizer Schriftsteller Urs Widmer zufolge passten die französisch- und deutschsprachigen Autor:innen so gut zusammen „wie Pfeffer und Schlagsahne“.20 Es sei jedoch darauf hingewiesen, dass sich diese Aussagen in erster Linie auf die Mondorfer Gäste bezogen; es handelt sich um Eindrücke, die anlässlich der Dichtertage entstanden und generelle Tendenzen widerspiegelten. Natürlich existierte damals auch im französischsprachigen Raum die Idee einer engagierten Literatur – man denke nur an Sartre. Diese in Mondorf sichtbar gewordenen Unterschiede zwischen den Sprachgruppen sind für die Beschreibung des Luxemburger Literatursystems in den 1960er und 1970er Jahren insofern relevant, als auch in Luxemburg ein Antagonismus zwischen Deutsch und Französisch schreibenden Autor:innen bestand.21 Wie bereits erwähnt, gilt in der Tat auch für den Luxemburger Kontext, dass die Deutsch schreibenden Autor:innen eine gesellschaftspolitisch engagierte Literatur vertraten, während ihre Französisch schreibenden Kolleg:innen sich kaum politisch äußerten. Es liegt nahe, das jeweilige Literaturverständnis durch eine Orientierung der Luxemburger:innen an deutsch- bzw. französischsprachigen Vorbildern zu erklären. Darüber hinaus ist es jedoch interessant, dass sich die Luxemburger Autor:innen je nach Literatursprache unterschiedlich zu ihren ausländischen Vorbildern positionierten: Während viele Französisch schreibende Luxemburger Autor:innen eine größtmögliche Nähe zu ihren französischen und belgischen Kolleg:innen suchten – bis hin zu einer Negierung der eigenen nationalen Identität –, war es den meisten Deutsch schreibenden Luxemburger Autor:innen ein Anliegen, im engen Kontakt mit dem deutschsprachigen Ausland ihre Luxemburger Identität zu betonen. Dieser Unterschied im Verhältnis zur eigenen nationalen Identität sowie zur gewählten Schriftsprache äußerte sich auf mehreren Ebenen, die im Folgenden kurz skizziert werden.
In den 1960er und 1970er Jahren thematisierten viele Deutsch schreibende Luxemburger Autor:innen das Land und den Literaturort Luxemburg mehr oder weniger explizit in ihren Texten. Beispielhaft sei Roger Manderscheid genannt, der sich in seinem Frühwerk, von den frühen 1960ern bis zur Mitte der 1980er Jahre, an Luxemburg, seiner Enge und Mentalität abarbeitete und einen spezifischen Begriff des Provinziellen entwickelte. Besonders augenscheinlich wird dies in seinem 1973 erschienenen, ersten Roman die dromedare. stilleben für johann den blinden und dem Drehbuch stille tage in luxemburg, das er im selben Jahr für einen deutschen Fernsehsender schrieb und das aufgrund seines kritischen Blicks auf Luxemburg und seine Einwohner einen kleinen Skandal auslöste.22 Im Kontrast dazu stand die damalige französischsprachige Luxemburger Literatur, in der das Großherzogtum als Ort kaum eine Rolle spielte. Frank Wilhelms These, dass die französischsprachige Literatur Werke produziere, „où le quotidien luxembourgeois est moins à l’honneur“,23 kann für die 1960er Jahre demnach bestätigt werden. In diesem Sinne hielt Michel Raus, einer der prominentesten Literaturkritiker der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, für die damalige französischsprachige Luxemburger Literatur etwas überspitzt fest: „dem französischen Schriftsteller aus Luxemburg geht es vor allen Dingen um formal-ästhetische Perfektion. […] Französische Schreiber sind strenggenommen keine Dichter oder Romanciers oder Dramatiker, es sind ‚hommes de lettres‘, Essayisten, Verfechter von Ideen und Idealen“.24 Mars Klein zufolge versuchten die damaligen frankophonen Luxemburger Autor:innen „unbelastet von jeder zu direkten sprachlich-emotionalen Eingebundenheit in die nationalen Luxemburger Verhältnisse, […] ihren kosmopolitischen Beitrag zur internationalen Francité zu schreiben“.25 Als Beispiel für die 1960er Jahre nennt er den Dichter und Dramatiker Edmond Dune, auf den an späterer Stelle noch zurückzukommen sein wird.26
Das unterschiedliche Verhältnis zur eigenen Luxemburger Herkunft spiegelte sich auch in der Handhabung der gebrauchten Literatursprache. Die französischsprachige Luxemburger Literatur der 1960er und 1970er Jahre war, wie bereits angedeutet, von sprachpuristischen Tendenzen geprägt. Eine besonders prominente Figur des damaligen Literatursystems war Marcel Noppeney, Autor und Präsident der Société des écrivains luxembourgeois de langue française (SELF). Als solcher setzte er sich nicht nur für die Förderung Französisch schreibender Autor:innen ein, sondern führte einen regelrechten Kulturkampf gegen jegliche germanophilen Tendenzen. Dieser Kulturkampf war in erster Linie durch das in den 1960er Jahren noch sehr präsente Erlebnis der zwei Weltkriege bedingt (Noppeney selbst wurde mehrmals von deutschen Truppen festgenommen und zum Tode verurteilt). Durch die Propagierung des Französischen, so die Autorin Rosemarie Kieffer, sollte die Luxemburger Identität gegen den deutschen Nachbarn verteidigt werden:
L’argument essentiel de ceux qui entendaient encourager et propager l’écriture de langue française chez nous, était vraiment de taille. L’emploi du français, affirmaient-ils, nous permettait de conserver et de consolider nos qualités proprement luxembourgeoises, et cela en face d’un voisin puissant et dangereux qui menaçait de nous détruire.27
Mars Klein argumentiert in diesem Kontext, dass Noppeney und dessen Französisch schreibende Kolleg:innen durch „die relative sprachliche Distanz des Französischen zum sprachlichen Alltag – Luxemburg ist ja ‚un faux pays francophone‘, Luxemburg ist richtiger ‚un pays francographe‘ oder besser noch ‚entre autre francographe‘“ zur Überzeugung gebracht worden seien, „in einer schwierigen sprachlichen Diaspora zu schreiben und – über den Weg der (phasenweise übertriebenen) Frankophilie – die räumliche und ideelle Distanz zu Frankreich überbrücken zu müssen.“28 Diese Frankophilie äußerte sich nicht zuletzt in einem Sprachpurismus, der vor allem in den Pages de la S.E.L.F. gepflegt wurde. In dieser Zeitschrift publizierte Marcel Noppeney die Rubrik Complexe d’Ésope, in der er seine Landsleute für den falschen Gebrauch von französischen Wörtern und Redewendungen kritisierte, ja bisweilen lächerlich machte. Diese Kritik verstand Noppeney als „intervention […] qui m’est dictée par le respect que Voltaire recommande d’avoir pour cette grande dame qu’est la langue française“.29 Das Verhältnis der Deutsch schreibenden Luxemburger Autor:innen zu ihrer Literatursprache gestaltete sich anders. Wenngleich auch sie sich um eine möglichst fehlerfreie Beherrschung des Deutschen bemühten, ließen sie jedoch auch Raum für einen eigenen, freien Umgang mit der Sprache. Anise Koltz, eine der bedeutendsten Luxemburger Lyrikerinnen des 20. Jahrhunderts und Organisatorin der Mondorfer Dichtertage, betonte viele Jahre später, dass Luxemburger Autor:innen „sowohl im Deutschen als auch im Französischen Worte zusammen[setzten], die ein Muttersprachler nie zusammensetzen würde“30 und dass dieses besondere Verhältnis zur Literatursprache zu einer gewissen Originalität führen könnte. Diese Ansicht vertrat auch Dieter Hasselblatt, als er anlässlich der Mondorfer Dichtertage 1966 über ein Hörspiel von Roger Manderscheid urteilte, „daß hier jemand in deutscher sprache etwas gesagt habe, was ein deutscher auf deutsch gar nicht hätte sagen können“31. Laut Hasselblatt bedienten sich die Deutsch schreibenden Luxemburger Autor:innen zwar der deutschen Sprache, doch sie könnten mit dieser anders, vielleicht freier umgehen als die Deutschen selbst.32 Während die frankophonen Luxemburger Autor:innen also durch ihren Sprachpurismus eine größtmögliche Nähe, ja eine Identität mit der französischen Literatur anstrebten, waren die Deutsch schreibenden Luxemburger Autor:innen eher daran interessiert, sich an dem engagierten Literaturverständnis ihrer ausländischen Kolleg:innen zu orientieren, dieses aber kreativ für die eigenen Bedürfnisse im Luxemburger Literatursystem umzusetzen.
Schließlich thematisierten einige Luxemburger Schriftsteller:innen ihr persönliches Verhältnis zu ihrer Luxemburger Nationalität und zur Literatursprache auch ganz direkt. Als Beispiele können hier die Autoren Edmond Dune für die französischsprachige und Georges Hausemer für die deutschsprachige Luxemburger Literatur dienen. Der Lyriker und Dramatiker Edmond Dune war als Sohn eines Luxemburgers und einer Belgierin Luxemburger Staatsbürger und nahm auch aktiv am Luxemburger Literaturleben teil, indem er beispielsweise die Mondorfer Dichtertage mitorganisierte und in Luxemburger Zeitschriften publizierte. Dennoch pflegte Dune ein sehr distanziertes Verhältnis zu Luxemburg und seiner Literatur. So liest man in einem Brief, den Dune in den 1960er Jahren an seinen französischen Freund Jean Vodaine schrieb: „Je ne veux pas qu’on me traite de poète luxembourgeois! Tu devrais le savoir depuis le temps que tu me fréquentes.“33 Tatsächlich erwähnte Dune seine Staatsbürgerschaft fast nie, in Anthologien wurden seine Gedichte zum Teil unter der Rubrik „poètes français“ publiziert – und dies war auch genau das, was er anstrebte: in einer Reihe mit französischen Autoren zu stehen. Dune negierte aber nicht nur seine eigene Beziehung zum Großherzogtum, sondern darüber hinaus ganz generell die Existenz einer französischsprachigen Luxemburger Literatur. In einem Brief an seinen Luxemburger Kollegen Paul Palgen stellt Dune klar: „À mon sens, la littérature (luxembourgeoise) d’expression française n’existe pas.“34 Dune bezeichnet das Label „französischsprachige Luxemburger Literatur“ in diesem Brief als prätentiös, ja gar als Phantom. Die Idee einer spezifischen Luxemburger Literatur weist Dune kategorisch zurück. Dieser Negierung der Luxemburger Identität und dieser kompletten Identifizierung mit der Kultur Frankreichs, die durchaus auch für andere Luxemburger Autor:innen festgestellt werden kann, steht die Haltung einiger Deutsch schreibender Autor:innen gegenüber. Hier sei zunächst Roger Manderscheid genannt, der Anfang der 1980er Jahre in einem Interview über die deutschsprachige Luxemburger Literatur behauptete: „ich glaub schon daß wir als deutschschreibende Luxemburger einen eigenen, unverwechselbaren ton haben, der bis jetzt noch nicht entdeckt wurde“.35 Dass dieses Unverwechselbare auch in dem komplexen Verhältnis der Luxemburger Autor:innen zu ihren Literatursprachen begründet liegt – Literatursprachen, die damals nur selten identisch mit der luxemburgischen Muttersprache waren –, erläuterte der bereits zitierte und 2018 viel zu früh verstorbene Autor Georges Hausemer 1983 in einer Rede in Mannheim:
Demnach wandert der Luxemburger Autor, wie etwa die berühmte Katze um den heißen Brei, stetig am Rand der einen oder der anderen Weltliteratur umher, möchte eigentlich dazugehören und kann sich mit letzter Konsequenz doch nicht von der Scholle lösen, an der er zeitlebens klebt. Kann nicht und will eigentlich auch gar nicht. Wollen Sie nämlich einen deutschschreibenden Autor aus Luxemburg beleidigen, so behaupten Sie ganz einfach, er sei ein deutscher und nicht ein deutschsprachiger Schriftsteller. Diese – einige werden sagen: mimosenhafte – Einstellung hat tiefergehende Wurzeln, politische, historische Gründe, die auch meine Generation, die etwa die Mesalliance Luxemburgs mit dem Deutschen Reich nur vom Hörensagen kennt, nicht vollständig zu überwinden vermag.36
Hausemer beschreibt das Verhältnis der Luxemburger Schriftsteller:innen zur deutschen Sprache als ein zwiespältiges, als eines, das durch Nähe und Distanz zugleich bestimmt ist. Neben den historischen Gründen, die Hausemer nennt, gibt es sicherlich auch linguistische: Luxemburgisch ist – wenngleich es als eigenständige Sprache politisch anerkannt ist – ein moselfränkischer Dialekt. Diese Nähe erleichtert es vielen Luxemburger:innen, Deutsch zu erlernen und die Sprache einigermaßen gut zu beherrschen; gerade die Nähe ist es vielleicht aber auch, die eine klare Abgrenzung nötiger erscheinen lässt. Hausemer prägte in diesem Kontext den Begriff der „Stiefmuttersprache“.37 Was das Verhältnis der Französisch schreibenden Luxemburger Autor:innen zu Frankreich angeht, vermutete Hausemer in seiner Rede, dass es „in dieser ausgeglichenen Relation weniger Animositäten geben“38 dürfte. Mit Blick auf die Aussagen Edmond Dunes kann dies eigentlich nur als Euphemismus bezeichnet werden.
Eine solche Gegenüberstellung, wie sie in dem vorliegenden Beitrag vorgenommen wurde, kommt nicht ohne Verallgemeinerungen aus. Was hier beschrieben wurde, sind Tendenzen, die natürlich nicht für alle Luxemburger Autor:innen des Untersuchungszeitraums geltend gemacht werden können. Selbstverständlich gab es Ausnahmen, die nicht in das hier skizzierte Schema hineinpassen, wie die Französisch schreibenden engagierten Lyriker Phil Sarca (Jeannot Scheer) und René Welter. Darüber hinaus gab es auch damals schon Schriftsteller:innen, die mehrere Literatursprachen nutzten. Hier kann etwa die Dichterin Anise Koltz genannt werden, die auf Deutsch debütierte und sich erst ab den 1970er Jahren exklusiv der französischen Sprache widmete, ohne ihr Literaturverständnis dafür zu verändern. Dennoch sind die tendenziellen Unterschiede im Sprach- und Identitätsverständnis bei der Auseinandersetzung zwischen Deutsch und Französisch schreibenden Autor:innen der 1960er und 1980er Jahre nur allzu augenfällig. Davon ausgehend müsste das Verhältnis der Luxemburger Autor:innen zur eigenen kulturellen Identität – als Teil ihrer posture – eingehender und über einen längeren Zeitraum untersucht werden, um Veränderungen und Einschnitte beschreiben und typisieren zu können – beispielsweise aus einer komparatistischen Perspektive, im Vergleich mit anderen, kleinen und mehrsprachigen Literatursystemen Europas. Für viele junge Luxemburger Schriftsteller:innen des 21. Jahrhunderts scheinen die gewählten Schriftsprachen jedenfalls keine grundlegende Rolle mehr für ihr Literaturverständnis zu spielen. So schreibt Elise Schmitt mit Stürze aus unterschiedlichen Fallhöhen deutschsprachige Kurzgeschichten ohne direkten Luxemburg-Bezug, während Ian de Toffolis französischsprachige Dramentexte ihren soziokulturellen Entstehungsraum durchaus kritisch thematisieren (z.B. L’homme qui ne retrouvait plus son pays oder Tiamat).39 Samuel Hamen zeigt, dass auf Luxemburgisch über Luxemburg erzählt werden kann, aber nicht muss (der Roman V wéi Vreckt, W wéi Vitesse steht hier dem beim Concours littéraire national 2019 ausgezeichneten und noch unveröffentlichten Roman I.L.E. gegenüber), und Jeff Schinker beweist mit dem Prosaband Sabotage, dass man in mehreren Literatursprachen zugleich (nicht nur) über Luxemburg schreiben kann. Solche Entwicklungen deuten darauf hin, dass nicht nur die gesellschaftliche, sondern auch die literarische Mehrsprachigkeit in stetem Wandel befindlich ist, was sich in der Sprachwahl von Autor:innen ebenso zeigt wie in ihren ästhetischen Positionierungen.