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Volk
Jörn Retterath
Wenige Tage vor Weihnachten 1916 montierten Handwerker die Worte »DEM DEUTSCHEN VOLKE« über dem Westportal des Berliner Reichstagsgebäudes. Diesem Schritt waren über 20 Jahre Diskussion vorausgegangen. Die Anbringung des Schriftzugs, den der Reichstagsarchitekt Paul Wallot bereits in den 1890er-Jahren vorgeschlagen hatte, war zunächst am Widerstand Kaiser Wilhelms II. gescheitert. Erst während des Ersten Weltkriegs gab der Monarch sein Veto auf – allerdings ohne den Weihespruch ausdrücklich gutzuheißen. Mit der Installation der drei Wörter wollte die Reichsregierung die Stimmung in der Bevölkerung zugunsten des kriegführenden wilhelminischen Kaiserreichs heben. Den siebzehn jeweils sechzig Zentimeter hohen, aus französischen Geschützen der Freiheitskriege von 1813 gegossenen Großbuchstaben kam damit eine hohe symbolische und propagandistische Bedeutung zu.
War die vorgeschlagene Widmung seit der Errichtung des Reichstagsgebäudes 1894 ein Politikum gewesen, so konnte ihre Realisierung 1916 als ein Zugeständnis an die Kräfte verstanden werden, die auf Parlamentarisierung und Demokratisierung im Deutschen Reich drängten. Doch waren die angebrachten Worte bei näherer Betrachtung überaus heikel. Nicht nur, weil den Demokraten der Gestus, wonach der Kaiser dem Volk ein nur über begrenzte Macht verfügendes Parlament »schenke«, geradezu grotesk und anachronistisch anmutete. Auch blieb die Frage ungeklärt, wer oder was mit »DEM DEUTSCHEN VOLKE« überhaupt gemeint war. So verhinderte zum einen die Großschreibung aller Buchstaben Klarheit darüber, ob es sich hierbei um das deutsche oder um das Deutsche Volk handle, zum anderen ließ sich der Begriff Volk keineswegs nur im Sinne eines gleichberechtigten Staatsvolkes (demos) lesen. Ebenso konnte es als eine minderprivilegierte Schicht (plebs) oder eine Abstammungs- oder gar Rassengemeinschaft (ethnos) verstanden werden.
Das Beispiel der Aufschrift am Reichstag zeigt, dass der Volksbegriff definitionsbedürftig war und – wie im Weiteren dargelegt werden soll – noch immer ist. Unbestimmt oder ohne Kontext gebraucht, bleibt er vieldeutig. Nur auf den ersten Blick scheint klar, was gemeint ist, doch ergeben sich bei näherer Betrachtung unterschiedliche Bedeutungen, die zueinander in einem zumindest latenten Widerspruch stehen können. Spätestens seit dem frühen 19. Jahrhundert ist Volk ein interpretierbarer sowie – aufgrund der Diskrepanz zwischen seiner normativen Aufladung und seiner unklaren Bedeutung – schillernder Begriff. Ausgehend von diesem Befund soll im Folgenden danach gefragt werden, wie sich die Bedeutung des Wortes im Laufe der Zeit veränderte, ob es als ein »missbrauchter« Begriff gelten kann und welche Alternativen es zu seiner Verwendung gibt.
Ursprünglich wurde mit Volk eine konkrete Ansammlung beziehungsweise eine kleinere Gruppe von Menschen bezeichnet, die durch eine gemeinsame Tätigkeit oder Lebenssituation eine Gemeinschaft bilden. So wurden zum Beispiel eine Einheit Soldaten »Kriegsvolk« und die Besatzung eines Bootes »Schiffsvolk« genannt. Zugleich diente das Wort zur Bezeichnung von Personen aus den »unteren Schichten« und war dabei nicht selten negativ konnotiert. In der Bedeutung »Staatsvolk«, »populus«, etablierte sich der Begriff ab dem 17. Jahrhundert im staatsrechtlichen Diskurs.
Die eigentliche »kopernikanische Wende der semantischen Entwicklung des Volksbegriffs« (Reinhart Koselleck)1 setzte mit dem Ende des 18. Jahrhunderts ein. Infolge der Amerikanischen und Französischen Revolution, der Napoleonischen Kriege sowie durch die Romantik differenzierte sich der Begriff aus. Ihm wurden neue Bedeutungen zugeschrieben. Ab dem Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert kann dabei zwischen drei verschiedenen Hauptbedeutungen unterschieden werden:
Dem Volk als Gemeinschaft gleichberechtigter Staatsbürger (demos) kam in der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und in der in Frankeich mit der Revolution entstehenden demokratisch-republikanischen Ordnung die Rolle des Souveräns zu. Es trat an die Stelle des Monarchen von Gottes Gnaden und wurde zur neuen Legitimationsinstanz. Die Regierungsgewalt ging nun von den vormals Regierten aus. Damit bekam der Begriff in demokratisch gesinnten Kreisen in Deutschland einen Verheißungscharakter für die bislang Minderprivilegierten.
Bei ihrer Suche nach dem angeblich Urwüchsigen und Naturhaften stießen viele Dichter und Denker der Romantik auf die »unteren Schichten« (plebs). Johann Gottfried Herder etwa glaubte, durch die Erforschung von Sprache und Poesie des »einfachen Volkes« der »Seele des Volkes« nahezukommen. Eine Verklärung der »plebs« mit ihren Sitten, Gedichten, Märchen und Weisheiten setzte ein und sorgte dafür, dass diese nicht selten als eine Einheit, ja geradezu als ein Organismus gedacht wurde. In diesem Zusammenhang entstanden Begriffe wie »Volksgeist«, »Volksseele«, »Volkscharakter« oder »Volkskörper«. Das Volk wurde dabei als eine durch gemeinsame Kultur, Sprache und Abstammung konstituierte Gemeinschaft begriffen. Diese romantische Verklärung der »plebs« fand in Abgrenzung zur Aufklärung und zum Individualismus statt.
Ähnlich wie die demokratische Ordnung realisierte sich auch der Nationalstaat in Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht. Schlimmer noch: Infolge der preußischen Niederlage in den Napoleonischen Kriegen bei Jena und Auerstedt 1807 hatte Preußen sogar Teile seines Territoriums an Frankreich verloren. Diese Existenzkrise und die Notwendigkeit, Truppen zu mobilisieren, trugen dazu bei, dass Männer wie Scharnhorst, Neidhardt, Gneisenau und Clausewitz begannen, das preußische Heer zu reformieren. Dabei machten sie sich die verbreitete Sehnsucht nach einem Nationalstaat zunutze und förderten ein entsprechendes Zusammengehörigkeitsbewusstsein in der Bevölkerung. Als seine Basis und zugleich als ein Ersatz für den fehlenden deutschen Nationalstaat galt das Konzept der »Kulturnation«. In diesem fiel dem Volk als der auf gleicher Abstammung, Herkunft, Sprache, Geschichte, Brauchtum oder Religion basierenden Gemeinschaft (ethnos) die zentrale Rolle zu. Stellte sich die Gründung eines deutschen Nationalstaats nach dem Sieg über Napoleon zwar nicht ein, so konnte der Erfolg in der »Völkerschlacht« bei Leipzig 1813 doch als Bezugspunkt für die Nationalstaatsbewegung der folgenden Jahrzehnte dienen. Während das Konzept des »Volkes« als Abstammungsgemeinschaft auf der einen Seite den Unterschied zwischen Untertanen und Regierten negierte, schuf es auf der anderen Seite aber eine Abgrenzung zwischen »Innen« und »Außen«. Nur diejenigen, die dieser Gemeinschaft angehörten, konnten Mitglied der »Kulturnation« und somit des deutschen »Volkes« sein. Ähnlich wie bei der Bedeutungsvariante »plebs« wurde Volk im Sinne von »ethnos« zumeist als kollektive Einheit und damit losgelöst vom einzelnen Menschen gedacht. Die Konstituierungsmerkmale des »Volkes« als Abstammungsgemeinschaft unterschieden sich von denen der ursprünglichen Volksbedeutung insofern, als dass in der neuen Variante un- oder kaum veränderbare Kriterien wie Herkunft, Sprache oder Religion und nicht mehr Aspekte wie die kurzfristige Situation, der jeweilige Zweck oder das zufällige Zusammentreffen über die Zugehörigkeit zum Volk entschieden. Nicht selten vertraten die Verfechter des Konzepts einer »Kulturnation« damit auch die Vorstellung, die Deutschen seien anderen Nationen überlegen oder hätten eine göttliche Mission.
Diese drei Hauptbedeutungen des Volksbegriffs – »demos«, »plebs« und »ethnos« – bildeten sich seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert fast gleichzeitig heraus. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde das Wort Volk in der politischen Sprache häufig verwendet. Sowohl für Demokraten als auch für Nationalisten war (und blieb) es eine Sehnsuchts- und Verheißungsvokabel.
Eine Radikalisierung erfuhr der ethnische Volksbegriff Ende des 19. Jahrhunderts. Durch die Gründung des (kleindeutschen) bismarckschen Kaiserreichs 1871 war der Nationalstaat zwar verwirklicht worden, rechte Kritiker wie der Jurist Heinrich Claß führten aber zum einen an, dass nicht alle »Deutschen« zum Reich dazugehörten, und monierten zum anderen die Existenz von »fremdvölkischen« Minderheiten innerhalb des deutschen Staatsgebiets. Mit dem Status quo des Kaiserreichs wollten sie sich nicht zufriedengeben. Radikalnationalistische Vereinigungen wie der »Alldeutsche Verband« verfolgten offen eine Expansionspolitik und Pläne für eine »völkische Flurbereinigung«2. Das ethnisch als »biologisch-geschichtliche ›Ganzheit‹«3 definierte Volk wurde von ihnen zur richtungsweisenden Instanz erklärt. Dabei griffen sie romantische Vorstellungen auf und radikalisierten diese, etwa durch die Bezugnahme auf rassistische Theorien. Kompromisse wurden von ihnen verachtet und Fragen der Gegenwart zu existenziellen Entscheidungen über Fortbestand oder Untergang des Volkes erklärt. Ihr Denken war von einem Konglomerat aus antisemitischen, rassistischen, sozialdarwinistischen, kulturkritischen sowie lebensreformerischen Elementen geprägt und bildete keine einheitliche Ideologie. Eine weltanschauliche Klammer für diese – eher lose miteinander verbundene – »Bewegung« stellte der omnipräsente Bezug auf das organische, einheitliche, vor- und überstaatliche deutsche Volk, das von inneren und äußeren Feinden bedroht werde, dar. Aus diesem Grund etablierte sich »völkisch« als Fremd- und teils auch als Selbstbezeichnung für diese Weltsicht. Dieses Label konnte allerdings nur notdürftig überdecken, dass es unter den »Völkischen« keineswegs einen Konsens darüber gab, wie sich das Volk genau konstituiere. Der Begriff wurde häufig eher unbestimmt verwendet. Jeder Sprecher glaubte für sich zu »fühlen«, was das Volk war, doch standen rassistische und mystisch-metaphysische Vorstellungen innerhalb der »völkischen Bewegung« häufig unverbunden nebeneinander.
Eine Klammer bildete der Antisemitismus: Im Denken von Anhängern der völkischen Weltanschauung konnten »die Juden« niemals zum »deutschen Volk« dazugehören. Sie wurden als dessen größter Feind betrachtet. Ihnen wurde unterstellt, das »deutsche Volk« zu unterwandern und zu zerstören. »Das Zersetzende, das wir heute am Judentum bekämpfen, ist vor allem eine Folge seiner Fremdheit den Wirtsvölkern gegenüber«, so ein völkischer Publizist. »Daß Juden, Neger und andere nichteuropäische Rassen kein Gewinn für unser Volkstum sind, muß jedem von uns zur Selbstverständlichkeit werden.« Juden sollten, wie Polen und andere »Fremdvölkische« auch, vom deutschen Volk getrennt werden.4 Die Forderung nach einer »Lösung der Judenfrage«5 war in der »völkischen Bewegung« weitverbreitet – ob diese in der Vertreibung oder der physischen Vernichtung liege, blieb zumeist der Fantasie der Rezipienten überlassen.
Einen nennenswerten politischen Erfolg konnten die zahlenmäßig wenigen, aber in der öffentlichen Debatte lautstarken Anhänger »völkischer« Positionen im Jahr 1913 verbuchen. Mithilfe von Lobbygruppen wie dem »Alldeutschen Verband« und der »Deutschen Kolonialgesellschaft« erreichten sie, dass dem neuen Reichs- und Staatsangehörigkeitsrecht das »ius sanguinis« und nicht ein auf den Ort der Geburt abstellendes »ius soli« zugrunde gelegt wurde, dass das Deutsche Reich sich als Schutzmacht aller – auch der im Ausland lebenden – Deutschen verstand und dass »nichtdeutsches Blut von der Aufnahme in das deutsche Vaterland« abgewehrt werde.6 »In der Hauptsache«, so der deutsch-konservative Reichstagsabgeordnete Ernst Giese, müsse »die Abstammung, das Blut[,] das Entscheidende für den Erwerb der Staatsangehörigkeit« sein: »Diese Bestimmung dient hervorragend dazu, den völkischen Charakter und die deutsche Eigenart zu erhalten und zu bewahren«. Ein »ius soli« hingegen sei »unverträglich mit der Reinerhaltung unserer völkischen Eigenart«.7 Durch informelle Einflussnahme vereitelten die »Völkischen«, dass die von den Sozialdemokraten favorisierte Variante einer Staatsbürgernation im Reichstag eine Mehrheit fand. Das verabschiedete Gesetz galt in seinen Grundzügen bis 1999 weitgehend unverändert.
Bildeten die »Völkischen« auch nur eine quantitativ kleine Gruppe, so trugen sie doch durch unzählige Publikationen zur Bekanntmachung ihrer Vorstellungen bei. Werke, die im Umfeld dieser »Bewegung« entstanden, wie Rembrandt als Erzieher von Hans Langbehn (1890), Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts von Houston Stewart Chamberlain (1899), Das dritte Reich von Arthur Moeller van den Bruck (1923) oder Volk ohne Raum von Hans Grimm (1926) fanden den Weg in viele bürgerliche Wohnstuben und Bücherschränke – und bereiteten der Verbreitung entsprechenden Gedankenguts den Boden. Auch wenn die Nationalsozialisten bisweilen auf die »Völkischen« herabblickten und sich ab Mitte der 1920er-Jahre kritisch zum Begriff des »Völkischen« äußerten, um sich von der Vielzahl an »völkischen« Denkern und Gruppen abzugrenzen, standen sie doch in einer weltanschaulichen Ahnenreihe mit ihnen. Hitlers Reden und seine Programmschrift Mein Kampf waren durchzogen von »völkisch«-rassistischem Gedankengut. Auch in seinem Denken kam dem Volk ein herausragender Stellenwert zu. Das »deutsche Volk« zu »reinigen«, es »aufzuwerten« und seinen »Lebensraum« zu vermehren, war Hitlers oberstes Ziel. Hierzu propagierten er und die Nationalsozialisten eine Rassen- und Expansionspolitik, die rücksichtslos gegen vermeintliche »innere« und »äußere« Feinde des »deutschen Volkes« vorgehen müsse. So verkündete er bei einer Rede auf einer NSDAP-Versammlung in Heide am 14. Oktober 1928 etwa: »Jedes Volk hat ein Recht auf die ihm notwendige Bodenmenge und diese muß es sich verschaffen, muß es sich nehmen.«8 Juden gehörten in den Augen der Nationalsozialisten nicht zum »deutschen Volk« dazu. Das Programm der NSDAP von 1920 stellte lapidar fest: »Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist […]. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein.«9
Die beschriebene Radikalisierung der Begriffsbedeutung seitens der extremen Rechten führte allerdings nicht dazu, dass Volk im ausgehenden Kaiserreich und in der Weimarer Republik im allgemeinen Sprachgebrauch nur in einem ethnisch-rassistischen Sinne verwendet wurde. Der Begriff war weder einseitig »völkisch« aufgeladen, noch wurde er ausschließlich von entsprechenden Kreisen gebraucht. Vielmehr nutzten ihn Sprecher fast aller politischen Lager. In der Weimarer Republik wurde mit ihm sowohl für die Republik geworben, als auch diese bekämpft. Insgesamt scheint er aber wesentlich häufiger in der Bedeutung »demos« und »plebs« als in der explizit ethnischen Lesart verwendet worden zu sein. Jedoch wurde der Volksbegriff selbst bei Sprechern aus den Milieus, die die Republik unterstützten, selten zugunsten eines pluralistischen »demos« gebraucht. Auch das Volk der Staatsbürgernation ließ sich mit metaphysisch-holistischen Vorstellungen, etwa der von einem »Volkskörper« mit »Willen« und »Charakter«, aufladen. Eine solche – während der Weimarer Republik etwa im politischen Katholizismus häufig anzutreffende – Verwendungsweise negierte die Realitäten im neuen Staat und eröffnete Andockstellen für ethnische Konzepte.
Nichtsdestoweniger wurde der Volksbegriff während der Weimarer Republik in seinen verschiedenen Bedeutungen verwendet. Erst mit der Ausschaltung der politischen Opposition und der freien Presse ab 1933 änderte sich dies grundlegend. Der politisch-gesellschaftliche Diskurs wurde fortan in hohem Maße durch Staat und Partei kontrolliert, unliebsame Meinungsäußerungen konnten – sofern sie überhaupt noch (halb-) öffentlich getätigt wurden – hart bestraft werden. Für Weltanschauung, Politik und Propaganda der Nationalsozialisten war das »deutsche Volk« als biologistisch oder metaphysisch-holistisch gedachte rassistisch-ethnische Gemeinschaft von zentraler Bedeutung. Es und seine angeblichen Interessen dienten zur Legitimation von Ausgrenzung, Vernichtungskrieg und Genozid. Ihm hatte sich alles unterzuordnen – der Slogan »Du bist nichts – dein Volk ist alles«10 brachte ein solches Denken prägnant auf den Punkt. Die von den Nationalsozialisten postulierte und von vielen Deutschen bereits seit dem Ersten Weltkrieg erhoffte Verwirklichung einer harmonischen »Volksgemeinschaft« blieb Fiktion. Die Ansätze der Nationalsozialisten, eine solche klassenlose Gesellschaft zu schaffen, waren stets mit der Exklusion von angeblich »Volks-« und »Gemeinschaftsfremden« verbunden gewesen. Und selbst Hitler musste im April 1945 in seinem politischen Testament eingestehen, dass die »Verwirklichung einer wahren Volksgemeinschaft« die Aufgabe einer künftigen »nationalsozialistischen Bewegung« sein werde.11
Mit dem Untergang des »Tausendjährigen Reichs« und dem Selbstmord seines »Führers« verschwand der Volksbegriff 1945 nicht aus der deutschen Sprache. Zwar gibt es zur Verwendung des Wortes in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg keine systematischen Untersuchungen, doch ist auffallend, dass selbst explizite Gegner des Nationalsozialismus nicht auf den Volksbegriff verzichteten. Bemerkenswert – und auf den ersten Blick überraschend – ist, dass das Wort gerade im sozialistischen deutschen Teilstaat prominent gebraucht wurde. »Volkskammer«, »Volkspolizei«, »Volkseigener Betrieb« sind nur einige Beispiele für die in der DDR etablierten Volkskomposita. In der Nutzung des Wortes Volk brachte die Staats- und Parteiführung wohl zuvorderst ihre Überzeugung zum Ausdruck, dass nunmehr die »plebs« zur Macht gelangt sei. Damit knüpfte die SED an eine tradierte sozialistische Verwendungsweise des Begriffs an. Zudem schwangen darin der Verweis auf den »demos« und der Selbstanspruch, eine demokratische Republik zu sein, mit. Der Bezug auf das Volk ließ aber auch darüber hinausgehende Deutungen zu: Wendungen wie »Volk der Deutschen Demokratischen Republik« oder »Nationale Volksarmee« konnten durchaus ethnisch verstanden werden.
Zwar wurde der Volksbegriff in der Bundesrepublik nicht so prominent verwendet wie in der DDR, doch blieb auch hier das Wort in der politischen Sprache erhalten. In der ersten Sitzung des Deutschen Bundestags am 7. September 1949 etwa nutzten sowohl Abgeordnete der CDU als auch der SPD den Terminus. Nicht selten wurde in den Reden das »deutsche Volk« als Opfer von Krieg und Nationalsozialismus dargestellt.12 Und auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland fand das Wort wiederholt Eingang, etwa in der zentralen Bestimmung, wonach »alle Staatsgewalt […] vom Volke«13 ausgehe. Ähnlich wie schon in der Weimarer Reichsverfassung wurde der Begriff in der Bonner Konstitution nicht näher definiert. Jedoch bildete sich – im Gegensatz zu Weimar – in der Staatsrechtslehre der Bundesrepublik keine antipluralistische Mehrheitsmeinung heraus, der zufolge das Volk ein metaphysisches Wesen sei, über der Verfassung stehe und sich sein Wille nicht in Wahlergebnissen fassen lasse. Volk wurde in der Bundesrepublik stattdessen zumeist als pluralistischer »demos« begriffen. Dies mag mit der zunehmenden Akzeptanz des westlichen Demokratiemodells zusammenhängen. Hinzu trat aber wohl auch eine Veränderung des Sprachduktus. Die vormals häufig von Pathos und »existenziellen«14 Kategorien durchzogene Semantik kam in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunehmend aus der Mode.
Ein kurzzeitiges und prominentes Comeback erlebte der Volksbegriff im Herbst und Winter 1989/90 auf den Demonstrationen in der DDR. Mit Parolen wie »Wir sind das Volk« drückten die Bürgerinnen und Bürger ihre Unzufriedenheit mit dem politischen System und der herrschenden Partei der DDR aus und machten deutlich, dass sie der »demos« und nicht länger die »plebs« seien. Das weitgehend machtlose, von der SED regierte Volk erinnerte die Mächtigen an den demokratischen Anspruch des »Arbeiter- und Bauernstaates«. Nach dem Fall der Berliner Mauer und der einsetzenden Hoffnung auf eine baldige Vereinigung beider deutscher Staaten wurde auf den Transparenten immer häufiger das »das« zu einem »ein« – und somit zur Forderung nach einer deutschen Einheit. Aus dem emanzipatorischen Ruf gegen die Herrschenden wurde das – nicht nur in einem freiheitlich-demokratischen, sondern durchaus auch in einem ethnisch-nationalistischen Sinne zu verstehende – Bekenntnis zum Zusammenschluss aller Deutschen in einem Staat.
Im Deutschland der Gegenwart wird der Volksbegriff vor allem von rechtspopulistischen und -extremen Gruppierungen wie Pegida oder der AfD häufig verwendet. Nicht selten machen sich diese die verschiedenen Bedeutungen des Wortes zunutze. Das bei Pegida-Protesten skandierte »Wir sind das Volk« nimmt Bezug auf die Demonstrationen in der Endphase der DDR. In dem Slogan kommt die Vorstellung der Protestierenden zum Ausdruck, »das Staatsvolk« zu verkörpern, das von »denen da oben« nicht gehört werde und das seine Rechte gegenüber den Herrschenden einfordern müsse. Neben dem Verweis auf »demos« und »plebs« spielt bei den Pegida-Demonstrationen, die sich gegen Zuwanderung und eine angebliche Islamisierung Deutschlands richten, aber auch die »ethnos«-Bedeutung eine wichtige Rolle. Mit dem mehrdeutigen Volksbegriff scheint es Pegida zu gelingen, sowohl unzufriedene Konservative als auch eingefleischte Rechtsextreme zu erreichen. Nicht zuletzt in den Reden auf den Protestkundgebungen wird deutlich, dass unter den Demonstranten die Überzeugung verbreitet ist, exklusiv definieren zu können, wer zum »deutschen Volk« dazugehört – und wer nicht. Äußerungen wie die, der zufolge die »deutsche Volksgemeinschaft« krank sei und »unter einem Befall von Schmarotzern und Parasiten« leide, welche dem deutschen Volk »das Fleisch von den Knochen fressen« würden,15 knüpfen unverhohlen an völkische, biologistisch-rassistische Semantiken vergangen geglaubter Jahrzehnte an. Zwar sind führende Politiker der AfD mit ihrer Forderung, Begriffe wie »Volksgemeinschaft«16 oder »völkisch«17 zu rehabilitieren, außerhalb der eigenen Partei auf teils scharfe Ablehnung gestoßen, doch scheint hinter solchen Vorstößen der Versuch zu stehen, die Grenzen des »Sagbaren« zu verschieben und durch gezielte Provokationen Aufmerksamkeit und Wählerstimmen vom rechten Rand des politischen Spektrums zu gewinnen. Ob es der AfD langfristig gelingen wird, entsprechende, vom Nationalsozialismus imprägnierte Wörter in die politische Sprache zu reintegrieren, ist fraglich. Kurzfristig erfolgreicher scheint hingegen das Bestreben zu sein, sich als Stimme der angeblichen entrechteten und ungehörten »plebs« zu gerieren – und sich so das Image einer Anti-Establishment-Partei zu geben, die die »wahren« Interessen des Volkes vertrete und unbequeme Wahrheiten ausspreche.
Wie der Blick in die Herkunfts- und Verwendungsgeschichte des Volksbegriffs zeigt, war dieser spätestens im 19. Jahrhundert schillernd geworden und hatte sich idealtypisch in die Bedeutungen »plebs«, »demos« und »ethnos« ausdifferenziert. Welche davon ursprünglicher war als die andere, lässt sich kaum entscheiden. Feststeht: Dem Begriff konnten seit dem 19. Jahrhundert sowohl exkludierende wie inkludierende, liberale wie nationalistische und pluralistische wie holistische Vorstellungen innewohnen. Er wurde daher nicht gezielt »missbraucht«, sondern hatte sich zu einem mehrdeutigen Hochwertwort entwickelt, das von unterschiedlichsten politischen Milieus verwendet wurde. Abgesehen von der Sondersituation während der nationalsozialistischen Diktatur gelang es keinem Lager, den Volksbegriff für sich zu okkupieren und ein Bedeutungsmonopol über ihn zu errichten.
Zwar hat – im Vergleich zur ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts – die Verwendungshäufigkeit des Wortes in der politischen Sprache stark abgenommen, doch zeigt der Blick auf Pegida und die AfD, dass »Volk« auch heute noch als politischer Kampfbegriff genutzt wird. Außerhalb von rechtspopulistischen und -extremen Kreisen scheinen aber häufig andere Semantiken wie »die Menschen im Lande« oder Ähnliches an seine Stelle getreten zu sein.
Auch über einhundert Jahre nach ihrer Anbringung stehen weiterhin die Worte »DEM DEUTSCHEN VOLKE« über dem Eingang zum deutschen Parlament. Im Jahr 2000 schuf jedoch der Projektkünstler Hans Haacke in Auseinandersetzung mit diesem Schriftzug das Kunstwerk »Der Bevölkerung«, das sich in einem Lichthof des Reichstagsgebäudes befindet. Mit seiner Installation distanziert sich Haacke von der Widmung am Westportal. Er erklärte dazu, dass fast 10 Prozent der Bewohner der Bundesrepublik keine deutschen Staatsbürger seien und ein Volksbegriff, der »eine Blutsgemeinschaft« suggeriere, noch immer »Unheil« stifte.18 Für seinen alternativen Schriftzug hatte sich der Künstler von Bertolt Brechts Aussage aus dem Jahr 1935 inspirieren lassen: »Wer in unserer Zeit statt Volk Bevölkerung […] sagt, unterstützt schon viele Lügen nicht. Er nimmt den Wörtern ihre faule Mystik. […] Die Bevölkerung eines Landstriches hat verschiedene, auch einander entgegengesetzte Interessen, und dies ist eine Wahrheit, die unterdrückt wird.«19 Und in der Tat kann die Verwendung des Wortes »Bevölkerung« in der politischen Sprache eine Alternative zum Volksbegriff bilden, ebenso wie die quantitative Differenzierung in Mehrheit und Minderheit dazu beitragen kann, »das Volk« nicht als monolithischen Block zu denken. Angesichts der Tatsache, dass »das Volk« der Souverän in der Demokratie ist, scheint es gleichwohl unwahrscheinlich, dass der Volksbegriff gänzlich aus der politischen Sprache verschwinden wird. Sich der verschiedenen Bedeutungen des Wortes im Klaren zu sein und es, seinen Gebrauch sowie seine Verwendungskontexte immer wieder kritisch zu hinterfragen, stellt eine Möglichkeit dar, mit ihm umzugehen.
1Fritz Geschnitzer/Reinhart Koselleck/Bernd Schönemann/Karl Ferdinand Werner: Volk, Nation, Nationalismus, Masse, in: Otto Brunner/Werner Conze/Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 7: Verw–Z, Stuttgart 1992, S. 141-431, hier S. 283.
2Peter Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2007, S. 334.
3Wolfgang Tilgner: Volk, Nation und Vaterland im protestantischen Denken zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus (ca. 1870–1933), in: Horst Zilleßen (Hg.), Volk, Nation, Vaterland. Der deutsche Protestantismus und der Nationalismus, Gütersloh 1970, S. 135-171, hier S. 147.
4F. Lehmann: Rassenreinheit, in: Deutschlands Erneuerung (7), 1923, Nr. 6, S. 316-323, hier S. 320/322.
5So z. B. ebd., S. 320.
6Anton Eugen Beck 1912 im Deutschen Reichstag, zit. n. Peter Walkenhorst: Nation – Volk – Rasse. Radikaler Nationalismus im Deutschen Kaiserreich 1890–1914, Göttingen 2007, S. 161.
7Ernst Giese 1914 im Deutschen Reichstag, zit. n. ebd., S. 161.
8Zit. n. Adolf Hitler: Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933, Bd. 3, Teil 1, hg. v. Institut für Zeitgeschichte, München u. a. 1994, Dok. 36, S. 150-152, hier S. 151.
9Programm der Nationalsozialisten Deutschen Arbeiterpartei, 1920, abgedruckt in: Wilhelm Mommsen (Hg.): Deutsche Parteiprogramme, München 1960, S. 547-550, hier S. 548.
10Hitler gebrauchte diesen – später vor allem in der Hitlerjugend stark propagierten – Ausspruch bereits 1931; Adolf Hitler: Rede auf NSDAP-Gauparteitag in Chemnitz, 7.6.1931, zit. n. ders., Reden, Schriften, Anordnungen. Februar 1925 bis Januar 1933. Bd. 4/1, hg. und bearb. v. Constantin Goschler, München u. a. 1994, S. 403-405, hier S. 405.
11Hitlers politisches Testament, aufgesetzt im Bunker der Reichskanzlei in Berlin am 29.4.1945, zit. n. Percy Ernst Schramm (Hg.): Kriegstagebuch des Oberkommandos der Wehrmacht (Wehrmachtführungsstab) 1940–1945, Bd. 4/2, Herrsching 1982, S. 1666-1669, hier S. 1668.
12So z. B. Alterspräsident Paul Löbe: Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode, 1. Sitzung, Stenografischer Bericht, 7.9.1949, S. 1-7, hier S. 2, ‹http://dip21.bundestag.de/dip21/btp/01/01001.pdf›, (9.3.2020).
13Art. 20 Abs. 2, Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland vom 23.5.1949, Bundesgesetzblatt vom 23.5.1949, S. 1-19, hier S. 3.
14Thomas Mergel: Parlamentarische Kultur in der Weimarer Republik. Politische Kommunikation, symbolische Politik und Öffentlichkeit im Reichstag, Düsseldorf 2005, S. 283.
15So der sächsische AfD-Politiker Thomas Göbel bei einer PEGIDA-Demonstration im Juni 2017 in Dresden, zit. n. Sebastian Leber: So extrem sind die Kandidaten der AfD, in: Der Tagesspiegel, 21.9.2017,‹ https://www.tagesspiegel.de/themen/reportage/rechte-vor-einzug-in-den-bundestag-so-extrem-sind-diekandidaten-der-afd/20350578.html›, (6.3.2020).
16André Poggenburg, MdL [AfD-Landesvorsitzender in Sachsen Anhalt] am 30.12.2015 auf Facebook, ‹https://www.facebook.com/poggenburg/posts/1249762595039034›, (9.3.2020).
17Frauke Petry [AfD-Bundesparteivorsitzende] zit. n. Beat Balzli/Matthias Kamann: Petry will den Begriff »völkisch« positiv besetzen, in: Die Welt, 11.9.2016, ‹https://www.welt.de/politik/deutschland/article158049092/Petry-will-den-Begriff-voelkisch-positiv-besetzen.html›, (9.3.2020).
18So Hans Haacke im Dezember 1999, zit. n. Eva Barlosius: Die Demographisierung des Gesellschaftlichen. Zur Bedeutung der Reprasentationspraxis, in: dies./Daniela Schiek (Hg.), Demographisierung des Gesellschaftlichen. Analysen und Debatten zur demographischen Zukunft Deutschlands, Wiesbaden 2007, S. 9-34, hier S. 9.
19Bertolt Brecht: Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit, in: Bertolt Brecht, Gesammelte Werke in 20 Bänden, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1967, S. 222-239, hier S. 231.