Kitabı oku: «TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv», sayfa 2

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Die Lücke in der Bibliothek

Autoren arbeiten nicht voraussetzungslos, sie schreiben – bewusst oder unbewusst – vorhandene Literatur fort. Ihre Büchersammlung bezeugt, was sie gelesen haben und bildet oft einen Schlüssel zum literarischen Werk. Der Aussagewert von Autorenbibliotheken ist jedoch von unterschiedlicher Natur und Qualität. Sind dort Erkenntnisse über literarische Einflüsse zu gewinnen, handelt es sich um Arbeitsmaterialien, die Eingang in die literarische Fiktion fanden, oder war der Autor schlicht ein Bücherliebhaber, dessen Sammlung ein persönliches Profil aufweist? Unterscheiden muss man zunächst zwischen der realen Bibliothek, die den Weg ins Magazin gefunden hat, und der virtuellen Bibliothek, die den tatsächlichen Lektürekanon eines Autors umfasst. Autorenbibliotheken kommen meist mit dem Nachlass ins Literaturarchiv. Sie sind eine Bestandsaufnahme zum Zeitpunkt des Ablebens ihres Besitzers (sofern nicht Erben schon wertvolle Stücke verkauft oder verschenkt haben). Neben gelesenen Werken finden sich dort von Schriftstellerkollegen übersandte, oftmals gewidmete Bücher, aber auch von Verlagen oder Autoren zugeschickte Rezensionsexemplare. Die Dynamik einer Sammlung – wann und wo wurde das Buch erworben, wann und warum hat der Besitzer sich davon getrennt – bleibt meist verborgen, hat der Autor nicht entsprechende Vermerke vorgenommen.

Das Deutsche Literaturarchiv Marbach besitzt die Büchersammlungen unter anderem von Gottfried Benn, Hans Blumenberg, Ernst Jünger, Siegfried Kracauer, Martin Heidegger, Hermann Hesse und W. G. Sebald. Die dort vorhandene Bibliothek von Paul Celan umfasst 4697 Bände, doch dies ist nur ein Teil: Eine Rekonstruktion der virtuellen Bibliothek erweitert diesen Bestand um 1519 Titel, die Celan nachweislich besessen hat, die aber nicht überliefert sind. Der online einsehbare Katalog Kallías (Modul Bibliothek)45 liefert außerdem Informationen zu früheren Standorten, sogar zur ursprünglichen Aufstellungsordnung der Bücher in Paris und Moisville. Im Fall Celan ist die Relevanz der Autorenbibliothek für die Forschung seit Langem bekannt. Ein Fund der besonderen Art ist Alexander Spoerls heiterer Ratgeber »Teste Selbst. Für Menschen, die ein Auto kaufen«, die auf den ersten Blick skurril wirkende »Quelle« für die hermetischen Gedichte »Die herzschriftgekrümelte« und »Unverwahrt«.46

Bücher haben bekanntlich ihre Schicksale, in Autorenbibliotheken sind sie gebündelt. Stefan Zweigs Bibliothek umfasste Mitte der 1930er Jahre etwa 10 000 Bände, von denen heute noch rund 1300 nachweisbar sind. Obwohl nur ein Bruchteil bekannt ist, erlaubt das im Rahmen von »Stefan Zweig digital« erarbeitete Verzeichnis einen Einblick in die von Zweig wahrgenommene, gelesene und für seine Werke genutzte Literatur.47 Dabei ist zu beachten, dass die im Katalog enthaltenen Bücher zu keinem Zeitpunkt gleichzeitig in seiner Bibliothek vorhanden waren. Mit der Flucht ins Exil und der Auflösung des Haushalts in Salzburg 1936 / 1937 wurde der allergrößte Teil der Bücher verkauft oder verschenkt. Für seine neue Wohnung in London stellte sich Zweig aus ausgewählten Resten und Neuerwerbungen eine kleinere Arbeitsbibliothek zusammen. Über den eigenen Besitz hinaus nutzte er – vor allem in den Jahren des Exils – auch Bücher aus öffentlichen Sammlungen. Die Rekonstruktion der virtuellen Bibliothek wurde zur akribischen Detektivarbeit: Da nur ein geringer Teil der Bände dem früheren Besitz Zweigs durch Namenseinträge oder Widmungen auf den ersten Blick eindeutig zugeordnet werden kann, spielte bei der Katalogisierung die Ermittlung weiterer Provenienzmerkmale wie beispielsweise den in Zweigs Bibliothek benutzten Signaturen eine besondere Rolle. In den einzelnen Katalogeinträgen wurden auch die zahlreichen Standortangaben und Aufstellungssysteme festgehalten, deren Bedeutung noch nicht vollständig entschlüsselt werden konnte. Signaturreihen, wechselnde Nummernsysteme und wiederkehrende Kombinationen in thematisch ähnlichen Büchern lassen jedoch Rückschlüsse auf frühere Aufstellungen und auf Fehlstellen in den vorhandenen Beständen zu.

Nicht alles hatte Thomas Mann vor den Nationalsozialisten retten können: Gerade mal die Hälfte der Bücher aus seiner Bibliothek hatten Erika, Golo und Freunde in die Schweiz geschafft, als die Münchner Villa in der Poschinger Straße am 25. August 1933 beschlagnahmt wurde. Recherchen der Arbeitsgruppe NS-Raubgutforschung ergaben, dass die Bücher mit dem Vermerk »Herkunft unbekannt« in den Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek integriert wurden. 78 Bände, oftmals mit Widmungen versehen, konnten als Werke aus der Privatbibliothek Thomas Manns identifiziert und dem Archiv in Zürich übergeben werden.

Thomas Manns Bibliothek ist Teil des an der ETH Zürich bewahrten Nachlasses. Wobei es sich nicht um »seine Bibliothek« handelt, sondern auch die seiner Frau Katia, überdies befinden sich Bände mit dem Eigentumsvermerk von Heinrich Mann oder mit Lesespuren von Klaus Mann in der Sammlung.48 Diese Nachlassbibliothek ist durch eine Datenbank mustergültig erschlossen.49 Man kann sortieren nach Urheberschaft, Publikationsjahr etc. Auch die Lesespuren sind differenziert erfasst. Der Filter »Phänomen« bietet die Unterkategorien Marginalie, Korrektur, Ausrufezeichen, Fragezeichen, Unterstreichung, Anstreichung, Häkchen usw.; die Farbe der Stiftspur ist ebenso verzeichnet wie deren Ausprägung (einfach, mehrfach, ausradiert). Im Netz sind jedoch meist nur Miniaturen der jeweiligen Seiten zu sehen – auch hier gilt: »Inhalte aus rechtlichen Gründen gesperrt. Zugang vor Ort im Thomas-Mann-Archiv.«

Auch eine Bibliothek kann, wie Anke Jaspers am Fall Thomas Mann aufgedeckt hat, eine Autorschaftsinszenierung sein. Als ein ehemaliger Schulkamerad nach dem Zweiten Weltkrieg ein Thomas-Mann-Archiv in Lübeck plante, nutzte der Schriftsteller die Gelegenheit, einen Teil seiner immens angewachsenen Bibliothek abzustoßen. Er sortierte jedoch nicht aus, was ihm nicht des Sammelns wert erschien, sondern schickte im Gegenteil Erstausgaben und Übersetzungen seiner Werke, zudem Sekundärliteratur, Porträts und Darstellungen, die ihm besonders wichtig waren. Schon bei diesem ersten, noch privaten Archiv zeigte sich: »Thomas Mann konzipierte sich selbst innerhalb seines Nachlasses als handelndes Subjekt und als behandeltes (Forschungs-)Objekt.«50

Neben ihren eigenen Beständen nutzen Autoren auch öffentliche Bibliotheken. Die Ausleihvorgänge dürften aber nur noch in seltenen Fällen nachzuverfolgen sein. Im Netz wurde eine Karte aus der Bibliothek des DDR-Schriftstellerverbands angeboten, ein Buch, das nicht in der DDR zu haben war: John Dos Passos’ »Jahrhundertmitte«, erschienen bei Rowohlt 1963. Erstmals ausgeliehen wurde das Buch am 26. Februar 1964. An siebter Position: Christa Wolf. Am 16. August 1965 lieh sich Wolf das Buch aus, am 30. November gab sie es zurück. Wie alle Schriftsteller, die vor oder nach ihr den Roman entliehen, Elfriede Brüning, Rudi Stahl oder Richard Pietraß, hat Christa Wolf persönlich unterschrieben, und so wurde die graue Karteikarte zum Objekt des Autographenhandels.

Die Literaturwissenschaft hat den »Randkulturen« in letzter Zeit verstärkt ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Uwe Wirth siedelt Lesespuren »an der Schnittstelle zwischen Leseprozess und Schreibprozess« an und sieht in Anstreichungen oder Randbemerkungen »Inskriptionen, die als avant-intertextuelle Indices fungieren können«.51 Magnus Wieland setzt dagegen die These, »dass sich die wirklich produktive Lektüre nur selten in Inskriptionen niederschlägt, dass sich der durch Literatur empfangene Einfluss gerade nicht materiell belegen lässt, weil er oft unbemerkt bzw. unbewusst erfolgt«.52 Den aus der Rekonstruktion von Autorenbibliotheken zu gewinnende Erkenntniswert schätzt er entsprechend gering ein. »Was wir von Autorenbibliotheken erfahren können, ist lediglich, welche Spuren die Besitzer in ihnen hinterlassen und wie sie sich lesend selbst darin eingeschrieben haben. Welche Eindrücke sie jedoch produktiv aus ihnen empfangen haben, ist eher im Hinblick auf ihr eigenes Werk als im Rückblick auf die Autorenbibliothek zu beantworten.«53

Letzte Meldung

»Marbachs Millionenplan. Das Literaturarchiv wird um- und ausgebaut. (…) Vorgestellt wurde ein Masterplan für Neu- und Umbauten im Gesamtvolumen von 130 Millionen Euro. Dazu kam die freudige Kunde, dass aus dem Bundeshaushalt des kommenden Jahres 73 Millionen Euro Fördermittel ans DLA gehen: zur Sicherstellung der Bau- und Digitalisierungsvorhaben, denen sich (Sandra) Richter besonders verschrieben hat. (…) Fertig sein soll alles spätestens 2033, weil Marbach dann eine Landesgartenausstellung ausrichten will.«54

1 Heimo Schwilk: »Im Endlager der Literatur«, in: »Die Welt«, 29.12.2010. — 2 Hanna Engelmeier: »Selbsteinlieferung oder: Vorlass nach Marbach!«, in: »Merkur«, 2018, H. 830, S. 33–46, hier S. 43. — 3 Ulrich Raulff: »Sie nehmen gern von den Lebendigen. Ökonomien des literarischen Archivs«, in: Knut Ebeling / Stephan Günzel (Hg.): »Archivologie. Theorien des Archivs in Philosophie, Medien und Künsten«, Berlin 2009, S. 223–232. — 4 Engelmeier: »Selbsteinlieferung«, a. a. O., S. 34. — 5 Schwilk: »Im Endlager der Literatur«, a. a. O. — 6 Das BKM unterstützte 2017 fünf Ankäufe für Marbach mit insgesamt rund 250 000 Euro, darunter waren 60 000 Euro für den Vorlass Sibylle Lewitscharoff, 87 000 Euro für den Vorlass Michael Krüger. Der Ankauf des Reclam-Verlagsarchivs wurde vom Bund mit rund 11 600 Euro gefördert. Auch zwei Nachlässe, wie man sie traditionell im Literaturarchiv vermutet, wurden erworben: Der Nachlass Bernhard von Brentanos (Bundesanteil 23 300 Euro) und der Briefwechsel Gottfried Benn / Ursula Ziebarth (über 200 Briefe, Bundesanteil 66 600 Euro). Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung, Pressemitteilung 333, 19.9.2017. — 7 Felicitas von Lovenberg: »Ein Abschied auf Raten«, in: »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 31.10.2009. — 8 Siegfried Lokatis: »Verantwortliche Redaktion. Zensurwerkstätten der DDR«, Stuttgart 2019, S. 546. — 9 Ulrich von Bülow / Sabine Wolf (Hg.): »DDR-Literatur. Eine Archivexpedition«, Berlin 2014. — 10 Michael Knoche: »Genehmigungsdruck«, in: »Süddeutsche Zeitung«, 1.8.2019. — 11 Der Vorlass Christian Kracht ist noch nicht erschlossen. Erste Einblicke bietet Jan Küveler: »Notizen zu einer Poetik des Nichts«, in: »Die Welt«, 7.12.2019. — 12 Ulrich Raulff: »Wie kommt die Literatur ins Archiv – und wer hilft ihr wieder heraus?«, in: »Sinn und Form«, 2006, H. 3, S. 403–413. — 13 Knut Ebeling / Stephan Günzel: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): »Archivologie«, a. a. O., S. 7. — 14 Ebd. — 15 Michel Foucault: »Archäologie des Wissens«, Frankfurt / M. 2020, S. 187. — 16 Ebd. — 17 Ebeling / Günzel: »Einleitung«, a. a. O., S. 18. — 18 Jacques Derrida: »Dem Archiv verschrieben. Eine Freudsche Impression«, Berlin 1997, S. 12. — 19 Ebd. — 20 Ebeling / Günzel: »Einleitung«, a. a. O., S. 13. — 21 Aleida Assmann: »Erinnerungsräume. Formen und Wandlungen des kulturellen Gedächtnisses«, München 2006, S. 344. — 22 Ebd., S. 345. — 23 Ebd., S. 134. — 24 Ebd., S. 345. — 25 Ebd., S. 134. — 26 Boris Groys: »Über das Neue. Versuch einer Kulturökonomie«, München 1992, S. 179. — 27 Ebd., S. 23. — 28 Ebd., S. 49. — 29 Moritz Baßler: »Die kulturpoetische Funktion und das Archiv. Eine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie«, Tübingen 2005, S. 181. — 30 Ebd., S. 180 f. — 31 Moritz Baßler: »Der deutsche Pop-Roman. Die neuen Archivisten«, München 2002. — 32 Thomas Kling: »Das brennende Archiv«, Frankfurt / M. 2012, S. 7. — 33 Plattform Else Lasker-Schüler: URL: http://www.laskerschuelerarchives.org (15.12.2020). — 34 Michael Gasser: »Alles erschlossen, alles digitalisiert – Der moderne Zugang zum Thomas-Mann-Archiv der ETH-Bibliothek. Ein Projektbericht«, in: »Bibliothek. Forschung und Praxis«, 2015, Nr. 3, S. 378–383. — 35 Jährlich macht das Archiv in Zusammenarbeit mit dem S. Fischer Verlag und mit Genehmigung der Erbengemeinschaft ausgewählte Originalhandschriften von Thomas Mann online zugänglich. Mit der 2020 erfolgten Teilaufschaltung der Handschriften wurden zum Beispiel Manns Korrekturrückmeldungen zum »Der Zauberberg« an den Verlag ins Netz gestellt. — 36 URL: http://handkeonline.onb.ac.at (15.12.2020) — 37 Zu Handkeonline vgl. Vanessa Hannesschläger: »Analoge Literatur und digitale Forschung. Perspektivenverschiebung in Online-Projekten von Literaturarchiven«, Berlin 2017. — 38 Aus diesem Anlass führte Ulrich von Bülow ein Gespräch mit Handke über seine Tagebücher, das im »Marbacher Magazin 161: Das stehende Jetzt. Die Notizbücher von Peter Handke« neben Essays über Tagebuch-Notizen zu Spinoza und Heidegger abgedruckt ist. Der bibliophil aufgemachte Band mit farbigen Faksimiles ist das Gegenstück zur Online-Präsentation der Notizbücher. — 39 Vgl. Georg Vogeler: »Das Digitale Archiv. Der Computer als Mediator, Leser und Begriffsbildner«, in: Klaus Kastberger / Stefan Maurer / Christian Neuhuber (Hg.): »Schauplatz Archiv. Objekt – Narrativ – Performanz«, Berlin 2019, S. 75–87, hier S. 77. — 40 Hannesschläger: »Analoge Literatur und digitale Forschung«, a. a. O. — 41 Ebd. — 42 In Anlehnung an Boris Groys konstatiert Magnus Wieland: »Allein die stationäre Aufbewahrung an genau einem, nicht jederzeit zugänglichen Ort bewirkt die Auratisierung des Originals.« Magnus Wieland: »Aura – Von der Dignität zur Digitalität des Dokuments«, in: Kastberger u. a. (Hg.): »Schauplatz Archiv«, a. a. O. S. 89–105, hier S. 94. — 43 Vogeler: »Das Digitale Archiv«, a. a. O., S. 85. — 44 Julia Encke: »Exit-Strategie.Herrndorfs Revolver«, in: »Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«, 13.4.2016. — 45 Vgl. https://www.dla-marbach.de/bibliothek/spezialsammlungen/bestandsliste/bibliothek-paul-celan/ (15.12.2020). — 46 Clement Fradin: »Mit dem Buch / gegen das Buch schreiben. Zu dem Gedicht ›Unverwahrt‹ von Paul Celan und der Lektüre von Alexander Sperls Buch ›Teste selbst‹«, in: Stefan Höppner u. a. (Hg.): »Autorschaft und Bibliothek. Sammlungsstrategien und Schreibverfahren«, Göttingen 2018, S. 130–154. — 47 Informationen zur Bibliotheksgeschichte, zu den Beständen, den Provenienzmerkmalen und zu einzelnen Büchern bietet die Publikation: Stephan Matthias / Oliver Matuschek: »Stefan Zweigs Bibliotheken«, Dresden 2018. — 48 Anke Jaspers: »(Frau) Thomas Manns Bibliothek? Autorschaftsinszenierung in der Nachlassbibliothek«, in: Dies. / Andreas B. Kilcher (Hg.): »Randkulturen. Lese- und Gebrauchsspuren in Autorenbibliotheken des 19. und 20. Jahrhunderts«, Göttingen 2020, S. 141–165, hier S. 141. — 49 Thomas Mann Nachlassbibliothek | ETH Zürich. — 50 Jaspers: »(Frau) Thomas Manns Bibliothek«, a. a. O., S. 159. — 51 Uwe Wirth: »Lesespuren als Inskriptionen. Zwischen Schreibprozessforschung und Leseprozessforschung«, in: Jaspers / Kilcher (Hg.): »Randkulturen«, a. a. O., S. 37–63, hier S. 49. — 52 Magnus Wieland: »Border Lines – Zeichen am Rande des Sinnzusammenhangs«, in: Jaspers / Kilcher (Hg.): »Randkulturen«, a. a. O., S. 64–89, hier S. 89. — 53 Ebd. — 54 »Frankfurter Allgemeine Zeitung«, 28.11.2020.

Katrin von Boltenstern

»Niemals Germanisten ranlassen« Problematiken der Arbeit mit literarischen Nachlässen

Kurz vor seinem Tod bestimmt Wolfgang Herrndorf, dass seine unvollendeten Schriften nicht der Nachwelt überantwortet werden sollen: »Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen. Freunde bitten, Briefe etc. zu vernichten.«1 In seinem, während seiner schweren Krebserkrankung geführten und später als Buch publizierten Online-Tagebuch schreibt er demonstrativ: »Briefe zerrissen, in der Badewanne eingeweicht, mit Tinte übergossen und entsorgt.«2 Ein Unbehagen gegenüber dem modernen Nachlasswesen und gegenüber Personen, die nach dem Ableben eines Autors seine schriftlichen Hinterlassenschaften aus- und verwerten, ist nicht nur in Texten Herrndorfs zu finden. Schon Robert Musil, um ein weiteres Beispiel zu nennen, spricht von einer »Abneigung gegen Nachlässe«,3 erörtert diese zu Beginn seiner 1936 erschienenen Textsammlung »Nachlass zu Lebzeiten«4 und führt diese in der – posthum veröffentlichten – vierten Fassung seiner Vorrede genauer aus. Dort heißt es: »Nicht umsonst hat schon das Wort Nachlaß einen verdächtigen Doppelgänger in der Bedeutung, etwas billiger zu geben. Auch der Nachlaß des Künstlers enthält das Unfertige und das Ungeratene, das Noch nicht- und das Nichtgebilligte. Außerdem haftet ihm die peinliche Berührung von Gemächern an, die nach dem Ableben des Besitzers der öffentlichen Besichtigung freigegeben werden.«5 In Thomas Bernhards Roman »Korrektur« spricht der Ich-Erzähler sich und anderen das Recht, hinterlassene Fragmente verstorbener ›Geistesmenschen‹ zu bearbeiten und zu veröffentlichen, gänzlich ab. Er erklärt: »(…) diese Herausgeberschaft ist in jedem Falle immer ein Verbrechen, vielleicht das größte Verbrechen, weil es sich um ein Geistesprodukt oder um viele solcher Geistesprodukte handelt, die von ihrem Erzeuger aus gutem Grunde liegen- und stehengelassen worden sind (…).«6

Seit der Professionalisierung der Neuphilologie und der Institutionalisierung sowie Etablierung des Nachlasswesens im ausgehenden 19. und 20. Jahrhundert hat sich bei Autor*innen zunehmend ein Bewusstsein dafür ausgebildet, dass ihre literarischen Nachlässe potenziell Archivgut und diese somit zu einem literaturwissenschaftlichen Forschungsgegenstand werden können.7 In dem Versuch das eigene Fortwirken zu beeinflussen, arbeiten nicht wenige dem Literaturarchiv deshalb aktiv zu, bearbeiten die Papiere, ordnen sie vor oder übergeben diese noch zu Lebzeiten einem Archiv. Andere wiederum verfügen über Sperrungen oder vernichten Materialien gezielt. Dieses »Nachlassbewusstsein«, das beeinflusst, wie sich Autor*innen zu ihren eigenen literarischen Archiven verhalten, beginnt die Literaturwissenschaft seit einiger Zeit historisch zu erforschen.8 Nicht nur wird untersucht, wie sich philologische und archivarische Arbeitspraktiken auf der einen sowie Schreib- und Archivierungspraktiken der Autor*innen auf der anderen Seite wechselseitig bedingen, auch ist im Zuge dessen der literarische Nachlass als eigenständiges und geformtes Konstrukt in den Fokus gerückt. Mit Termini wie »Nachlasspolitik«9 oder »Nachlasspoetik«10 sowie mit Ansätzen einer »archivarischen Hermeneutik«11 versucht die Forschung vermehrt, den literarischen Nachlass in seiner Gesamtheit und unter Einbezug seiner verschiedenen Implikationen zu betrachten. Die Problematiken jedoch, die die Arbeit mit literarischen Nachlässen und ihre wissenschaftliche Aus- und Verwertung mit sich bringen, werden dagegen nur am Rande diskutiert.12 Ein Großteil der Literaturwissenschaft scheint dem Nachlasswesen, das für die Philologie eine Existenzberechtigung darstellt,13 weitaus weniger skeptisch gegenüberzustehen als so manche Schriftstellerin und so mancher Schriftsteller.

Doch gerade in Hinblick auf den aktuellen Forschungsschub bleibt die Problematisierung der Nachlassthematik unerlässlich: Was steht zur Disposition, wenn Literaturwissenschaftler*innen nach dem Ableben eines Autors auf Texte zugreifen, die dieser aus verschiedenen Gründen zu Lebzeiten nicht veröffentlichte? Welche Probleme ergeben sich aus der spezifischen Konstitution literarischer Nachlässe für die mit ihnen arbeitende Forschung? Und welche Folgerungen sind daraus für den Umgang mit den Archivbeständen abzuleiten?14 Vor diesem Hintergrund wird im Folgenden für eine nachlassbezogene Umsicht plädiert, die die Reflexion des ambivalenten Status literarischer Nachlässe beinhaltet und für jedwede Arbeit mit ihnen voraussetzt.

*

»Gibt es ein Vermächtnis? Was willst du mit einem Vermächtnis? Was meinst du damit? Ich möchte das Briefgeheimnis wahren. Aber ich möchte auch etwas hinterlassen. Verstehst du mich denn absichtlich nicht?«15 Dieser Wunsch, den die Ich-Figur in Ingeborg Bachmanns Roman »Malina« äußert, rückt eine zentrale Herausforderung schriftlicher Hinterlassenschaften in den Fokus: das spannungsvolle Verhältnis von literarischen Nachlässen und dem Recht auf Privatsphäre.

Betrachtet man den literarischen Nachlass als ein Gebilde, in dem sowohl das Werk als auch das Leben einer Person Niederschlag gefunden haben,16 so erscheint dieser gleichzeitig als ästhetisches sowie (kultur-)historisch-biografisches Zeugnis:17 Er belegt die Entstehung einzelner Werke und ist von literarischen Schreibweisen geprägt, während er gleichzeitig verschiedene Lebensmomente des Nachlassers im Kontext spezifischer historischer Vorgänge spiegelt: »Wer von einem Nachlass spricht, kommt ohne den Begriff der Person nicht aus; im Nahbereich der Privatsphäre bleibt das personenzentrierte Erklärungsmuster unverzichtbar.«18 Die vorwiegend schriftlichen, unikalen Dokumente und Materialien, die sich im Verlauf des Lebens bei einem Autor angesammelt haben, und die nach seinem Tod als sein literarischer Nachlass in ein Archiv übernommen werden, gehörten zum privaten Besitz des Schriftstellers – nach seinem Ableben sind sie seinem Zugriff entzogen.19 Neben Texten wie Manuskripten, Arbeitsskizzen und Überarbeitungen, die Autorschaftsentwürfe, Werkgenesen und Arbeitsweisen vermitteln, finden sich in einem Nachlass auch Textsorten wie Briefe, Tagebücher und andere Aufzeichnungen. Es handelt sich um referenzielle Texte, die sich in der Regel auf nichtfiktionale Begebenheiten beziehungsweise auf subjektive Realitäten beziehen und in denen keine fiktive Erzählerinstanz aufgerufen wird, sondern eine Schreiber- beziehungsweise eine Autorfigur in Erscheinung tritt.20 Angesiedelt sind solche Texte in einem eigentümlichen Grenzbereich, der zwischen literarisch und nichtliterarisch, privat und öffentlich changiert: »Wir haben es hier mit intrikaten Textformen zu tun, mit seltsam zwischen autobiografischem und fiktivem Schreiben stehenden Gattungen, aber auch mit Ausdrucksformen, an denen sich zentrale literaturtheoretische Fragen kristallisieren: Fragen nach der Adressiertheit von Texten, nach ihrem fiktionalen Status, nach der Stilisierung von Leben im Schreiben und nicht zuletzt nach der Medialität von schriftlicher Kommunikation, die immer dem Risiko der Nachträglichkeit und des Fehlgehens ausgesetzt ist.«21

Unabhängig davon, an wen das Geschriebene gerichtet ist, es ist potenziell immer auch für andere, die nicht direkt adressiert worden sind, lesbar.22 Diese Möglichkeit der Einsichtnahme durch Dritte steht in einem Spannungsverhältnis zu einem Anspruch auf Privatsphäre, der sich historisch mit Medien wie dem Brief oder dem Tagebuch verbunden hat.23 Hinterlassene Briefe von Autorinnen und Autoren hat Sigrid Weigel deshalb als »prekäre Zeugnisse« bezeichnet, »weil sie eine Schwelle zum Archiv besetzen, dort, wo sich persönliche Zeugnisse und intime Mitteilungen in öffentliche Dokumente verwandeln, dort, wo das Briefgeheimnis aufgehoben ist und die Leser – objektiv – zu Mitwissern oder Voyeuren werden.«24 Mit diesem Schwellenstatus benennt Weigel eine wesentliche Problematik, die alle im Rahmen einer privaten Kommunikation entstandenen Nachlassmaterialien betrifft, ungeachtet dessen, ob die Möglichkeit der späteren Veröffentlichung beim Verfassen eine Rolle gespielt hat oder nicht. Gelangen diese Selbstzeugnisse in ein Archiv, werden sie zu einer Kippfigur: Was zuerst einen bestimmten Adressaten hatte, mehr oder weniger vertraulich war, wird jetzt einer unbestimmten Öffentlichkeit zugänglich.

In der 1900 erschienenen Erzählung »The Touchstone« von Edith Wharton werden die Ambivalenzen solcher Konstellationen verhandelt: Der Konflikt der Novelle entspannt sich, als der ehemalige Liebhaber der großen Autorin Margaret Aubyn die Liebesbriefe, die Aubyn ihm schrieb, nach ihrem Tod veröffentlicht, um sich finanziell zu bereichern. In der New Yorker Gesellschaft führt die Veröffentlichung der privaten Briefe zu kontroversen Diskussionen:

»›Those letters belonged to the public.‹

›How can any letters belong to the public that weren’t written to the public?‹ Mrs. Touchett interposed.

›Well, these were, in a sense. A personality as big as Margaret Aubyn’s belongs to the world. Such a mind is part of the general fund of thought. It’s the penalty of greatness – one becomes a monument historique. Posterity pays the cost of keeping one up, but on condition that one is always open to the public.‹ (…)

›But she never meant them for posterity!‹

›A woman shouldn’t write such letters if she doesn’t mean them to be published …‹25

Ähnlich kontrovers wie die Standpunkte der Figuren in »The Touchstone«, sind auch die Positionierungen innerhalb der aktuellen Forschungsliteratur, wenn es darum geht, welche Bedeutung der Privatsphäre bei nachgelassenen literarischen Zeugnissen zukommt. Jochen Strobel beispielsweise erklärt in Bezug auf Korrespondenzen: »Der moderne Autor ist eine öffentliche Instanz; damit ist auch – wiederum seit dem Diskurs der Empfindsamkeit – jede Inszenierung von Intimität auch auf den sich konstituierenden öffentlichen Raum bezogen.«26 Laut Strobel ist demzufolge »das Postulat einer intimen, residualen Kommunikation öffentlicher Personen ein Paradoxon des modernen Literaturbetriebes, das sich in der Normalität von Briefeditionen und ›Leben in Briefen‹ geradezu auflöst.«27 Auch Lynn Z. Bloom konstatiert: »I also assert that for a professional writer there are no private writings.«28 Und sie fügt hinzu: »A professional writer is never off-duty.«29 Nach Christine Grond-Rigler hingegen »stellt jede Vorlass-Übergabe (posthum auch der Nachlass) für den Autor eine Verletzung der Intimsphäre und einen Akt der Selbstentblößung dar«30 – auch wenn die Papiere von den Autor*innen für das Archiv vorbereitet und Dokumente bewusst zurückgehalten wurden. Damit wertet sie jede Sammlung von Vor- und Nachlässen, selbst im Falle einer starken Nachlasspolitik, erst einmal als Eingriff in die Privatsphäre.31 Dementsprechend verbindet sich auch für Catherine Hobbs mit jeder Arbeit an literarischen Nachlässen, die Pflicht »to do justice to the fact that the archives are linked to a life. Personal archives were physically and intellectually part of someone’s life, a life that they, in turn, evince.«32

Was also bedeutet die persönliche Prägung der Archivmaterialien für den Umgang mit diesen?

Rechtlich wird das Archivgut aus literarischen Nachlässen durch Urheberrecht, Verwertungs- und Nutzungsrechte und nicht zuletzt durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht geschützt. Der literarische Nachlass einer Person ist vererblich (§ 1922 BGB, § 28 UrhG) und fällt siebzig Jahre lang nach deren Tod unter das Urheberrecht (§ 64 UrhG) – im Anschluss gilt er als gemeinfrei.33 Während der siebzig Jahre nehmen die jeweiligen Erben die übergegangenen Rechte wahr. Bestandteil eines Nachlasses können zudem auch Dokumente und Materialien sein, die andere, noch lebende Personen betreffen oder von anderen verfasst wurden. Durch das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Urheberrecht geschützt (BGHZ 13, 334), dürfen diese Dokumente, genauso wie ein Vorlass, nur mit dem Einverständnis der betroffenen Personen eingesehen und veröffentlicht werden.34

Trotz des existierenden gesetzlichen Rahmens bleiben die Spielräume der Archivar*innen sowie die der Forscher*innen bei ihrer Arbeit und der diesbezüglichen Schwerpunktsetzung groß:35 zum Beispiel hinsichtlich der Entscheidungen für oder gegen Selektionen bei der Archivübernahme, der Ausrichtung von Editionen oder der Auswahl von Zitaten bei Publikationen. Fragen der Handhabung werden jedoch nicht breiter diskutiert.36

Ändern soll das der hier vorgeschlagene Ansatz, der literarische Nachlässe, angelehnt an Weigels Formulierung, als ›prekäre Zeugnisse‹ betrachtet und das unsichere, changierende und heikle Moment ihres Status ernst nimmt. Zwar sind Vor- und Nachlässe, bedingt durch das aufkommende Nachlassbewusstsein in der Moderne und das Zusammenspiel von Philologie, Archiven und Autor*innen, mehr und mehr zu Möglichkeiten verschiedener direkter oder vermittelter Formen der Öffentlichkeitsadressierung geworden. Doch erscheint es äußerst fragwürdig, den literarisch Schreibenden deshalb das Recht auf einen privaten schriftlichen Ausdruck gänzlich abzusprechen. Sobald alle schriftlichen Zeugnisse a priori als potenziell publikationstauglich angesehen werden, schrumpft der Raum des Rückzugs und des Verborgenen für den Schreibenden. Die Trennung von Öffentlichkeit und Privatsphäre, die in gesellschaftspolitischen wie philosophischen Diskursen immer wieder zu einem schützenswerten Gut erklärt wird,37 verwischt. So weist auch Bernhard Zeller darauf hin, dass »der Respekt vor der Persönlichkeit des andern, die Beachtung ihres Rechts auf einen privaten, dem Auge der Öffentlichkeit verwehrten Bereich, die am meisten ernstzunehmende Frage (ist), die sich jeder Editor zu stellen hat«.38 Was aber ist als privat zu werten? Auf ein allgemein gültiges Konzept von Privatheit kann sich nicht gestützt werden – die Auslegung, Abgrenzung und Wertung dieses Konstrukts variiert historisch, sozial und kulturell.39

Die Philosophin Beate Rössler, die die Existenz des Privaten als Bedingung für Autonomie in modernen Gesellschaften bezeichnet, unterscheidet zwischen lokaler, dezisionaler und informationeller Privatheit und führt folgende überbegriffliche Definition an:40 »(A)ls privat gilt etwas dann, wenn man selbst den Zugang zu diesem ›etwas‹ kontrollieren kann. Umgekehrt bedeutet der Schutz von Privatheit dann einen Schutz vor unerwünschtem Zutritt anderer.«41 In diese Auslegung bezieht sie die Kontrolle des Wissenszugangs zu persönlichen Daten und die Kontrolle über die eigene Selbstdarstellung mit ein.42 Informationelle Privatheit bedeutet entsprechend, die »Kontrolle darüber, was andere über die Person wissen können«.43 Zugleich betont Rössler, die Autonomie des Individuums als Prämisse der Privatheit denkend, dass die Entscheidung über das, was als privat und intim gilt, von der betreffenden Person abhängt und »nur in Grenzen verallgemeinert und objektiviert werden«44 kann.