Kitabı oku: «Mehrsprachigkeit und das Politische», sayfa 2

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Silke Pasewalck und Dieter Neidlinger untersuchen die spezifische MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit des Romans Engel des Vergessens (2011) der slowenischSlowenienslowenisch-österreichischen Autorin Maja HaderlapHaderlap, Maja und zeigen auf, inwieweit dieses Buch nicht nur ein Bericht über die konfliktgeladene historischehistorisch Mehrsprachigkeit in KärntenKärnten darstellt, sondern darüber hinaus auch, wie diese poetologischPoetik/poeticspoetologisch den Text prägt. Diese Mehrsprachigkeit ist aus dem Niemandsland zwischen den Sprachen heraus geschrieben und ist dadurch mehr-sprachlichmehr-sprachlich, d.h. Haderlap entwickelt neue Sprachformen aus dem Spannungsfeld der Sprachen heraus.

Michael Navratils Beitrag untersucht MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit im Alternate HistoryAlternate History-Genre und in KontrafaktikKontrafaktik am Beispiel von Film und Literatur, indem er die Auseinandersetzung mit SprachalternativenSprachalternative in Quentin TarantinosTarantino, Quentin Inglourious Basterds und Christian KrachtsKracht, Christian Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten beleuchtet. Navratil weist nach, wie das sowohl der Mehrsprachigkeit als auch der Alternate History inhärente AlternativendenkenAlternativeAlternativdenken in beiden Werken ideologiekritisch problematisiert wird.

Abschließend berichtet der norwegischeNorwegen/NorwayNorwegisch/Norwegian, in EstlandEstland/Estonia und NorwegenNorwegen/Norway lebende Lyriker Øyvind Rangøy Rangøy, Øyvind, der 2019 einen renommierten estnischenEstland/Estoniaestnisch Literaturpreis für seinen ersten auf EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian verfassten Gedichtband erhielt, von seiner eigenen exophonenExophonieexophon/exophonic literarischen Praxis und den dieser zugrundeliegenden Erfahrungen und Fragestellungen.

Literaturverzeichnis

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Heute sprechen. Literatur, Politik und andere Sprachen im Lied (Herder, Alunāns, Barons)

Till Dembeck

Abstract: Der Beitrag geht am Beispiel dreier Publikationsprojekte aus dem 18. und 19. Jahrhundert der Frage nach, wie sich der (kultur‑)politische GegenwartsbezugGegenwartGegenwartsbezug von Literatur über ihren Umgang mit SprachvielfaltSprachvielfalt regelt. Die VolksliedersammlungVolkVolkslied Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfrieds von 1778/79 wird als Versuch eines paratextuell programmierten poetischenPoetik/poeticspoetisch Neuanfangs gelesen, der Sprachvielfalt qua ÜbersetzungÜbersetzung/translation einer muttersprachlichen OriginalitätsästhetikOriginalitätOriginalitätsästhetik zuführt. Die Form des LiedsLied dient hier der SynchronisierungSynchronieSynchronisierung und zugleich der DynamisierungDynamikDynamisierung sprachlicher Mittel im Namen einer neuen Literatur. Die Dseesmiņas (LiedchenLied), eine 1856 von Juris AlunānsAlunāns, Juris publizierte Sammlung von ÜbersetzungenÜbersetzung/translation europäischerEuropaeuropäisch Lyrik ins LettischeLettland/LatviaLettisch/Latvian, importieren diesen poetischenPoetik/poeticspoetisch Erneuerungsanspruch und verbinden ihn mit dem Versuch einer antikolonialenKolonialismusAntikolonialismus SynchronisierungSynchronieSynchronisierung und Modernisierung der lettischenLettland/Latvialettisch Sprache. Die von Krišjānis BaronsBarons, Krišjānis um 1900 in sechs Bänden herausgegebene lettischeLettland/Latvialettisch VolksliedersammlungVolkVolkslied Latwju DainasDainas wiederum greift Herders Bemühen um den Erhalt von VolksliedernVolkVolkslied auf. Barons leistet die Synchonisierung eines dialektalDialekt/Mundart, stofflich und überlieferungshistorisch so vielfältigen wie reichhaltigen Liedcorpus im Namen einer antikolonialenKolonialismusAntikolonialismus EmanzipationsbewegungEmanzipation. KulturpolitischPolitik/politicskulturpolitisch geht es hier um die Vergegenwärtigung eines vormodernen Volkslebens unter den Bedingungen der Moderne.

Keywords: Mehrsprachigkeit; Volkslied; Synchronie; Kulturpolitik; Herder, Johann Gottfried; Barons, Krišjānis

Dieser Beitrag erfüllt das Thema ‚Gegenwartsliteratur‘ eher in einem abstrakten Sinn, denn es geht nicht um die Literatur unserer GegenwartGegenwart, sondern um die Frage, wie sich Literatur allgemein zu GegenwärtigkeitGegenwartGegenwärtigkeit verhalten kann, inwiefern sie in ihrem Gegenwartsverhältnis politischPolitik/politicspolitisch/political ist und wie sich es sich mit Blick auf SprachvielfaltSprachvielfalt artikuliert.1 Konkret behandele ich drei literatur- und kulturpolitischePolitik/politicskulturpolitisch Projekte des 18. und 19. Jahrhunderts, die in einem Zusammenhang stehen, auch wenn ich zahllose Zwischenschritte der Entwicklung, die sie verbindet, auslassen muss. Im Anschluss an einleitende Überlegungen zum Problem zeitgemäßenZeitgemäßheitzeitgemäß Sprechens (1) und zum Spannungsfeld von SynchronieSynchronie und Sprachvielfalt (2) wende ich mich zunächst der VolksliedersammlungVolkVolkslied von Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried zu, die bekanntlich im heutigen LettlandLettland/Latvia ihren Ausgang nahm (3), und sodann zwei Publikationen, die dieses Projekt in einem je spezifischen Sinne fortsetzen, die lettischenLettland/Latvialettisch Dseesmiņas (‚LiedchenLied‘) von Juris AlunānsAlunāns, Juris und Latwju DainasDainas (lettischeLettland/Latvialettisch VolksliederVolkVolkslied) von Krišjānis BaronsBarons, Krišjānis (4). Abschließend versuche ich aus dem Erarbeiteten allgemeinere Schlussfolgerungen zu ziehen (5).

Für HerdersHerder, Johann Gottfried Volksliedprojekt wird aufgezeigt, dass es einer zeitgemäßenZeitgemäßheitzeitgemäß Erneuerung oder sogar Neubegründung der deutschsprachig-muttersprachlichen Lyrik durch SynchronisierungSynchronieSynchronisierung mit anderssprachigenanderssprachig Traditionen und Ausdruckspotentialen zuarbeitet. Die Publikation von ins LettischeLettland/LatviaLettisch/Latvian übersetzten ‚LiedchenLied‘ durch AlunānsAlunāns, Juris hat ein vergleichbares Ziel, während BaronsBarons, Krišjānis die in den lettischsprachigen Gebieten nicht zuletzt dank Herder in Gang gekommene Volksliedersammeltätigkeit mit einem emanzipatorischen Impuls aufnimmt. Auch in diesen beiden Fällen geht es um die Synchonisierung von SprachvielfaltSprachvielfalt, allerdings expliziter im Namen einer neu zu begründenden Nationalität. Was die Theorie der Sprachvielfalt angeht, so beziehe ich mich auf einschlägige Arbeiten aus der jüngeren Zeit, ziehe aber auch Ferdinand de SaussureSaussure, Ferdinand de hinzu, und zwar deshalb, weil er zum Zusammenhang von Sprachvielfalt und SynchronieSynchronie Argumente beigetragen hat, die heute leider zu wenig bekannt sind.

1 Sprechen und GegenwartGegenwart

Dass SprachvielfaltSprachvielfalt immer Gegenstand politischerPolitik/politicspolitisch/political Auseinandersetzung gewesen ist, wundert nicht, erzeugt sie doch Grenzen des Verstehens und damit vielfältige In- und Exklusionseffekte. Eben diese Effekte sind gerne Gegenstand von Geschichten und diese Geschichten wiederum machen gerne PolitikPolitik/politics. Gerade Geschichten von sprachlicher Inklusion – beispielsweise die Geschichte des PfingstwundersPfingstwunder – können weitreichende Folgen zeitigen, ausgesprochen exklusiv wirken und viel Gewalt nach sich ziehen. Immerhin resultierte die Verheißung einer menschheitlichen Verständigung im rechten Glauben, als die Petrus das Wunder der ApostelgeschichteApostelgeschichte zufolge deutete (Apg. 2), in einer zwei Jahrtausende währenden Bewegung der Mission, an die das Sendungsbewusstsein der westlichen Gesellschaften noch heute anschließt.

Mir geht es im Folgenden indes nicht – oder doch nicht in erster Linie – um Fragen der In- und Exklusion, der literarischen Repräsentation oder der SprachpolitikSprachpolitik im engeren Sinne des Wortes. Ich schlage vielmehr einen Ebenenwechsel vor und möchte fragen, wie der literarische Umgang mit SprachvielfaltSprachvielfalt mit einem Grundproblem jeden politischenPolitik/politicspolitisch/political Engagements verbunden ist, nämlich mit der Frage der ZeitgemäßheitZeitgemäßheit, genauer: des GegenwartsbezugsGegenwartGegenwartsbezug.

Dieses Grundproblem lässt sich recht einfach erläutern: Wir alle wissen, dass jedwede Intervention in die komplexen Zusammenhänge und Prozesse insbesondere (aber nicht nur) moderner Gesellschaften unter anderem deswegen so schwierig ist, weil man immer erst im Nachhinein weiß, ob man den rechten Augenblick für die Intervention gefunden haben wird. Diesen rechten Augenblick kennzeichnet, dass sich eine Art Lücke auftut, in die herein man wirken und Strukturen verändern kann; die MetapherMetapher/metaphor des Zeitfensters oder die Allegorie der occasio, der Gelegenheit, die man beim Schopfe ergreifen muss, machen dies deutlich. Dieser heikle GegenwartsbezugGegenwartGegenwartsbezug des politischenPolitik/politicspolitisch/political Handelns hat heute oft langwierige Streitigkeiten um Tagesordnungen, Wahltermine etc. zur Folge, aber er bedingt auch, dass beispielsweise das Dasein eines Revolutionärs oft aus nichts als langem Warten besteht. Kurzum: das Problem, das eigene Handeln mit prinzipiell unvorhersehbaren Umweltprozessen so synchronisieren zu müssen, dass man seine Ziele erreichen kann, stellt sich für politischePolitik/politicspolitisch/political Bewegungen jeglicher Couleur.1

Ich kann an dieser Stelle keine ausgearbeitete Theorie des politischenPolitik/politicspolitisch/political Umgangs mit Zeit entfalten, noch kann ich erschöpfend behandeln, welche Folgen das Problem der ZeitgemäßheitZeitgemäßheit und des GegenwartsbezugsGegenwartGegenwartsbezug für das politischePolitik/politicspolitisch/political Engagement von Literatur im allgemeinen hat. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass im Falle der Literatur die medialen Rahmenbedingungen zusätzliche Komplikationen mit sich bringen. Das hängt zum einen mit den Bedingungen von SchriftlichkeitSchriftSchriftlichkeit zusammen. Eine Intervention qua SchriftSchrift kann den Zeitpunkt, zu dem sie stattfindet, nur bedingt selbst bestimmen. Papier ist geduldig, und wann wer was liest, weiß man vorher nie. Literatur wendet sich daher immer schon an viele unterschiedliche Gegenwarten. Das dies riskant ist, weiß schon der Sokrates aus Platons Phaidros (275 c). Zum anderen führt das für Literatur charakteristische Engagement von Einbildungskraft und Phantasie zu potentiellen Kontrollverlusten. Wir wissen bekanntlich nie, wohin uns Einbildungskraft und Phantasie, wenn wir uns ihnen einmal überlassen, führen werden – und wie viel größer ist das Risiko, wenn wir die Produkte unserer Einbildungskraft dann auch noch anderen überlassen.2

Damit ist ein Problem benannt, das sich für das politischePolitik/politicspolitisch/political Engagement von Literatur mit Blick auf ihren GegenwartsbezugGegenwartGegenwartsbezug ergibt – wie auch immer unzureichend und verkürzt. Wie verhält sich dieses Problem zur Frage der SprachvielfaltSprachvielfalt? Einen ersten Hinweis auf dieses Verhältnis kann man den Grundannahmen der RhetorikRhetorik/rhetoric entnehmen. Denn die Anpassung einer Rede an die jeweilige Situation, die Frage des aptumaptum, ist dort immer schon (auch) eine Frage der richtigen Auswahl der sprachlichen Mittel, die – sonst könnte man nicht auswählen – immer schon als vielfältig vorgestellt sind. Man muss, wie man dann sagt, die richtige Sprache finden. Man meint damit zwar im allgemeinen nicht die Auswahl zum Beispiel zwischen DeutschDeutschlandDeutsch und UngarischUngarisch. Aber ich möchte im Folgenden argumentieren, dass zwischen dieser Auswahl und derjenigen der richtigen sprachlichen Mittel zumindest eine funktionale Äquivalenz besteht.

Das wird besonders dann deutlich, wenn man die Frage nach der SprachvielfaltSprachvielfalt systematisch zusammendenkt mit derjenigen der Sprachentwicklung. Sprachvielfalt ist immer Ergebnis von Sprachentwicklung, und Sprachentwicklung findet potentiell in jedem Moment von SprachgebrauchSprachgebrauch statt.3 Der engagierte, also auf eine Wirkung bedachte Gebrauch sprachlicher Mittel ist potentiell immer auch auf Sprachentwicklung, auf die zeitgemäßeZeitgemäßheitzeitgemäß Veränderung von Sprache aus und wirkt damit an der Gestaltung von Sprachvielfalt mit. Der GegenwartsbezugGegenwartGegenwartsbezug von Literatur besteht daher immer auch darin, dass sie auf Sprache selbst einwirkt und Sprache verändert. Sie möchte Zeitfenster und Gelegenheiten nutzen, um neue Sprache, zeitgemäßereZeitgemäßheitzeitgemäß Sprechweisen zu etablieren. Das politischePolitik/politicspolitisch/political Moment des literarischen Umgangs mit Sprachvielfalt besteht also auch darin, dass der Umgang mit der Zeitlichkeit von Sprache zugleich ein Umgang mit ihrer Vielfalt ist und umgekehrt.

2 Andere Sprachen I: Das Paradox der SynchronieSynchronie (SaussureSaussure, Ferdinand de)

Bevor ich zu meinen literarischen Beispielen komme, möchte ich in einem ersten Schritt einige theoretische Vorüberlegungen anstellen. Sie betreffen weit verbreitete Vorstellungen davon, was unter einer Sprache zu verstehen sei – Vorstellungen, die ihrer Wirkmächtigkeit zum Trotz daran hindern, das politischePolitik/politicspolitisch/political Moment literarischer SprachvielfaltSprachvielfalt voll in den Blick zu bekommen.

Es gehört zum Gemeinwissen der Geschichte der LinguistikLinguistik, dass sowohl Ferdinand de SaussureSaussure, Ferdinand de als auch die strukturalistische Saussure-Rezeption die aus dem 19. Jahrhundert herrührende, eng mit der MetapherMetapher/metaphor der MutterspracheMuttersprache/mother tongue verbundene Beschreibung von EinzelsprachenEinzelsprache als Quasi-Organismen, an deren Wachstum man dann interessiert war, ablehnen.1 Saussure – und ich spreche hier in erster Linie von dem Saussure der Notizbücher, nicht von dem Saussure des Cours2 – hat unter anderem darauf hingewiesen, dass zwar einerseits der Sprachwandel, dem sich der Großteil der Sprachforschung des 19. Jahrhunderts gewidmet hatte, erklären kann, woraus sich gegebene SprachstrukturenSprachstrukturen entwickelt haben; dass andererseits aber diese ‚Erklärung‘ nichts darüber aussagt, wie wirkliche Sprecherinnen mit ‚ihrer‘ Sprache umgehen (Saussure 2003: 285–29). Die Beschreibung des Zustands der Sprache hat so betrachtet mit der Beschreibung der Geschichte der Sprache nichts zu tun, obwohl die Möglichkeitsbedingungen des Sprechens und die Sprachgeschichte zugleich wechselseitig aufeinander bezogen sind. Dabei macht Saussure gerade das Sprechen (paroleparole) in seiner jeweiligen situativen GegenwärtigkeitGegenwartGegenwärtigkeit für den Sprachwandel verantwortlich: Das Sprechen greift zwar rekursiv auf la languelangue als Bedingung seiner Möglichkeit zurück, ist aber zugleich selbst Bedingung der Möglichkeit für deren Reproduktion und kann sie jederzeit verändern, ohne dass die Sprecher dies wiederum jemals planen könnten. Die Einheit der Sprache erweist sich damit als paradoxe Gleichzeitigkeit von Kontinuität und Diskontinuität: Weil man immer weiter spricht, verändert sich die Sprache (Saussure 2003: 251). Sprache ist zu ihrer Fortsetzung dauernd auf „Identitätsurteil[e]“ (Saussure 2003: 298) der Sprecherinnen angewiesen, die (synchron) auf ein Gegebenes verweisen, das sie zugleich (diachron) womöglich modifizieren. Die langue, von der Saussure in den Notizbüchern spricht, ist daher eine durch und durch paradoxale Bezugsgröße. Sie hat als soziale Tatsache keinen festen Ort, an dem sie auffindbar wäre. Sie muss zwar durchgängig als konkret wirksame soziale Tatsache vorgestellt werden, doch ihre Rekonstruktion in Form von Regelwerken löst sie gerade aus dem dynamischen sozialen Zusammenhang, innerhalb dessen allein sie hier und jetzt existiert, heraus.

Diese Einsicht SaussuresSaussure, Ferdinand de wird in der Bearbeitung der Vorlesungsmitschriften, die dem Cours zugrundeliegen, überdeckt. Vor allem aber hat die auf dem Cours aufbauende strukturalistische LinguistikLinguistik die Paradoxie des languelangue-Begriffs weitgehend dadurch ausgeblendet, dass sie ihn in erster Linie auf EinzelsprachenEinzelsprache bezogen und diese wiederum als abgelöst von jeder soziokulturellen und historischenhistorisch Bindung betrachtet hat. Der Saussure der Notizen spricht aber nicht zufällig durchgängig von la languelangue – und eben nicht von une langue oder von langueslangue im Plural (vgl. Stockhammer 2014: 348–352). Er denkt keinesfalls daran, der synchronen Sprachwissenschaft die Aufgabe zu geben, auf der Grundlage entweder von Korpusanalysen oder von muttersprachlicher Introspektion jeweils die unterschiedlichen langueslangue an sich zu rekonstruieren, die Sprecher benutzen, um einzelsprachige parolesparole zu produzieren. Eher hätte la langue, auf Saussures Notizen aufbauend, auch als etwas Nicht-Einsprachiges gedacht werden könnte, etwa so, wie sich Jacques DerridaDerrida, Jacques (1996) die „EinsprachigkeitEinsprachigkeit des Anderen“ vorstellt – als singuläre, aber in sich vielgestaltige Sprachfähigkeit des Einzelnen (in diesem Sinne: „Einsprachigkeit …“), die zugleich vollständig auf die Einflussnahme der sehr unterschiedlichen Sprechweisen vieler anderer Sprecher zurückgeht (in diesem Sinne: „… des Anderen“).

Die Geschichte der LinguistikLinguistik und der Sprachphilosophie hat viele Versuche gesehen, die von SaussureSaussure, Ferdinand de in den Blick genommene paradoxale Zeitlichkeit von Sprache in den Griff zu bekommen. Besonders bekannt ist Wilhelm von HumboldtsHumboldt, Wilhelm von Rede von ergon und energeia, also dem systematischen Aspekt von Sprache, ihrer Orientierung an ‚Regeln‘ einerseits und ihrem kreativen, potentiell die Regeln überschreitenden und den Sprachwandel antreibenden Gebrauch andererseits (Humboldt 1836: 46). Vor dem Hintergrund der angeführten Arbeit von DerridaDerrida, Jacques ist insbesondere Michail BachtinsBachtin, Michail Hinweis darauf erwähnenswert, dass sich der Horizont der languelangue als des wie auch immer regulären Bereichs, auf den sich konkretes, gegenwärtiges Sprechen bezieht, ebenfalls aus nichts anderem als konkretem, gegenwärtigem Sprechen konstituiert, so dass im Grunde die Unterscheidung von langue und paroleparole selbst ins Wanken gerät (Holquist 2014; vgl. Bachtin 1934/35). In der ‚Einsprache‘, von der Derrida spricht, also in dem Sprachwissen, das einzelne Sprecherinnen benutzen, wenn sie hier und jetzt Rede produzieren oder rezipieren, ist die Rede der anderen intertextuellintertextuell/intertextual gegenwärtig und steht zugleich zur Disposition.

Mir ist dieser Zusammenhang, der natürlich eine viel ausführlichere Behandlung verdient hätte, deshalb so wichtig, weil er die alltägliche, aber auch viele wissenschaftliche Untersuchungen prägende Unterscheidung von Ein- und MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit berührt, die bestimmt, es sei Mehrsprachigkeit, wenn irgendwo (in einer Person, in einem Text) mehrere Sprachen vorkommen (eine Person kann EstnischEstland/EstoniaEstnisch/Estonian und DeutschDeutschlandDeutsch, der Zauberberg mischt DeutschDeutschlandDeutsch und FranzösischFrankreichFranzösisch). Auf der Grundlage dieser Bestimmung ist es einfach, Mehrsprachigkeit ‚politischPolitik/politicspolitisch/political‘ zu befürworten. Aber diese Bestimmung unterschlägt nicht nur die ursprüngliche Vielfältigkeit von la languelangue als Grundlage des Sprechens und ersetzt sie durch ursprüngliche Einheit (EinzelsprachenEinzelsprache); sondern sie übersieht überdies, dass die Quelle von SprachvielfaltSprachvielfalt das konkrete, die Grenzen der EinsprachigkeitEinsprachigkeit überschreitende Sprechen im Hier und Jetzt ist.

Das wiederum heißt für die Analyse von literarischer SprachvielfaltSprachvielfalt, dass sie sich nicht damit zufrieden geben darf zu konstatieren, welche Sprachen Autoren benutzten, um dies dann z.B. politischPolitik/politicspolitisch/political zu interpretieren. Die Frage muss vielmehr auch sein, wie Texte auf je unterschiedliche, mehr oder weniger konkret rekonstruierbare sprachliche Ressourcen zurückgreifen und wie sie sich zur potentiellen Vielfalt dieser Ressourcen stellen (siehe ausführlich Dembeck 2018 sowie Dembeck/Parr 2017). Aus dieser Perspektive kann man die politischePolitik/politicspolitisch/political Dimension literarischer Sprachvielfalt ergründen, indem man überprüft, inwiefern Texten unterstellt werden kann, dass sie Sprache verändern wollen, und indem man zeigt, mit welchen sprachlichen Mitteln sie dies tun. Dabei können dann im Grunde alle jene Strukturen eine Rolle spielen, welche LinguistikLinguistik und LiteraturwissenschaftLiteraturwissenschaft mit Blick auf Sprachvielfalt unterscheiden, also z.B. SoziolekteSoziolekt, DialekteDialekt/Mundart und nationaleNationnational Standardsprachen, aber auch poetischePoetik/poeticspoetisch Formen wie Metren oder andere Gattungstraditionen. Daher darf eine MehrsprachigkeitsphilologieMehrsprachigkeitMehrsprachigkeitsphilologie sich nicht auf die Analyse von MehrsprachigkeitMehrsprachigkeit im soeben genannten alltäglichen Sinn des Wortes beschränken, sondern muss alle Formen von Sprachvielfalt, alle Formen divergenter sprachlicher Mittel einbegreifen.

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