Kitabı oku: «Identitätskonzepte in der Literatur», sayfa 3

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Identität oder Identitäten? Interdiskurstheoretische Überlegungen am Beispiel von Frank Goosen und der Ruhrgebietsliteratur

Rolf Parr, Duisburg-Essen

I. Ausgangsüberlegungen

Von verschiedenen identitätstheoretischen Ansätzen aus ist für die Moderne und ihre Gesellschaften konstatiert worden, dass man es in aller Regel weder für Gruppen noch für einzelne Personen mit einer einzigen Identität zu tun hat.1 Vielmehr stehen kollektive2 neben individuellen Identitäten, wobei einzelne Individuen zugleich mehrere, untereinander durchaus differierende Gruppen- und Individualidentitäten sowohl diachron als auch synchron ausbilden können. Von daher scheint die Vorstellung einer singulären, alle Lebensbereiche und Konstellationen integrierenden Identität in Zeiten zunehmend konstatierter und akzeptierter Diversität eine zu einfache Konstruktion zu sein.

Von diesem Befund ausgehend versuche ich im Folgenden zunächst vom Ort der Interdiskurstheorie aus in einem ersten Schritt ein Denkmodell der Ausbildung mehrfacher individueller und kollektiver Identitäten zu entwickeln3 und zu zeigen, wie Literatur im engeren und Mediendiskurse in einem weiteren Sinne die Ausbildung von Identitäten mal stützen, mal kritisch hinterfragen, um dann in einem zweiten Schritt die Identitätskonzepte einiger Texte der Ruhrgebietsliteratur exemplarisch zu analysieren.4 Diese stellt insofern ein besonders geeignetes Referenzobjekt dar, als das Ruhrgebiet und mit ihm die Ruhrgebietsliteratur konstitutive Merkmale von Globalisierung in der Regionalität aufweist (eine große, breit über die unterschiedlichsten sozialen und kulturellen Milieus gestreute Population, mit pluralen Lebensstilen, vielfältigen Migrationskulturen und Transnationalitäten). Die Regionalität des Ruhrgebiets und die seiner Literatur muss daher immer auch als eine Form von Globalität in der Regionalität gedacht werden, was wiederum zahlreiche sich überlagernde Identitäten mit sich bringt.

II. Identität (inter-)diskurstheoretisch denken

Lässt man die in den Geistes- und Sozialwissenschaften kursierenden theoretischen Konzepte von Identität Revue passieren, so lassen sich grob zwei Richtungen unterscheiden. Eine Gruppe von Ansätzen fasst Identität als Ergebnis kommunikativen Handelns zwischen Akteuren auf, die mal stärker als Rollenträger, mal stärker als soziale Divergenzen verhandelnde Partner konzipiert sind. Identität ist dann das Ergebnis eines komplexen Aushandlungs- und Sozialisationsprozesses.1 Demgegenüber gehen diskurstheoretisch fundierte Ansätze genau umgekehrt „von der Priorität des Diskurses und seines ‚Wir‘ gegenüber“ den „einzelnen Interakteuren“ aus.2

Als interdiskurstheoretisch arbeitender Literatur- und Kulturwissenschaftler möchte ich auf diesen zweiten Ansatz im Folgenden näher eingehen und zeigen, wie er nach solchen diskursiven Positionen fragt, die Kulturen mit den in ihnen zirkulierenden Interdiskursen bereithalten, nämlich Positionen der (durchaus affektiv besetzten) Attraktivität, denen sich Individuen assoziieren und so einen Sozialkörper mit ‚Zusammenhalt‘ – also auch mit Identitätspotenzial – bilden können. Dazu werde ich den Ansatz der Interdiskurstheorie zunächst in einigen Grundzügen vorstellen, ihn dann auf die Identitätsproblematik hin spezifizieren und nach den spezifischen Leistungen fragen, die ein solcher Zugriff auf das Phänomen ‚Identität‘ bietet.

II.1 Die horizontale Achse der Wissensspezialisierung

Wie Michel Foucaults Diskurs-, aber auch Niklas Luhmanns Systemtheorie und Reinhart Kosellecks historische Semantik geht auch die Interdiskurstheorie vom Befund zunehmender horizontal-funktionaler Arbeits- und Wissensteilung seit etwa dem Beginn der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts aus. Demnach sind moderne Gesellschaften in verschiedene, relativ autonome Wissensbereiche gegliedert, die jeweils spezifische Formen der Rede, je eigene Spezialdiskurse ausgebildet haben. Die Gesamtkultur einer modernen Gesellschaft besteht dann in ihrer horizontalen Gliederung aus dem Spektrum ihrer Spezialdiskurse, zum Beispiel naturwissenschaftlichen, human- und sozialwissenschaftlichen sowie kultur- und geisteswissenschaftlichen.

Um Verständigung über die von Foucault in den Blick genommenen Grenzen von Diskurs- und Wissensformationen hinaus zu gewährleisten, muss es jedoch auch re-integrierende Diskursformen geben, die den Zusammenhalt und das Zusammenspiel der eigentlich auseinanderdriftenden gesellschaftlichen Teilbereiche sichern. Moderne Gesellschaften und ihre jeweiligen Kulturen haben sich daher nicht nur in Spezialbereiche ausdifferenziert, sondern als kompensatorische Antwort darauf auch solche Verfahren entwickelt, die zwischen den Spezialisierungen wieder neue Verbindungen herstellen, also gleichsam Brücken schlagen.

Zu dieser Art von verbindenden, inter-diskursiven Elementen1 gehören alle Formen von Analogien, Metaphern und Symbolen, aber auch Mythen und Stereotype (einschließlich Klischees) sowie unterhalb der Ebene ganzer Erzählungen angesiedelte, wiederkehrende Narrative, wie sie bereits im Alltag (als einem solchen nicht-speziellen Lebensbereich) und dann gehäuft in der Literatur und auch den verschiedenen (Massen‑)Medien anzutreffen sind. In ihrer Gesamtheit bilden sie den allgemeinen Artikulationsrahmen des Diskurssystems einer Kultur. Ganze Interdiskurse (verstanden als Summe solcher Verfahren) stellen von daher eine Art Reservoir von Anschauungsformen bereit, auf das mit Notwendigkeit zurückgegriffen wird, wenn es gilt, Verständigung über die Grenzen der Spezialdiskurse hinweg zu erzielen. Mittels dieser Ensembles von Anschauungsformen können – dadurch, dass sie kohärent verwendet werden – in konkreten Kontexten nun durchaus verschiedene diskursive Positionen artikuliert werden.

Die Gesamtheit der interdiskursiven Verfahren ließe sich dann als die integrierende Kultur einer Gesellschaft beziehungsweise einer regionalen oder auch lokalen Community verstehen. Das, was den immer wieder thematisierten Zusammenhang einer Kultur eigentlich ausmacht, wird vom Ort der Interdiskurstheorie aus damit materiell greifbar, nämlich als Summe derjenigen Brückenschläge, die „die praktisch geteilte Arbeit“ und Gesellschaft „imaginär in Lebenstotalität“2 verwandeln, eine Totalität, die man dann wiederum als jenen kulturellen Zusammenhang erleben kann, der eben auch als Angebot zum ‚Andocken‘ und damit zur Ausbildung von Identitäten dient. Dabei kann es natürlich nicht um vollständige Integration aller gesellschaftlichen Teilbereiche und aller menschlichen Fähigkeiten gehen, wie sie beispielsweise Friedrich Schiller in seinen Briefen Über die ästhetische Erziehung des Menschen3 entworfen hat, sondern nur um einzelne, in der Regel fragmentarisch bleibende Brückenschläge. Sie sind vor allem im Alltagswissen, in den modernen Medieninterdiskursen und nicht zuletzt auch in der Literatur zu finden.4

Doch wie sieht der Prozess des ‚Sich-Andockens‘ von empirischen Individuen an interdiskursive Positionen als eine Form von Identitätsbildung genau aus? Für die empirischen Subjekte stellen Interdiskurse und die mit ihnen eingenommenen Positionen Angebote zur Assoziation bereit, das heißt zur Ausbildung von mal eher kurzzeitig gültigen, mal langdauerstabil bestehenden individuellen oder kollektiven Identitäten. Eine solche Assoziation, oder ein solcher Sozius, kommt dadurch zustande, dass Individuen sich an die für sie attraktiven Positionen innerhalb des Diskurssystems der jeweiligen Kultur ankoppeln. Die Einheit oder Identität eines solchen Sozius ist also nichts anderes als eine diskursive (semiotische und vor allem sprachliche) Einheit, durch die Einzelindividuen auf jeweils verschiedene Weise zu ebenso verschiedenen Assoziationen, das heißt ebenso verschiedenen Sozialkörpern zusammengeschlossen werden; und sie ist nicht zuletzt eine, die zeigt, wie Identität aus Interdiskursen und ihren Elementen entsteht.5

Das bedeutet aber auch, dass historisch wechselnden Diskurssystemen auch wechselnde individuelle und kollektive Subjektivitätstypen entsprechen, das heißt wechselnde ‚Ich‘- und ‚Wir‘-Subjekte mit entsprechend wechselnden Identitäten. Dem Prozess des Sich-Ankoppelns, der Bildung einer Assoziation würde dann ein Sozialkörper, ein Sozius, entsprechen, für den es keine im Vorhinein schon bestehende Identitätssubstanz gibt und Identität auch nicht zwischen Interakteuren allererst ausgehandelt werden muss.

Um diesen Vorgang etwas anschaulicher zu machen, kann man sich das Funktionieren des Diskurssystems am besten, wie Jürgen Link es vorgeschlagen hat, als eine Maschine zur Reproduktion von Diskursen und der in und mit ihnen eingenommenen diskursiven Positionen vorstellen, als eine Maschine, „die zunächst einmal unabhängig von bestimmten, individuellen Interakteuren ‚laufen‘ kann“. Diese Maschine ‚Diskurssystem‘ hält nun in Form der angebotenen diskursiven Positionen attraktive Schnittstellen für Individuen bereit. Dabei sind die einzelnen Individuen durchaus austauschbar, denn ihre ‚Eignung‘ resultiert nicht aus ihren mitgebrachten Charaktereigenschaften, sondern aus dem „Grad der Kompatibilität ihrer sprachlichen, diskursiven und subjektiven […] ‚Sozialisation‘“ mit der jeweiligen Diskursposition. „Dieser empirische Vorgang des austauschbaren ‚Eintretens‘ verschiedener und wechselnder Individuen in analoge vom Diskurs parat gehaltene Positionen ist nichts anderes als der empirische Prozess der Subjektbildung als ‚Wir‘-Bildung“, also derjenige der Identitätsbildung.6 Die diskursiven Positionen und die Elemente, die sie ausmachen, sichern die dafür nötige Kohäsion, das heißt, wir haben es in die eine Richtung gedacht mit einem Prozess der Ver-Subjektivierung von Diskurselementen und -positionen zu tun, in der anderen Richtung mit dem Andocken an diskursive Positionen.

Noch einmal sei betont: Es besteht keine Vorgängigkeit der Subjekte, „vielmehr bilden sich konkrete Subjekte […] in den ‚Hohlformen‘ allererst heraus, die der Diskurs für Subjekte ‚anbietet‘“.7 Wer also nach ‚Identität‘ fragt, ist gut beraten, sich mit diesen ‚Hohlformen‘, also den Interdiskursen der betreffenden Kultur, zu beschäftigen.

Aus einer soziologischen Perspektive sieht auch Heike Delitz Identitäten als kulturell erzeugte Gegenstände an, als

Imagination, die nur mittels vielfältiger symbolischer oder kultureller Artefakte und ihrer Bedeutungen stabilisiert wird. In diesen wird sie genauer gesagt überhaupt erst sichtbar und teilbar. Sie ist kulturell erzeugt. Die Existenz des Kollektivs ebenso wie auf das Kollektiv bezogene Artefakte basieren auf symbolischen Verkörperungen. Diese drücken also das Kollektiv und dessen Identität nicht einfach nur noch aus. Kultur ist konstitutiv. Das Kulturelle ist der Modus einer jeden kollektiven Existenz.8

Nun sind moderne Gesellschaften jedoch nicht nur durch Wissensteilung (in Spezialdiskurse), sondern auch durch Macht(ver)teilung gekennzeichnet, zum Beispiel in Form von Klassen, Schichten oder Normalitäten. „Deshalb entwickeln […] sich in ihnen“ neben den assoziativen auch „dissoziierende Tendenzen“, viele kleine Sub-Assoziationen, die zur Identitätsdiffusion führen können.9 Solche Tendenzen des Auseinanderdriftens „werden entweder erfolgreich unterdrückt“ oder führen zu Friktionen und eventuell sogar Spaltungen der ursprünglichen Assoziation, was in ein unverbundenes Nebeneinander oder auch ernsthaftere soziale Konflikte münden kann.

Hinzu kommt noch eine zweite Verwerfung: Moderne Gesellschaften „tendieren zur ‚Atomisierung‘ (Isolierung und ‚Autonomie‘) ihrer Individuen“. Das führt einerseits zu einer gewissen „Dominanz der Ich-Subjektivität über die kollektive Wir-Subjektivität“, was dann wiederum kompensierende Tendenzen verstärkter Assoziation auf den Plan ruft.10

II.2 Was leistet der Ansatz?

Was kann der skizzierte interdiskurstheoretische Zugriff nun leisten? Er erlaubt es, Identität in zwei Dimensionen zu denken, die sonst eher je separat behandelt werden, nämlich erstens derjenigen der horizontalen Wissensteilung und zweitens derjenigen der vertikalen Machtteilung. Damit gibt der Ansatz eine spezifische Antwort auf die Frage, wie in modernen Gesellschaften Identität entsteht, wobei er es erlaubt, mehrere kollektive und individuelle Identitäten zugleich anzunehmen. Damit kann er das Nebeneinander der (vielen) Assoziationen und Sozialkörper, denen ein empirisches Subjekt angehören kann, und zugleich von Friktionen zwischen ihnen denken.

Der von der Interdiskurstheorie angebotene Identitätsbegriff ist von daher ein offener, der Vielfalt zeitlich parallel und ebenso im historischen Wandel zu verorten erlaubt. Weiter liegt ein wichtiges Potenzial des Ansatzes darin, einen integrierenden Zugriff auf Texte und Dokumente ganz verschiedener Provenienz zu ermöglichen. Kunstliterarische Texte, Alltagsrede, politische Verlautbarungen, Selbst- und Fremdzuschreibungen im Rahmen von Nationen-, Regionen- und Europabildern, historisches und aktuelles Material werden über die Analyse der verwendeten Interdiskurselemente aufeinander beziehbar und damit ein Stück weit auch die verschiedenen Prozesse der Identitätskonstruktion.

III. Identitäten in der Ruhrgebietsliteratur

Literatur nun – und damit komme ich zu den konkreten Texten aus dem Ruhrgebiet – macht als hochgradig interdiskursiver Spezialdiskurs in vielfältiger Weise Angebote zur Ausbildung von Identitäten; dies insbesondere dann, wenn ganze Cluster von interdiskursiven Elementen aus dem Alltag oder aus mediopolitischen Zusammenhängen aufgegriffen, weiterverarbeitet und dabei vielleicht sogar kohärent gewertet werden, sodass diskursive Positionen entstehen, denen sich individuelle wie kollektive Subjektivitäten wiederum assoziieren können.

Wie das in einem konkreten Fall aussieht, möchte ich am Beispiel einiger neuerer Texte von Frank Goosen zeigen, die zwischen 2008 und 2012, also rund um das Kulturhauptstadtjahr 2010 („Essen für das Ruhrgebiet“), entstanden sind und damit in einer Zeit, in der Identitätskonstruktionen im Ruhrgebiet Hochkonjunktur hatten. Zu diesen Texten, die sich als eine Art von ‚neuer Heimatliteratur‘ charakterisieren lassen, gehören vor allem die Bände Radio Heimat. Geschichten von zuhause aus dem Jahr 2010, der kurze Reviergeschichten versammelt, der Band Weil Samstag ist. Fußballgeschichten aus 2008 sowie der Roman Sommerfest von 2012, dessen Titel zugleich auf das Kulturhauptstadtjahr wie auch das fußballerische Sommermärchen von 2006 anspielt.1 Diese Texte sind geradezu darauf angelegt, Schnittstellen, das heißt attraktive Diskurselemente für die Ausbildung von Ruhrgebiets-Identitäten (solchen, die das gesamte Revier umfassen, aber auch solchen, die sich nur auf eine einzelne Stadt, wie Bochum, beziehen) anzubieten und solche diskursiven Identitätsmarker bisweilen geradezu zu akkumulieren. Eine der Erzählungen aus Radio Heimat etwa beginnt so:

Wenn ich nicht mehr weiterweiß, fahre ich in Bochum die Alleestraße stadtauswärts, biege, vorbei an dem Gelände „City West“, wo auch die Jahrhunderthalle steht, oben am Hochhaus der Kruppverwaltung links in die Kohlenstraße, dann, vorbei an den Resten des ehemaligen Heusnerviertels, wieder rechts, wo sich neben dem Ascheplatz des SV Germania die Kleingartenanlage Engelsburg e. V. erstreckt.2

Und an anderer Stelle heißt es:

Das Ruhrgebiet hat viele Vorteile: Es gibt hier keinen FC Bayern, auf je hundert Einwohner kommen mindestens zwanzig Frittenschmieden, und auch wenn der Schrebergarten und die Currywurst in Berlin erfunden wurden, ist die Benutzung des einen und der Verzehr der zweiten in dieser Gegend zum selbstverständlichen Bestandteil der Hochkultur geworden.

Das größte Plus für die Lebensqualität […] ist jedoch die „Trinkhalle“ oder „Selterbude“, kurz: die Bude […].3

Den äußeren, geographischen Rahmen dafür bilden bei Goosen „herkunfts- und heimatorientierte Regionalitätsvorstellungen“,4 mittels derer ein Kern-Ruhrgebiet zwischen Duisburg und Dortmund als Heimat konstituiert wird, und zwar zunächst einmal durch Abgrenzung nach außen: „Südlich von Hattingen ist für mich Tirol, nördlich von Recklinghausen Dänemark, östlich von Unna beginnt für mich Sibirien und westlich von Duisburg ist die Welt zu Ende und alle fallen ins Urmeer.“5

Was hier auf engstem Raum als übrig bleibendes Territorium eine ‚Heimat-Mitte Ruhrgebiet‘ konstituiert, das entfaltet der Roman Sommerfest als Rückblick auf das eigene, mit Ruhrgebietsspezifika angereicherte ‚coming of age‘ zugleich als ‚my generation‘ wie auch als ‚my region‘, nämlich als eine Heimat, der gegenüber München und Bayern zur entferntesten Peripherie werden, gleichauf mit New York, Mettmann, Duisburg und Krefeld: „‚Krefeld, Duisburg, alles eine Soße.‘“6 Bereits von der Grundanlage der Texte her sind damit regionale, lokale und generationsspezifische Angebote zur Subjektbildung und mit ihr zum Anschluss an die eine oder andere diskursive Position offen gehalten.

Diese geographische Eingrenzung des Territoriums für die Ausbildung einer positiv auf das Ruhrgebiet bezogenen Identität (Heimat) wird in den Texten von Goosen zudem historisiert. So ist die polnische Abstammung von Ruhrgebietsbewohnern als ein auf frühere Zeiten rekurrierendes Residualnarrativ bei Goosen geradezu Ausweis eines auf mindestens drei Ruhrgebietsgenerationen zurückblicken könnenden und damit regional-kulturell gefestigten ‚Bergmannsadels‘. Wilhelm Amann hat daher konstatiert, dass „die Vorstellung von der Ruhrgebietsregion […] bei Goosen […] eng an die Vorstellung von Herkunft gekoppelt“ ist.7 Eine der Episoden aus Radio Heimat zeigt förmlich auf, wie der daraus resultierende Attraktivitätsfaktor einer ‚polnischen Bergmannsgenealogie‘ erfüllt werden kann, um sich der Ruhrgebietsidentität assoziieren zu können:

Das Ruhrgebiet ist ja immer auch ein Schmelztiegel unterschiedlichster Nationalitäten gewesen. Dem Klischee nach stammen wir ja alle von polnischen Püttadligen ab. Dass das dem Namen nach in meiner Familie nicht der Fall zu sein scheint (klingt mehr nach Benelux), muss mein Vater als Manko empfunden haben, weshalb er sich meiner Mutter in der Tanzschule Bobby Linden 1964 als ‚Goosenowski‘ vorstellte […].8

Der fälschlich für belgisch, niederländisch oder luxemburgisch haltbare Nachname „Goosen“, der de facto polnischer Herkunft ist, wird zu „Goosenowski“ erweitert, um jeden Anflug von Nicht-Zugehörigkeit zu kompensieren, und zwar schon in der Generation der Eltern, womit zugleich wieder die historische Kontinuität der Ruhrgebietsidentität reproduziert wird. Daraus erklärt sich dann auch, dass eine der in fast allen Texten von Goosen vorkommenden Figuren die der Oma (auf Ruhrdeutsch ‚Omma‘) ist, denn sie ist es, welche die diachrone Spanne von drei Generationen und mit ihr Kontinuität, also ‚Püttadel‘, verbürgt, ohne dass größerer narrativer Aufwand betrieben werden müsste. Von daher verwundert es nicht, dass im Falle von Sommerfest die Widmung im Buch „Für Omma“9 lautet.

Am Beispiel der ‚Omma‘ lässt sich zudem zeigen, dass auch die Applikation solcher in der Literatur parat gehaltener Diskursparzellen in reale Lebenszusammenhänge funktioniert. Als nämlich Bettina Böttinger in ihrer WDR-Sendung Böttingers Bücher vom 10. Juli 2017 Frank Goosen in dessen Haus besuchte, nutzte dieser den diskursiven ‚Omma‘-Effekt ganz gezielt und machte die Moderatorin zunächst einmal mit seiner Großmutter bekannt, die gleichermaßen als ‚Kronzeugin‘ der Karriere des Autors wie auch seiner Verankerung in der Heimat Ruhrgebiet fungierte; es folgten Goosens Fußballkeller und ein Besuch bei der Wirtin in seiner Stammkneipe. Titel der Sendung: Durch die Heimat.10 Auch in Weil Samstag ist wird nahezu jede dafür geeignete Erzählepisode oder Anekdote mit ‚Omma‘ und/oder ‚Oppa‘ verbunden, sodass auch Fußball eng mit der Ruhrgebietsgenealogie verknüpft wird: „[…] meine Omma löste während der Spiele Kreuzworträtsel – was meinen Oppa immer wahnsinnig machte. […] / ‚Guck doch dahin!‘ / ‚Interessiert mich doch nicht!‘ / ‚Guck trotzdem hin!‘.“11

Für die mit den beiden ersten Verfahren geographisch und historisch konstituierte Ruhrgebietsheimat steht bei Goosen auch das Ruhrdeutsch mit seinen – im Text durch Kursivierung hervorgehobenen – transkulturellen Anverwandlungen von Lehnwörtern wie „Schangsen“, „Pafföng“, „Grateng“, „Restorang“12 und „Expresso“.13 „Das sind“, wie es bei Goosen heißt, „so Heimat-Wörter, wie es auch Heimat-Zeitformen gibt, und die typische Heimat-Zeitform in dieser Gegend ist immer das Plusquamperfekt gewesen: Da war ich drinne gewesen. Kannze vergessen“.14 Benutzt werden diese Wörter in Sommerfest von den für ‚ruhrgebietswürdig‘ und damit für die Ruhrgebietsidentität als assoziationsfähig erachteten Figuren.

Schließlich sind ruhrgebietsspezifische Orte, Einrichtungen und Gebäude Attraktoren der Assoziation und damit der Ausbildung von Identitäten. Dazu gehören das Zechenreihenhaus, in dem die Familie seit mehreren Generationen wohnt, der lokale Bolzplatz, auf dem man schon als Junge gespielt hat, der Schrebergarten mit der Gartenlaube, in der man den ersten Sex hatte, und die Trinkhalle, im Ruhrgebietsjargon schlicht ‚Bude‘ genannt. Mit solchen Regionalitäts- und Identifikationsmarkern reichlich ausgerüstet, können die Texte Goosens als Versuche einer – mit Deleuze / Guattari gesprochen – Re-Territorialisierung15 in Form der Konstitution einer für ruhrgebietsspezifisch angesehenen Heimatliteratur verstanden werden, bei der das Reihenhaus als „eingemauerte Parzelle auf der Erde“ der Region fungiert und der „Fesselung einer identischen Familie an ein Territorium über Generationen“16 hinweg dient.

Um alle diese diskursiven Schnittstellen bzw. Attraktoren in eine kohärente Narration überführen zu können, werden sie im Roman Sommerfest mit den Charakteren der auftretenden Figuren verkoppelt; vor allem mit der Figur des Protagonisten, der das Ruhrgebiet verlassen hat und jetzt noch einmal ins Revier zurückkehrt. Thematisch ist der Roman damit am Narrativ der Rückkehr des verlorenen Sohnes und der damit verknüpften Aufhebung der Dissoziation der Kernfamilie orientiert. Bei Goosen kommt dieser Sohn namens Stefan Zöllner aus München, wo er „mit mäßigem Erfolg als Schauspieler tätig“ und mit einer ihm fremd gewordenen Frau „aus diesen Kreisen liiert ist“. Er „kehrt im Sommer 2010 in seine Ruhrgebietsheimat zurück, um nach dem Tod des Onkels“ schnell das Elternhaus zu verkaufen, ein typisches Ruhrgebiets-Reihenhaus.17

Dazu kommt es jedoch nicht. Denn territorial und auch kulturell wieder eingebunden in die alte Heimat, den alten Freundeskreis und zudem neu verliebt in die alte Freundin, rücken München und die dortige Partnerin immer weiter in den Hintergrund und haben letztlich gegen die Heimat ‚Ruhrgebiet‘ in Kopplung mit der neuen alten Liebe keine Chance. In München aus der regionalen Sicht der alten Freunde gleichsam entfremdet lebend, lernt Stefan noch einmal neu, ein Ruhrgebietler zu sein, reflektiert den Sprachgebrauch und schließt sich peu à peu wieder den – von Autor Goosen als eigentlichen Gegenstand seines Romans gepflegten – regionalen Identitätsmarkern (Gartenlaube, Bude, Fußballverein und -platz) an. Das Ganze gipfelt im pseudo-dramatischen Sprung aus dem fast schon nach München fahrenden Zug, also der nicht nur symbolischen Entscheidung für das Ruhrgebiet.

Auf diese Weise spielen die Figuren bei Goosen den Prozess der Assoziation an eine (für sie) attraktive Diskursschnittstelle mit Namen Ruhrgebiet sowie denjenigen der Ausbildung der damit verknüpften Ruhrgebietsidentität durch, einen Prozess, den die Leserinnen und Leser als einen der diskursiven Assoziation mitvollziehen können, wenn vielleicht auch gebrochen durch die Differenz von Fiktion und Wirklichkeit. Goosens tendenziell ironischer Grundton – stärker in Radio Heimat und Wenn Samstag ist als in Sommerfest – eröffnet dabei die Möglichkeit, zwischen einer emphatischen (das gesamte diskursive Angebot übernehmenden) und einer eher spielerischen Ruhrgebietsidentität (unter Einbezug von Distanzierungen) zu wechseln.

Das ist etwa der Fall, wenn der Ruhrgebiets-Fußball auf das Engste mit anderen Bereichen des individuellen oder gesellschaftlichen Lebens verkoppelt beziehungsweise auf diese anderen Bereiche abgebildet wird: Fußball mit der bevorstehenden Geburt des eigenen Kindes („Legt ein werdender Vater die Hand auf den Bauch seiner hochschwangeren Frau und spürt den Tritt des Thronfolgers, kann er nicht anders, er sagt: ‚Kumma, der flankt!‘“18), Fußball mit Sex (die Freundin gibt just kurz vor dem Anpfiff eines wichtigen Spiels endlich dem „Angebot zum verschärften Nahkampf“19 nach, so dass der Protagonist in arge Bedrängnis gerät), Fußball mit Medizin („Vor neun Wochen hat sein Arzt ihm eröffnet, dass seine Blutwerte in etwa den gleichen Tabellenstand aufweisen wie der VfL Bochum.“20), Familie mit Fußball (die Kinder bekommen die Vornamen bekannter Fußballer21) und so weiter. Auf diese Weise gibt es letztlich kaum einen Bereich des Lebens, der nicht irgendetwas mit Fußball zu tun hätte, sodass das Identitätsangebot in Sachen Ruhrgebietsbewohner via Fußball bei Goosen auf die Formel gebracht werden kann: „Fußball ist uns zwischen Duisburg und Unna, zwischen Recklinghausen und Hattingen ins Genom übergegangen, unsere Doppelhelix besteht nicht aus Aminosäuresequenzen, sondern aus echtem Leder.“22

Last but not least übernehmen Goosens Texte strukturell betrachtet (wie zahlreiche andere der Ruhrgebietsliteratur auch) mit ihren Plots vielfach Elemente der Dorfgeschichte des 19. Jahrhunderts, wie etwa die Grenzziehung gegenüber der Fremde nach außen, den punktuellen Gebrauch regionaler sprachlicher Varietäten, den gemeinsamen Vollzug von Ritualen (wie Biertrinken im Schrebergarten) und den Topos der Rückkehr in die Heimat bei gleichzeitiger Aufgabe höherer Ambitionen (Stichwort ‚München‘) sowie die Überlagerung von zwischenmenschlichen durch weitere Wert-Konflikte; dies alles eingebunden in den Rahmen einer Erzählung von der Selbstfindung als einer Form individueller Entwicklung von einer zunächst attraktiv erscheinenden Außenwelt zurück in den engeren Bereich der Herkunft. Als Identitätsangebot für Menschen aus dem Ruhrgebiet scheint das als Selbstvergewisserungs-Narration zu funktionieren.23

Ist dies das Spektrum der Diskurselemente, die in den Texten von Frank Goosen als Angebote zur Assoziation und damit als Vehikel zur Ausbildung von Identität fungieren, so bleibt allerdings noch die Frage, ob dabei verschiedene diskursive Positionen und dann auch durchaus unterschiedliche Identitäten entwickelt werden können, die jeweils andere/anderes ein- oder ausschließen. Hier wird man sagen können, dass die mit den literarischen Texten angebotenen diskursiven Andockmöglichkeiten es sowohl erlauben, eine engere regionale Identität ‚Bochumer VfL-Fan‘ auszubilden als auch eine das ganze Ruhrgebiet umfassende des ‚Ruhris‘. Erkauft wird dies durch starke Abgrenzungen nach außen, gegenüber München (als ‚Fußballmarke‘ und bisweilen schon als Ruhrgebietsfußball-Feindbild), aber auch gegenüber all denjenigen, die nicht zu den Nachfahren der ‚püttadligen Ureinwohner‘ gehören. Arbeitsmigranten, Flüchtlinge und Zugezogene sind bei Goosen daher in konzentrischen Kreisen um den mit den Attraktivitätsmarkern Reihenhaus, Fußballfeld, Omma, Ex-Freundin, alte Kumpels, Schrebergarten und Stammkneipe gespeisten Kernidentität angelegt. Fast noch integriert ist der die Bude führende türkische Schnauzbart; zum griechischen Restaurant in der ehemaligen Bochumer Bäckerei Schmidtmeier muss man schon die Straße als symbolische Grenze überqueren; es folgen – in weiteren konzentrischen Kreisen – ‚Ossis‘, Polen, Ukrainer, Russen, Araber. Was Goosens Texte mit einem solchen Modell von Nähe und Ferne nicht leisten können, das ist diskursive Positionen und damit Angebote für so etwas wie eine interkulturelle Identität anzubieten.

Mit Cornelia Koppetschs Unterscheidung in Heimat als Schicksalsgemeinschaft, in die man hineingeboren wird, die exklusiv ist und räumlich begrenzt, sowie in Heimat als kosmopolitisches, urbanes Lebensmodell,24 wären Goosens Texte am Pol der ersteren anzusiedeln. In der Summe der in diesen Texten realisierten Diskurselemente bieten sie eine räumlich und kulturell eingegrenzte, re-kollektivierende „Neogemeinschaft“25 mit mühsam konstruierter historischer Tiefe als Angebot zur Assoziation und zur Identitätsbildung an: räumlich, wegen der strengen, ausgrenzenden Beschränkung auf das Kernruhrgebiet rund um Bochum; kulturell wegen der starken Positivsetzung einheitlicher „Traditionen, Werte und Praktiken“;26 neo, da es die auf diese Weise konstituierte Gemeinschaft erst seit dem Vorfeld des Kulturhauptstadtjahres 2010 gibt; historisch wegen der ausgrenzenden Verweise auf die Geschichte von mindestens drei ortsansässigen Generationen. Ihren Schnittpunkt finden diese Elemente der Identitätsbildung in der Rede von ‚Heimat‘.27 Durch den ironischen und nicht selten auch selbstironischen Grundton bei Goosen sind Identitätsbildungen sowohl in Richtung konservativer Gemeinschaften als auch solche tendenziell kosmopolitischer Art denkbar; gehört der türkische Budenbetreiber doch noch in den engeren Kreis, nicht aber der libanesische Grillbesitzer.

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