Kitabı oku: «Mehrsprachigkeit und das Politische», sayfa 3

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3 Literatur I: VolksliederVolkVolkslied und MutterspracheMuttersprache/mother tongue (Herder Herder, Johann Gottfried)

Eine Vorstellung, die besonders viele politischePolitik/politicspolitisch/political Einsätze mit Blick auf literarische SprachvielfaltSprachvielfalt motiviert, ist diejenige der MutterspracheMuttersprache/mother tongue. Wir haben bereits gesehen, dass in vielen Bereichen der LinguistikLinguistik zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Einsicht in die unhintergehbare Komplexität des jederzeit wandelbaren, sich selbst stabilisierenden Geschehens ‚Sprache‘ zwar zur Verabschiedung der organologischen Modelle der vormaligen historischenhistorisch Sprachwissenschaft führte, nicht aber zur Verabschiedung des Narrativs der MutterspracheMuttersprache/mother tongue. Im Gegenteil: Die MutterspracheMuttersprache/mother tongue ist der feste Grund, auf den sich die languelangue-Linguistik problemlos beziehen zu können glaubt – gleich, ob dies durch die Beobachtung von Sprecherinnen oder durch die Introspektion muttersprachlicher Linguisten selbst geschieht. Im Muttersprachler glaubt man bis heute – und das gilt nicht nur für viele Richtungen der Linguistik, sondern vor allem auch für das Alltagsverständnis – Sprachen als unproblematisch zu bezeichnende und wohlunterschiedene Einheiten dingfest machen zu können. Ich möchte anhand meines ersten Beispiels die literarischen Anfänge dieser Argumentationsfigur in den Blick nehmen und widme mich daher – wenn auch nur in einer arg verkürzten Skizze – Johann Gottfried HerderHerder, Johann Gottfried.

Bereits in HerdersHerder, Johann Gottfried frühen SchriftenSchrift, genauer: in den Fragmenten Über die neuere deutscheDeutschlanddeutsch Literatur von 1767/68, geschrieben in Riga, findet sich eine mustergültige Formulierung zum Zusammenhang von MutterspracheMuttersprache/mother tongue und Literatur, die auf SprachvielfaltSprachvielfalt und Sprachentwicklung bezogen werden kann.1 Herder postuliert, dass Originalliteratur nur in der MutterspracheMuttersprache/mother tongue geschrieben werden könne:

[W]enn in der Poesie der Gedanke und Ausdruck so fest an einander kleben: so muß ich ohne Zweifel in der Sprache dichten, wo ich das meiste Ansehen, und Gewalt über die Worte, die größeste Känntnis derselben, oder wenigstens eine Gewißheit habe, daß meine Dreustigkeit noch nicht Gesetzlosigkeit werde: und ohne Zweifel ist dies die MutterspracheMuttersprache/mother tongue. (HerderHerder, Johann Gottfried 1767: 407)

Auf den ersten Blick scheint HerderHerder, Johann Gottfried hier die MutterspracheMuttersprache/mother tongue genau im Sinne der languelangue-LinguistikLinguistik zu bestimmen, und David Martyn hat dementsprechend einen Großteil seines Arguments über die Entstehung der modernen EinsprachigkeitEinsprachigkeit auf dieser Passage aufgebaut (Martyn 2014). In der Muttersprachlerin scheint die MutterspracheMuttersprache/mother tongue inkarniert, und in ihr sind für ihn wiederum „Gedanke und Ausdruck“ ununterscheidbar. Allerdings ist die MutterspracheMuttersprache/mother tongue für Herder eben nicht ein feststehendes Regelwerk, sondern vielmehr Garant sprachlicher Kreativität. Es geht ihm ja gerade um die Beförderung von OriginalitätOriginalität. Weil aber die Originalität des Denkens in Herders Augen von der Besonderheit des Ausdrucks abhängt, ja, mit ihr identisch ist, muss man bei der Produktion origineller poetischerPoetik/poeticspoetisch Werke dasjenige sprachliche MediumMedienMedium nutzen, das als einziges unmittelbar an die KognitionKognition gebunden ist, also die MutterspracheMuttersprache/mother tongue.

So schlüssig dies auch klingt, so ist es doch wichtig zu registrieren, welche Denkmöglichkeit HerdersHerder, Johann Gottfried Überlegungen ausschließen. Denn es liegt auf der Hand, dass literarische OriginalitätOriginalität prinzipiell im Rückgriff auf alle möglichen Arten von SprachvielfaltSprachvielfalt erreicht werden könnte, ohne die Beschränkung auf die eine MutterspracheMuttersprache/mother tongue. Dies läge im Grunde in der Konsequenz der OriginalitätsästhetikOriginalitätOriginalitätsästhetik und des Innovationszwangs der modernen Literatur, die immer von „Dreustigkeit“ getrieben sein muss. Herder lässt das aber nicht gelten, und zwar, weil diese Dreistigkeit in „Gesetzlosigkeit“ münden könnte. Es ist, so gesehen, das paradoxe Bestreben, zugleich innovativ und in der Tradition verhaftet zu sein, vor dessen Hintergrund Herder die MutterspracheMuttersprache/mother tongue als festen Grund beschwört. Gerade weil es der „neueren deutschenDeutschlanddeutsch Literatur“ auf Originalität ankommt, weil sie im Kern eine Form der sprachlichen Kreativität und „Dreustigkeit“ ist, weil sie also Sprachentwicklung und damit Sprachvielfalt befördert, sieht sich Herder, will er „Gesetzlosigkeit“ vermeiden, dazu gezwungen, die erlaubten Mittel zu ihrer Erzeugung einzuschränken.

HerdersHerder, Johann Gottfried Streben nach OriginalitätOriginalität gründet in der wohlwollenden Einsicht in die Eigendynamiken der Moderne, die nach neuen (literarischen) Mitteln verlangt; es ist insofern in einem ganz grundlegenden Sinne politischPolitik/politicspolitisch/political. In anderen Zusammenhängen, z. B. in seiner 1778/79 veröffentlichten VolksliedersammlungVolkVolkslied, hat Herder durchaus auch auf anderssprachigeanderssprachig poetischePoetik/poeticspoetisch Formen und Quellen als MediumMedienMedium der Erneuerung zurückgegriffen.2 Größtenteils im MediumMedienMedium der ÜbersetzungÜbersetzung/translation präsentiert er hier bekanntlich liedförmige Texte aus sehr unterschiedlichen Kontexten und Zeiten, denen aber gemeinsam ist, dass sie Originale sein sollen in dem Sinne, den Herder dem Wort zuvor sowohl in seinen Überlegungen zur Ode als auch in seinem Ossian-Briefwechsel gegeben hatte: So wie die antiken Oden Herder zufolge an der Grenze von Natur- und Sprachlaut arbeiten, dem SprachmaterialSprachmaterial also seine Ausdrucksfähigkeit erst abgewinnen, erschließen die Herder’schen VolksliederVolkVolkslied neue Formen des sprachlichen Ausdrucks; sie sind sprachschöpferisch und können gerade deshalb einer neuen Zeit dienlich sein. Die unterstellte Nähe zum VolkVolk ist nur bedingt in einem modernen nationalenNationnational Sinne zu verstehen, und die „neuere deutscheDeutschlanddeutsch Literatur“, der die VolksliedersammlungVolkVolkslied sich zurechnet, ist auch im alten Sinne des Wortes ‚deutschDeutschlanddeutsch‘, also ‚vom Volk‘, indem sie dessen undisziplinierte Energie kanalisiert – in ein allerdings zumindest auf der Oberfläche einsprachiges MediumMedienMedium.

Anders als viele anschließende Projekte – darauf komme ich gleich zurück – ist HerdersHerder, Johann Gottfried VolksliedersammlungVolkVolkslied daher nur bedingt ein Instrument der Nationenbildung. Es geht natürlich um Anschluss an die Tradition, sowohl mit Blick auf deutscheDeutschlanddeutsch Kultur als auch mit Blick auf das Gedächtnis der Menschheit. Politisch ist die Sammlung aber auch und vor allem als Instrument der sprachlichen Erneuerung. Explizit betont dies das Schlusswort der Sammlung, das nicht nur die Offenheit der Sammlung für Ergänzungen hervorhebt, sondern eine produktive Rezeption auch jenseits des Sammelns in Aussicht stellt. Herder rät seinem Leser, die LiederLied nicht „in Einem Atem fortzulesen, damit er das Buch abtue und justifiziere“, auch nicht „sich schwindelnd aus Völkern in Völker [zu] werfen“, also aus ethnologischemethnologisch Interesse zu lesen, sondern „jedes Stück an seiner Stelle und Ort [zu] betrachten“ (Herder 1778/79: 427). Damit ist nicht zuletzt der durch die Sammlung, durch den Druck selbst gegebene Zusammenhang gemeint.3 Die Sammlung stilisiert sich als zeitgemäßerZeitgemäßheitzeitgemäß Rahmen, als Anordnung, die den einzelnen Texten hier und jetzt Bedeutsamkeit gibt. Die Herder’schen VolksliederVolkVolkslied sind in emphatischem Sinne Gegenwartsliteratur, ja, sie sollen die Erneuerung der Poesie katalysieren. Er könne, so Herder, „sehr beredt sein, wenn ich von dem Nutzen schwätzen wollte, den manche verdorrte Zweige unsrer Poesie aus diesen unansehnlichen Tautropfen fremderFremdheitfremd Himmelswolken ziehen könnten. Ich überlasse dies aber dem Leser“ (Herder 1778/79: 427). Da schon die Einleitung zum zweiten Teil der Sammlung die gegebenen LiederLied als „Materialien zur Dichtkunst“ (Herder 1778/79: 245) ausweist, darf man hierin eine Aufforderung zur Fortsetzung sehen, aber nicht nur zur Sammlung weiterer Materialien, sondern auch zur Produktion zeitgenössischer Originaldichtung. Es ist den Rezipienten aufgegeben, eine populäre Form der lyrischen Dichtung zu entwickeln, die tatsächlich ‚lebendig‘, das heißt, zukunftsfähig ist.

Es ist diese abschließende Geste, die HerdersHerder, Johann Gottfried Vorhaben auf die Spitze treibt und am deutlichsten demonstriert, worum es ihm bei der Sammlung der VolksliederVolkVolkslied geht: Sicherlich ist er auch auf der Suche nach volkstümlicher OriginalitätOriginalität im Interesse eines anthropologischenAnthropologieanthropologisch UniversalismusUniversalitätUniversalismus/universalisme, wie es Herders doppeldeutiger Begriff von ‚VolkVolk‘ nahelegt. Sicherlich dient die Besinnung auf Ursprünglichkeit auch dem Streben nach einer neuen Ganzheitlichkeit der menschlichen Existenz. Und sicherlich geht es auch um die Stiftung einer „Zusammenstimmung“, wie Gaier formuliert (1990: 879). Allerdings ist diese Harmonisierung nicht im Sinne von Folklore gemeint, und sie ist auch weniger bewahrend orientiert als avantgardistisch. Herder will die Konstitution einer neuen Gattung initiieren, die er VolksliedVolkVolkslied nennt und der ‚lyrischen Dichtung‘ zuordnet. Diese Gattung soll sich durch Modulation fortschreiben, sie soll ein großes nationalesNationnational und internationales Publikum erreichen, in diesem modernen Sinne populär sein – und im MediumMedienMedium des Drucks ermöglichen, was die alte Volksdichtung im MediumMedienMedium der MündlichkeitMündlichkeit ermöglicht hat.4 Von hier aus lässt sich auch Herders Wertschätzung originaler Poesie im historischenhistorisch Sinne verstehen. Denn OriginalitätOriginalität, ob sie nun alt oder neu ist, muss letztlich immer als Folge der unvorhersehbaren modulierenden Veränderung überkommener Formen verstanden werden.

HerderHerder, Johann Gottfried hat den Zeitpunkt der Publikation seiner VolksliedersammlungVolkVolkslied lange herausgezögert – aus unterschiedlichen Gründen, aber unter anderem auch deshalb, weil er daran zweifelte, die Zeit sei bereit für sie. Und offenkundig dienen die Anordnung und der Rahmen, die Herder seiner Sammlung gibt, auch zur Einhegung jener potenzierten Gefahr der Fehlwirkung, der sich, wie eingangs ausgeführt, jede literarisch-politischePolitik/politicspolitisch/political Intervention aussetzt. Vor diesem Hintergrund ließe sich fragen, inwiefern die Gesetzestreue, der sich die Herder’sche Muttersprachensemantik verschreibt und die auch im Einsprachigkeitsprinzip der VolksliedersammlungVolkVolkslied zum Ausdruck kommt, vielleicht weniger aus Überzeugung denn aus Wirkungskalkül gesucht wird. Herder ist womöglich weniger der ‚Erfinder‘ der modernen Muttersprachlichkeitssemantik,5 als dass er die literarische OriginalitätsästhetikOriginalitätOriginalitätsästhetik schlicht besonders geschickt an sprachpolitischeSprachpolitiksprachpolitisch Tatsachen angepasst hat. Immerhin lassen sich auch jenseits der Muttersprachensemantik starke evolutionäre Kräfte benennen, welche die moderne EinsprachigkeitEinsprachigkeit begünstigt haben – der durch den BuchdruckBuchdruck ausgelöste StandardisierungsdruckStandardStandardisierung ist eine davon. Wie dem auch sei, klar ist, dass für Herder eine Literatur, die zeitgemäßZeitgemäßheitzeitgemäß sein und auf GegenwartGegenwart wirken will, an der Diversifizierung der sprachlichen Mittel arbeiten muss. Vielleicht ist die programmatische EinsprachigkeitEinsprachigkeit der Literatur, wie Herder sie ins Auge fasst, nur ein politischerPolitik/politicspolitisch/political Trick, der es ermöglicht, überhaupt SprachvielfaltSprachvielfalt zur Entfaltung kommen zu lassen.

4 Literatur II: Dseesminas und DainasDainas (Alunāns Alunāns, Juris und Barons Barons, Krišjānis)

Ein im weitesten Sinne literarisches Projekt aus dem baltischenBaltikumBaltisch Raum, das gerne mit HerdersHerder, Johann Gottfried VolksliedersammlungVolkVolkslied in Verbindung gebracht wird, ist die Sammlung sowie vor allem Redaktion und Ordnung einer sehr großen Zahl lettischerLettland/Latvialettisch VolksliederVolkVolkslied oder DainasDainas (wie der litauischeLitauenlitauisch Begriff für VolksliederVolkVolkslied lautet) durch Krišjānis BaronsBarons, Krišjānis.1 Die Verbindung ist naheliegend, geht doch Herders Interesse am VolksliedVolkVolkslied unter anderem auf seinen Kontakt mit lettischenLettland/Latvialettisch VolksliedernVolkVolkslied in seiner Rigenser Zeit zurück. Und auch wenn Barons in seiner Einleitung zum ersten Band der Latwju DainasDainas von 1894 (die restlichen fünf Bände erschienen bis 1915) Herder mit keinem Wort erwähnt, so ist doch seine Sammeltätigkeit ebenso wie die einer Vielzahl von Vorläufern und Mitarbeitern durch Herder inspiriert.2 Allerdings gilt für Barons Latwju Dainas, was eben für Herders VolksliedersammlungVolkVolkslied nicht gesagt werden kann: Sie sind, ebenso wie die zwischenzeitlich im deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig Raum auf den Weg gebrachten Projekte (z.B. Des Knaben Wunderhorn), Teil einer (anti-kolonialen!) nationalenNationnational KulturpolitikPolitik/politicsKulturpolitik.3 Dabei arbeitet sich auch Barons’ Projekt, wie ich zeigen möchte, an der Problematik einer zeitgemäßenZeitgemäßheitzeitgemäß Präsentation des in den DainasDainas vorliegenden Kulturerbes ab. Barons politischesPolitik/politicspolitisch/political Engagement zwingt ihn sehr unmittelbar zur Auseinandersetzung mit Fragen von Sprachentwicklung und SprachvielfaltSprachvielfalt, die er in einem ausgesprochen modernen Sinne angeht.

Bevor ich zu BaronsBarons, Krišjānis komme, sei mit einem Seitenblick aber noch ein Unternehmen zumindest gestreift, das eine andere Linie des HerderHerder, Johann Gottfried’schen Engagements aufgreift, nämlich Juris AlunānsAlunāns, Juris’ Sammlung übersetzter Dseesmiņas, LiedchenLied, die 1856 in Tartu erschienen ist. Alunāns, der als Schöpfer einer Vielzahl von Neologismen im LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian gilt, widmete sich mit dieser Sammlung der modernen europäischenEuropaeuropäisch (tatsächlich vor allem der deutschsprachigenDeutschlanddeutschsprachig) Lyrik, und zwar mit dem Ziel einer Modernisierung des LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian. Alunāns geht es vordergründig um eine Säuberung der lettischenLettland/Latvialettisch Sprache von Fremdeinflüssen, und das Nachwort zu seiner Sammlung enthält umfassende Vorschläge dazu, wie anderssprachigeanderssprachig Eigennamen besser als bisher ins LettischeLettland/LatviaLettisch/Latvian und die ihm eigentümliche Wortbildung eingefügt werden könnten (Alunāns 1856: 62–70). (Sehr viele dieser Vorschläge haben sich tatsächlich durchgesetzt.) Die Säuberung impliziert aber nicht nur eine Systematisierung des Regelwerks der lettischenLettland/Latvialettisch Sprache, sondern auch ihrer Fortbildung in Auseinandersetzung mit anderen Sprachen. LettischLettland/LatviaLettisch/Latvian soll eine eigenständige Sprache nach dem Modell des DeutschenDeutschlandDeutsch und anderer europäischerEuropaeuropäisch NationalsprachenNationNationalsprache werden – es geht Alunāns, so gesehen, um die Selbstermächtigung eines kolonialisierten IdiomsIdiom, er sucht den Anschluss an die (sprachliche) Moderne EuropasEuropa. Diesem Ziel dienen die ÜbersetzungenÜbersetzung/translation, die einen ähnlichen Modernisierungsschub initiieren wollen wie Herders VolksliederVolkVolkslied. Alunāns möchte eine gewisse formale Bandbreite zur Schau stellen und legt Wert darauf, den Übersetzungscharakter der Texte, selbst wenn die Originale größtenteils beigegeben sind, zu verschleiern. Die ÜbersetzungenÜbersetzung/translation sollen sich wie Originale lesen, und so setzt denn die Sammlung ein mit einer ÜbersetzungÜbersetzung/translation von Heines Loreley-Gedicht, das im LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian mit „Laura“ überschrieben ist und an der Daugava spielt, nicht am Rhein (Alunāns 1856: 6–7).

Zurück zu BaronsBarons, Krišjānis. Natürlich ist es ganz unmöglich, ein derartig umfassendes Projekt wie die Latwju DainasDainas hier und jetzt angemessen zu würdigen.4 Ich beschränke mich auf eine Lektüre der Einleitung von 1894, in der Barons ausführlich über die Entstehung der Sammlung und über die Schwierigkeiten Auskunft erteilt, die es vor der Publikation zu überwinden gab. Von Interesse sind dabei weniger die Ausführungen zur Sammeltätigkeit selbst. Hervorgehoben werden muss lediglich, dass sich Barons der Unvollständigkeit und des kontingenten Zuschnitts seiner Sammlung genau bewusst ist: Das lettischsprachige Territorium ist weder gleichmäßig noch vollständig repräsentiert. Wichtiger ist die Frage, wie Barons mit der enormen Mannigfaltigkeit des gesammelten Materials umgeht und wie er seine Entscheidungen begründet.5

Die Mannigfaltigkeit des gesammelten Materials ergibt sich zum ersten aus einer enormen Vielfalt von VariantenVariante; sehr viele der erfassten DainasDainas sind von unterschiedlichen Quellen in unterschiedlicher Form übermittelt. Zum zweiten konstatiert BaronsBarons, Krišjānis eine gewisse formale Vielfalt; neben trochäischen oder dayktylischen Vierzeilern finden sich viele andere Formen. Zum dritten gibt es eine große Bandbreite an Stoffen und Themen. Barons betont, es mache keinen Sinn, die einzelnen DainasDainas in längere narrative Zusammenhänge zu binden. Zwar lägen durchaus Überlieferungen vor, die offenbar auf den Vortrag einer Vielzahl thematisch zusammenhängender DainasDainas zurückgehen; Barons zufolge sind solche Vorträge aber allein mnemotechnisch motiviert, d.h., sie gehen auf Memorierübungen zurück. Die Zersplitterung der DainasDainas in Tausende von Vierzeilern erzeugt nun aber eine besonders markante Unübersichtlichkeit. Zum vierten zeigen die Einsendungen eine dialektaleDialekt/Mundart Vielfalt, die durch die im 19. Jahrhundert noch stark schwankende (in Barons’ Worten: „truhziga“; Barons 1894: xiv) OrthographieOrthographie des LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian weiter verstärkt wird (so dass im Einzelnen nicht unbedingt klar ist, ob eine Abweichung von zu Barons’ Zeit sich etablierenden StandardsStandard auf dialektalenDialekt/Mundart Einfluss zurückgeht oder auf orthographische Unkenntnis).6

BaronsBarons, Krišjānis’ Umgang mit der auch sprachlichen Mannigfaltigkeit seines Gegenstands, die sich auf all diesen Ebenen entfaltet, zeichnet sich dadurch aus, dass er Lösungen findet, die auf mehreren Ebenen zugleich Komplexität reduzieren – und vermutlich hat seine Arbeit gerade deshalb eine so enorme Wirkung entfaltet. Die wichtigste dieser Lösungen liegt in der Anordnung der DainasDainas, welche die anschließende Folkloristik im Großen und Ganzen bis heute beibehalten hat und mit der meines Wissens noch heute jedes lettischeLettland/Latvialettisch Schulkind spätestens in der fünften Klasse bekannt gemacht wird. Diese Anordnung folgt im Wesentlichen dem Lebensrhythmus des VolksVolk. So schreibt Barons: „Jo dabiſkaki dſeeſmu eedaliſchana peeſleenàs tautas dſihwei, jo weeglaki un pareiſaki kahrtotajam weikſees dſeeſmas ſawâs nodaļâs eeweetot“ („Je natürlicher sich die Einteilung der LiederLied an das Leben des VolksVolk anschmiegt, desto einfacher und richtiger wird es dem Herausgeber gelingen, die LiederLied ihren Abteilungen zuzuordnen“; Barons 1894: xii).7 Um aber dem Leben des VolksVolk nahezukommen, genügt es nicht, nach dem Inhalt der LiederLied zu gehen, vielmehr muss man wissen, „wann und wo sie eigentlich zu singen sind“ („kad un kur tas pateeſi dſeedamas“; Barons 1894: xii), und der Herausgeber „nedrihkſt rihkotees weeglprahtigi, pats dſeeſmu pilnigi neſapratis, tikai ahriſchki turotees pee kautkahda wahrda, kas tanî minets“ („darf nicht so leichtsinnig verfahren, dass er, ohne völlig zu verstehen, sich nur äußerlich an irgendein Wort hält, das darin [im LiedLied] vorkommt“; Barons 1894: xii). Barons wendet sich aber nicht nur gegen eine Anordnung nach den in den DainasDainas behandelten Themen (z.B. also in LiederLied über die ‚Elemente‘, über Flora, Fauna und das Menschenleben), sondern auch gegen eine Anordnung nach Herkunftsort. Das Argument, auf diese Weise könne die dialektaleDialekt/Mundart VarianzVarianz des LettischenLettland/LatviaLettisch/Latvian vor Augen geführt werden, lässt er nicht gelten:

Ari dſeeſmu uſrakſtitaji dialektus, ja maſ, tad wiſai pawirſchi, nepilnigi un nekonſekwenti eewehrojuſchi. Wiņu leelaka daļa pat no wideem, kur walda it noteikta ſawada islokſne, uſrakſtijuſchi dſeeſmas muhſu rakſtu walodâ ar retàm iſlokſchņu peedewàm, ta ka ſcho pehdeju dehļ ween nebuhtu pareiſi, wispahrejâ krahjumâ dſeeſmas pehz weetàm ſchķirt. Tos retos, dialektu ſiņâ nopeetnos, plaſchakos manuſkriptu krahjumus, kas muhſu rokas nahkuſchi, doſim pehz eeſpehjas krahjuma beigàs ſawruhp un pilnigakâ ortografijâ. Beidſot, dſeeſmu ſadaliſchana pehz weetam ſarauſta nepareiſi paſchas dſeeſmu grupas, un ſchķir lihdſigas dſeeſmas tahlu weenu no otras, beſ kahdeem panahkumeem preekſch paſchas leetas. (BaronsBarons, Krišjānis 1894: xiv)

Allerdings haben die Schreiber die DialekteDialekt/Mundart, wenn überhaupt, dann nur ganz oberflächlich, unvollkommen und inkonsequent berücksichtigt. Die meisten von ihnen, selbst diejenigen aus Gegenden, in denen eine besonders ungewöhnliche Aussprache üblich ist, haben die LiederLied in unserer SchriftspracheSchriftSchriftsprache aufgezeichnet, mit einigen wenigen Beigaben in der originalen Aussprache, und schon deshalb wäre es nicht richtig, die LiederLied nach Orten anzuordnen. Die wenigen mit Blick auf den DialektDialekt/Mundart ernstzunehmenden, umfassenderen Handschriftensammlungen, die in unsere Hände gekommen sind, werden wir nach Möglichkeit am Ende der Sammlung für sich und in verbesserter OrthographieOrthographie zu lesen geben. Schließlich würde die Anordnung nach Orten zusammengehörige LiederLied auseinanderreißen und ähnliche LiederLied weit voneinander entfernen, ohne dass in der Sache etwas gewonnen wäre.

Was aber ist diese ‚Sache‘, in der etwas zu gewinnen ist? Das Beispiel, das BaronsBarons, Krišjānis im Anschluss an diese Stelle gibt, ist ausgesprochen erhellend. Barons erläutert, dass von den vielen unterschiedlichen Typen von Hochzeitsliedern, die jeweils in konkreten Situationen eine konkrete Funktion haben, die nach dem bisher Gesagten nur der ethnographischEthnographieethnographisch bewanderte Herausgeber einschätzen kann, von den meisten Orten jeweils nur wenige überliefert sind. Ein Gesamtbild der lettischenLettland/Latvialettisch Hochzeitsliedtradition kann so nicht entstehen – und genau dieses Gesamtbild ist aber die Sache selbst.8 Unterstellt wird also nicht nur die rhythmische Gleichförmigkeit des Volkslebens in den Lebensläufen und im Jahresverlauf, sondern auch, dass das Volksleben diesem einen RhythmusRhythmus/rhythm im gesamten lettischsprachigen Territorium folgt und damit so etwas wie das lettischeLettland/Latvialettisch VolkVolk überhaupt erst erzeugt.

Mit der gesamtlettischen ethnographischenEthnographieethnographisch Synthese wird, so ist der soeben zitierten Passage zu entnehmen, zugleich das Problem der sprachlichen Vielfalt der Quellen gelöst, wie auch dasjenige der VariantenVariante: Dialektale Differenzen können weitgehend beseitigt werden, weil sie zwar Ausdruck einer auch BaronsBarons, Krišjānis wichtigen lokalen PartikularitätPartikularität/particularité sind, aber sich eben doch auf den Lebensrhythmus eines einheitlichen VolksVolk zurückbeziehen. VariantenVariante werden zwar gesammelt und Barons gibt auch an, sie hätten allesamt in die gedruckte Sammlung Eingang gefunden; tatsächlich aber genügt ein exemplarischer Abgleich mit dem dainu skapis, dem ‚Volksliederschrank‘, der die handschriftlichen Vorlagen für den Druck der DainasDainas enthält, um zu zeigen, dass das nicht stimmt.9 Vor dem Hintergrund dieses Homogenisierungsprogramms kann Barons noch die UnzeitgemäßheitZeitgemäßheitUnzeitgemäßheit vieler DainasDainas zum Ausdruck einer tieferen Volkseinheit umdeuten:

Preekſch jaunakeem dſihiwes apſtahkļeem laba daļa no wiņàm rahdijàs nowezejuſchàs. Bet iſlobot muhſu tautas dſeeſmu ihſto weſeligo kodolu, mums atklahjàs wiņâs zilweka gara labakee idealee zenteeni, zilweka ſirds un dwehſeles daiļakàs, tikumigakàs, dſiļakàs juhtas, kas nekad nenowezejàs, lai ari wiſs zits ahriſchks ſawa laika peederums pahrgroſàs. (BaronsBarons, Krišjānis 1894: xviii)

Vor dem Hintergrund der neueren Lebensumstände erscheint ein Teil von ihnen [der LiederLied] veraltet. Aber wenn wir aus unseren VolksliedernVolkVolkslied den lebendigen Kern herausschälen, dann finden wir in ihnen die besten idealen Bestrebungen und die schönsten, verlässlichsten und tiefsten Gefühle der Seele, die nie veralten, selbst wenn sich alles Äußere, seiner Zeit Zugehörige verändert.

Die SynchronisierungSynchronieSynchronisierung des gesamtlettischen Volkslebens, die BaronsBarons, Krišjānis unternimmt, stellt also zugleich eine Verbindung her zu einer mythischen, in Zyklen organisierten Zeit, die sich über die lineare Zeit des Geschichtsverlaufs hinweg erhält. Diese mythische Zeit macht Barons unter anderem dadurch zugänglich, dass er die Effekte von Sprachentwicklung (hier: die DialekteDialekt/Mundart) ausblendet bzw. harmonisiert. Das Ergebnis dieser Harmonisierung ist dann aber als Sprache vertraut und fremdFremdheitfremd zugleich: „Pawirſchi laſitas, tautas dſeeſmas ir uſ mums runà it kà ſweſchadu walodu; bet tiklihdſ mehs dſiļaki, nopeetnaki wiņâs eeſkatamees, tiklihdſ mehs tuwaki ar wiņâm eedraudſejamees, tàs ja zeeſchaki muhs peewelk“ („Oberflächlich gelesen sprechen die VolksliederVolkVolkslied auch zu uns wie eine Art fremdartige Sprache; aber sobald wir sie tiefer, ernsthafter ansehen, sobald wie uns näher mit ihnen anfreunden, dann ziehen sie uns umso stärker an“; Barons 1894: xix).

Dieser von BaronsBarons, Krišjānis unterstellte doppelte Effekt der von ihm im Druck synchron präsentierten VolksliedersammlungVolkVolkslied entspricht ziemlich genau der ambivalenten Haltung, die das Unternehmen gegenüber der Moderne einnimmt: Einerseits bequemt sich die nicht zuletzt sprachliche Homogenisierung der Sammlung den Bedürfnissen einer auf EinsprachigkeitEinsprachigkeit getrimmten Zeit an. Sie ist Teil eines modernen Programms von Nationenbildung – man erinnere sich nur an die mittlerweile kanonische Beschreibung von Nationalisierungsprozessen als Ergebnis medialer SynchronisierungSynchronieSynchronisierung bei Benedict AndersonAnderson, Benedict (1983). Andererseits stilisiert sich die Sammlung als der modernen Zeitordnung und ihrem Bedürfnis nach SynchronisierungSynchronieSynchronisierung gegenüber inkompatibel und eigen – sie ist eine der Moderne fremdeFremdheitfremd Sprache. Und das darin liegende Beharren auf Eigenheit wiederum ist auf das Hier und Jetzt des ausgehenden 19. Jahrhunderts bezogen, auf eine Situation der postkolonialenKolonialismuspostkolonial EmanzipationEmanzipation. Es ist insofern konsequent, dass Barons seine Sammlung mit einer Abteilung einleitet, die sich der Logik der Anpassung an die zyklischen Lebensprozesses des VolksVolk eigentlich entzieht. Am Anfang stehen in den Latwju DainasDainas die LiederLied über die LiederLied und das Singen – eine Art aus den Quellen geschöpfte Einführung in die fremdgewordene eigene Tradition, die im Folgenen entfaltet wird.10

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