Kitabı oku: «TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv», sayfa 3

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Eine Übertragung dieses Konzepts auf die Nachlassthematik wird durch die Frage verkompliziert, ob mit dem Tod einer Person auch ihre Privatsphäre endet. Rechtlich wird dies in Bezug auf den postmortalen Persönlichkeitsschutz diskutiert. Während das allgemeine Persönlichkeitsrecht und das Recht auf informationelle Selbstbestimmung45 nach dem Tod enden, behält die Unverletzlichkeit der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) zunächst auch nach dem Ableben ihre Geltung. Damit werden verstorbene Personen vor »besonders schwere(n) Beeinträchtigungen des Persönlichkeitsbildes«46 geschützt.47 Dieser postmortale Persönlichkeitsschutz, der stets an eine Einzelfallprüfung geknüpft ist, verliert mit zunehmender, nicht genau festgelegter Zeit an Gewicht – ein Richtwert liegt bei ungefähr dreißig Jahren.48 Der zeitliche Faktor ist hier also von besonderer Bedeutung: Während der Umgang mit Vorlässen eine besondere Diskretion verlangt, erleichtert eine zunehmende zeitliche Distanz zum Leben des Nachlassers und seiner Mitwelt die Arbeit durch den gegebenen Abstand.49 Bezieht man Rösslers Konzept von Privatheit auf die Thematik, lässt sich zudem schlussfolgern: Zu Lebzeiten eines Autors gilt das literarische Archiv als privat, da ihm die persönliche und rechtliche Kontrolle über den Zugang zu den Papieren obliegt. Die Vorlassgabe und Genehmigung des Autors zur Einsicht und Publikation kann als Autorisation und Ausübung der Verfügungsgewalt betrachtet werden – es handelt sich dann um eine selbstbestimmte Regelung. Mit dem Tod verliert der Autor einerseits die Kontrolle über seine Dokumente, kann dem Kontrollverlust aber zu Lebzeiten mittels testamentarischer Verfügungen, Sperrungen, eines Nachlassverwalters oder durch die Vernichtung einzelner Teile in einem gewissen Maß vorbeugen. Nachlasspolitische Vorsorgepraktiken, mit denen Autor*innen den posthumen Umgang mit ihren späteren Nachlässen zu steuern versuchen, müssen also nicht zwangsläufig auf Nachruhm abzielen, sie können beispielsweise auch vom Schutz der Privatsphäre motiviert sein. Um differenziert unterscheiden zu können, sind die Frage nach dem Verhältnis eines Autors zu seinem literarischen Archiv, die Art und Weise seines Nachlassbewusstseins sowie sein Verständnis von Privatheit wichtig und können Vorzeichen für einen angemessenen Umgang mit dem Hinterlassenen setzen.

In jedem Fall wird die Arbeit mit dem Archivmaterial zu einer Gratwanderung zwischen dem Schutz der Privatsphäre und einer sachlichen, transparenten Auswertung, die nicht durch Vorenthaltung manipuliert.50 Dabei sollte Wissenschaftlichkeit nicht mit Vollständigkeit verwechselt werden.51 Geboten ist ein fragestellungsorientiertes Vorgehen, das die Relevanz des Vorgefundenen für den Forschungsgegenstand beständig reflektiert und die Verwendung der Dokumente im Rahmen der wissenschaftlichen Auseinandersetzung rechtfertigen kann. Zu bedenken ist dabei zugleich, dass die forschende Person mit ihrer Auswahl stets eigene Akzente setzt, sodass zum Selbstentwurf des Autors im Nachlass der vom Wissenschaftler gezeichnete Entwurf des Autors hinzukommt.52 Die Forschung schreibt an Autorbildern mit und schreibt diese fort. Gerade in Bezug auf Nachlassmaterialien – deren Zugänglichkeit und edierte Erscheinungsform im hohen Maße von einer wissenschaftlichen Aufbereitung abhängt – kann der Einfluss einer solchen Mitgestaltung erheblich sein. So wirken sich die Ordnung und Erschließung der Dokumente, die Konzeption von Editionen sowie die Auswahl einzelner Passagen in Publikationen auf die künftige Rezeption eines Autors und seiner Texte aus.53

Der Nachlass erscheint in dieser Perspektive als Material und Rahmung eines collagenartigen Selbstentwurfs, dessen Fixierung und Auslegung der Nachwelt überantwortet wird. Deshalb bleibt ein bewusster Umgang insbesondere mit Zitaten und eine Reflexion ihres Status unbedingt erforderlich: »Zitate aus Werken und Zitate aus Briefen werden sehr häufig unbekümmert nebeneinandergestellt, und man macht sich dabei vielfach nicht mehr klar, dass Briefzitate in so gut wie allen Fällen aus Texten stammen, die von ihrem Autor nicht autorisiert sind und in der Regel nie autorisiert worden wären. Der Reiz vieler Briefe, ad hoc und ad personam geschrieben, liegt in der Spontaneität ihrer Äußerung, in ihrer Privatheit, aber wer kennt später noch die Rolle des Schreibers, die des Partners, das Nichtausgesprochene, das sie verband, die Situation, in der geschrieben wurde.«54 Hinzu kommt, dass die Zugangsmöglichkeiten zu literarischen Nachlässen wesentlich beschränkter sind als zu veröffentlichten Werken und die Nachprüfbarkeit der Textausschnitte und ihres jeweiligen Zusammenhangs demzufolge nicht vorbehaltlos gewährleistet ist. Diese exklusive Zugriffssituation verpflichtet umso mehr zu einer verantwortungsvollen Nutzung.55 Um die Einordnung des zitierten Materials nachvollziehbar zu gestalten, empfiehlt es sich, auch hier grundlegende Elemente quellenkritischen Vorgehens zu berücksichtigen. Dazu gehören: Die Nennung des Dokumententyps und der Datierung, das Zitieren längerer Passagen, das Heranziehen mehrerer, vergleichbarer Quellen, die Rückbindung an veröffentlichte Texte sowie die Skizzierung des jeweiligen Kontextes und der Überlieferungslage.

Eine besondere Transparenz des Vorgehens ist auch deshalb geboten, da die spezifische Archivsituation, in der Archivar*innen und Philolog*innen den direktesten Zugriff auf die Bestände haben und den Vor- beziehungsweise Nachlassern die unmittelbare Kontrolle darüber entzogen ist, zu einem bedenklichen Souveränitätsanspruch der damit befassten Wissenschaftler*innen führen kann:56 die Versuchung »in den hinterlassenen Materialien des Autors gleichsam wie dieser selbst agieren zu können«.57 Werden die wachsenden Nachlassbestände automatisch als eine Legitimation der Arbeit der Philologie betrachtet, besteht zudem die Gefahr, dass diese als Selbstzweck gesetzt wird und keiner Rechtfertigung mehr bedarf.58 Anett Lütteken regt deshalb eine Diskussion an, im Zuge derer immer wieder überprüft wird, welche Rolle die Philolog*innen bei ihrer Arbeit im Verhältnis zum Urheber eines literarischen Textes einnehmen, welche Absicht die philologische Seite verfolgt und welchen Einfluss der dabei verwendete Werkbegriff auf diese Konstellation hat.59

Eine reflektierte und umsichtige Arbeit mit Vor- und Nachlässen setzt folglich eine kritische Auseinandersetzung mit den jeweiligen Relationen und Kontexten des Archivguts voraus60 und sollte folgende Aspekte in gebotener Sorgfalt prüfen:

 die Überlieferungswege des Nachlasses, Umstände der Archivübergabe sowie Zeit, die seit dieser verstrichen ist,

 die Form des Nachlassbewusstseins des Autors sowie sein Verständnis von Privatsphäre,

 das jeweilige Verhältnis von Werk und Nachlass, die daraus resultierenden Folgen für die Ausrichtung von Forschung und Editionen sowie der dabei verwendete Werkbegriff,

 die Transparenz des Vorgehens sowie die Verwendung von Zitaten unter Berücksichtigung quellenkritischer Maßgaben,

 die Motive für die wissenschaftliche Arbeit mit dem Material,

 die persönliche Haltung der forschenden oder edierenden Person zum Gegenstand sowie zum Nachlassbildner und die Art und Weise wie die implizite Positionierung den Umgang mit den Materialien beeinflusst,

 die Verhältnismäßigkeit des potenziellen Eingriffs in die Privatsphäre des Autors durch die Veröffentlichung von Vorlass- und Nachlassmaterialien in Hinblick auf den verfolgten wissenschaftlichen Zweck.61

Wer mit literarischen Vor- und Nachlässen arbeitet, muss sich den Status dieser prekären Zeugnisse vergegenwärtigen. Nur so ist eine selbstbewusste Antwort auf die Frage möglich: Warum Germanisten ranlassen?

1 Zit. nach: Marcus Gärtner / Kathrin Passig: »Zur Entstehung dieses Buches«, in: Wolfgang Herrndorf: »Bilder deiner großen Liebe. Ein unvollendeter Roman«, hg. von dens., Berlin 2014, S. 136. — 2 Wolfgang Herrndorf: »Arbeit und Struktur«, Berlin 2013, S. 233. — 3 Robert Musil: »Vorwort III«, in: Ders.: »Gesammelte Werke«, hg. von Adolf Frisé, Reinbek 1981, Bd. 7, S. 963. — 4 Vgl. Robert Musil: »Nachlaß zu Lebzeiten«, ebd., S. 473–475. — 5 Robert Musil: »Vorwort IV«, ebd., S. 965. — 6 Thomas Bernhard: »Korrektur. Roman«, Frankfurt / M. 1975, S. 176. — 7 Vgl. Kai Sina / Carlos Spoerhase: »Nachlassbewusstsein. Zur literaturwissenschaftlichen Erforschung seiner Entstehung und Entwicklung«, in: »Zeitschrift für Germanistik« 23 (2013), S. 619 f. — 8 Vgl. ebd., S. 607–623. Und: Kai Sina / Carlos Spoerhase (Hg.): »Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750–2000«, Göttingen 2017. — 9 Vgl. Reinhard Mehring: »›Ein Wichtigeres für die Zukunft weiß ich nicht‹. Nachlasspolitik bei Heidegger und Carl Schmitt«, in: Detlev Schöttker (Hg.): »Adressat: Nachwelt. Briefkultur und Ruhmbildung«, Paderborn, München 2008, S. 107–123. Und: Reinhard Mehring: »Heideggers ›große Politik‹. Die semantische Revolution der Gesamtausgabe«, Tübingen 2016. Sowie: Sina / Spoerhase: »Nachlassbewusstsein«, a. a. O., S. 622. — 10 Vgl. Irmgard Wirtz: »Einführung«, in: Stéphanie Cudré-Mauroux / Dies. (Hg.): »Literaturarchiv – Literarisches Archiv. Zur Poetik literarischer Archive.«, Göttingen, Zürich 2013, S. 7–10. — 11 Vgl. Ulrich von Bülow: »Papierarbeiter. Autoren und ihre Archive«, Göttingen 2018, S. 11. — 12 Kritische Passagen finden sich bei: Christine Grond-Rigler: »Im Dialog mit der Nachwelt. Auktoriale Inszenierung in Vorlässen«, in: Petra-Maria Dallinger / Georg Hofer / Bernhard Judex (Hg.): »Archive für Literatur. Der Nachlass und seine Ordnungen«, Berlin, Boston 2018, S. 177; Sigrid Weigel: »Hinterlassenschaften, Archiv, Biographie. Am Beispiel von Susan Taubes«, in: Bernhard Fetz, Hannes Schweiger (Hg.): »Spiegel und Maske. Konstruktionen biographischer Wahrheit«, Wien 2006, S. 46. Und: Kai Sina / Carlos Spoerhase: »›Gemachtwordenheit‹: Über diesen Band«, in: Dies. (Hg.): »Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750–2000«, a. a. O., S. 7 u. 14. — 13 Vgl. Andrea Pia Kölbl: »Der Ort der Literaturarchive in Deutschland zwischen Bibliotheken und Archiven«, in: »Archivalische Zeitschrift« 91 (2009), S. 358. — 14 Die nachfolgenden Überlegungen entstammen überwiegend der Dissertation der Verfasserin und werden dort in einem größeren Rahmen entfaltet. Vgl. insbesondere das Kapitel: »Die Problematik des Nachlasses: Privatsphäre, Dichterkult und Eigendynamik«, in: Katrin von Boltenstern: »Nachlassformationen. Studien zum literarischen Archiv: Richard Leising und Helga M. Novak« (eingereicht an der Humboldt-Universität zu Berlin im April 2020, im Erscheinen). — 15 Ingeborg Bachmann: »Malina. Roman«, Frankfurt / M. 2004, S. 324. — 16 Vgl. Wirtz: »Einführung«, a. a. O., S. 7. — 17 Vgl. Dörte Schmidt: »›Nachlass zu Lebzeiten‹. (Selbst-)Archivierung als auf Dauer gestellte künstlerische Selbstvergewisserung«, in: Antje Kalcher / Dietmar Schenk / Thomas Schipperges / Dies. (Hg.): »Archive zur Musikkultur nach 1945. Verzeichnis und Texte«, München 2016, S. 37. — 18 Ulrich von Bülow: »Der Nachlass als materialisiertes Gedächtnis und archivarische Überlieferungsform«, in: Sina / Spoerhase (Hg.): »Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750–2000«, a. a. O., S. 84. Vgl. auch: Detlev Schöttker: »Der Autor als Star der Nachwelt«, in: Wolfgang Ullrich / Sabine Schirdewahn (Hg.): »Stars. Annäherungen an ein Phänomen«, Frankfurt / M. 2002, S. 259. — 19 Vgl. Bülow: »Der Nachlass als materialisiertes Gedächtnis«, a. a. O., S. 79–85. — 20 Vgl. Urs Meyer: »Tagebuch, Brief, Journal, Interview, Autobiografie, Fotografie und Inszenierung. Medien der Selbstdarstellung von Autorschaft«, in: Lucas Marco Gisi / Urs Meyer / Reto Sorg (Hg.): »Medien der Autorschaft. Formen literarischer (Selbst-)Inszenierung von Brief und Tagebuch bis Fotografie und Interview, München 2013, S. 9–15. — 21 Ebd., S. 9. — 22 Vgl. Davide Giuriato / Martin Stingelin / Sandro Zanetti: »Einleitung«, in: Dies. (Hg.): »›Schreiben heißt: sich selber lesen‹. Schreibszenen als Selbstlektüren«, Paderborn, München 2008, S. 9–17. — 23 Vgl. Hans Krah / Petra Grimm: »Privatsphäre«, in: Jessica Heesen (Hg.): »Handbuch Medien- und Informationsethik«, Stuttgart 2016, S. 181. Vgl. außerdem: Sandro Zanetti: »Spielräume der Adressierung. Kleist, Goethe, Mallarmé, Celan«, in: Anne Bohnenkamp / Waltraud Wiethölter (Hg.): »Der Brief – Ereignis & Objekt«, Frankfurt / M., Basel 2010, S. 42. — 24 Weigel: »Hinterlassenschaften, Archiv, Biographie«, a. a. O., S. 46. — 25 Edith Wharton: »The Touchstone«, New York 2004, S. 54 f. — 26 Jochen Strobel: »Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur«, in: Ders. (Hg.): »Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern. Figuren der Autorschaft in der Briefkultur«, Heidelberg 2006, S. 15. — 27 Ebd. — 28 Lynn Z. Bloom: »›I write for Myself and Strangers‹. Private Diaries as Public Documents«, in: Suzanne L. Bunkers / Cynthia A. Huff (Hg.): »Inscribing the Daily. Critical Essays on Women’s Diaries«, Amherst 1996, S. 24. — 29 Ebd., S. 25. — 30 Grond-Rigler: »Im Dialog mit der Nachwelt«, a. a. O., S. 176. — 31 Vgl. ebd. — 32 Catherine Hobbs: »Personal Ethics: Being an Archivist of Writers«, in: Linda M. Morra / Jessica Schagerl (Hg.): »Basements and Attics, Closets and Cyberspace. Explorations in Canadian Women as Archives«, Waterloo 2012, S. 184. — 33 Vgl. Harald Müller: »Rechtsprobleme bei Nachlässen in Bibliotheken und Archiven«, Hamburg, Augsburg 1983, S. 154. — 34 Vgl. dazu auch: Paul Klimpel: »Kulturelles Erbe digital – eine kleine Rechtsfibel«, hg. von digiS, Berlin 2020. — 35 Vgl. Weigel: »Hinterlassenschaften, Archiv, Biographie«, a. a. O., S. 47. — 36 Vgl. Grond-Rigler: »Im Dialog mit der Nachwelt«, a. a. O., S. 177. — 37 Vgl. beispielsweise: Hannah Arendt: »Vita activa oder Vom tätigen Leben«, München 1967, S. 57 ff. — 38 Bernhard Zeller: »Monumente des Gedenkens. Briefliteratur und ihre Editionen«, in: Schöttker (Hg.): »Adressat: Nachwelt«, a. a. O., S. 51. — 39 Vgl. Grimm / Krah: »Privatsphäre«, a. a. O., S. 178. — 40 Vgl. Beate Rössler: »Der Wert des Privaten«, Frankfurt / M. 2001, S. 26. — 41 Ebd., S. 23. — 42 Vgl. ebd., S. 24 u. 209. — 43 Ebd., S. 201. — 44 Ebd., S. 224. — 45 Normativ ist hier auf Art. 2 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG zu verweisen. Vgl. außerdem Art. 8 Abs. 1 EMRK. — 46 Udo Di Fabio: GG Art. 2 Abs. 1 Rn. 226, 227, in: Roman Herzog / Rupert Scholz / Matthias Herdegen / Hans Klein (Hg.): »Maunz / Dürig Grundgesetz-Kommentar«, München 2018. — 47 Als Grundsatzurteil in dieser Hinsicht gilt die »Mephisto-Entscheidung« des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1971, vgl. BVerfGE 30, 173. — 48 Vgl. Müller: »Rechtsprobleme bei Nachlässen in Bibliotheken und Archiven«, a. a. O., S. 109 f. u. 164. — 49 Vgl. Beatrice Sandberg: »Unter Einschluss der Öffentlichkeit oder das Vorrecht des Privaten«, in: Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.): »Auto(r)fiktion. Literarische Verfahren der Selbstkonstruktion«, Bielefeld 2013, S. 374. — 50 Vgl. Zeller: »Monumente des Gedenkens«, a. a. O., S. 51. — 51 Vgl. ebd. — 52 Vgl. Detlev Schöttker: »Ruhm und Rezeption. Unsterblichkeit als Voraussetzung der Literaturwissenschaft«, in: Jörg Schönert (Hg.): Literaturwissenschaft und Wissenschaftsforschung, Stuttgart 2000, S. 472 f. — 53 Vgl. Rüdiger Nutt-Kofoth: »Zum Verhältnis von Nachlasspolitik und Editionskonzeption«, in: Sina / Spoerhase (Hg.): »Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750–2000«, a. a. O., S. 92–111. vgl. auch: Strobel: »Vom Verkehr mit Dichtern und Gespenstern.«, a. a. O., S. 15. — 54 Zeller: »Monumente des Gedenkens«, a. a. O., S. 49. — 55 Vgl. Hobbs: »Personal Ethics: Being an Archivist of Writers«, a. a. O., S. 182. — 56 Vgl. Lütteken: »Das Literaturarchiv – Vorgeschichte(n) eines Spätlings«, a. a. O., S. 82. — 57 Klaus Kastberger: »Nachlassbewusstsein, Vorlass-Chaos und die Gesetze des Archivs. Am Beispiel von Friederike Mayröcker«, in: Sina / Spoerhase (Hg.): »Nachlassbewusstsein. Literatur, Archiv, Philologie 1750–2000«, a. a. O., S. 416. — 58 Vgl. Lütteken: »Das Literaturarchiv – Vorgeschichte(n) eines Spätlings«, a. a. O., S. 79. — 59 Vgl. ebd., S. 82. — 60 Vgl. auch: Heidi McKee / James E. Porter: »The Ethics of Archival Research«, in: »College Composition and Communication«, 24 (2912), S. 59–81. — 61 Mein besonderer Dank gilt Kathrin Zöller und Moritz Thörner für ihre kritischen Hinweise und die konstruktive Unterstützung.

Michael Schwarz

Adorno und die Archivierung des Ephemeren Bemerkungen zu seinem Nachlass

Adornos Tod kam überraschend. An Nachlass hatte er wohl kaum gedacht. Sich um den Fortbestand der Papiere zu kümmern, war in der stürmischen Zeit um 1968 nicht auf der Tagesordnung. Auf der einen Seite absorbiert von studentischen und universitären Dingen, ließ Theodor W. Adorno auch in seinen letzten Jahren nicht davon ab, weittragende Publikationspläne zu verfolgen. Die »Ästhetische Theorie« blieb unabgeschlossen. Auch sonst gab es einiges, das er noch unter Dach und Fach bringen wollte. Adorno hat die Papiere, die er bewahrte, vor allem als Arbeitsmaterial betrachtet, nicht historisch, nicht als künftige Hinterlassenschaft. Seine Einstellung war nicht archivarisch. Es ging ihm nicht darum, einer Nachwelt seine Schreibprozesse zu dokumentieren.

Der Nachlass1 wird im Theodor W. Adorno Archiv, Frankfurt am Main, aufbewahrt.2 Im Wesentlichen besteht er heute noch in der Ordnung, in der er vorgefunden wurde. Sie diente praktisch-büromäßigen Zwecken, sollte leichtes Auffinden der Briefe und Manuskripte ermöglichen, war nicht als Nachlassordnung gedacht. Vor allem in den Händen der Sekretärin Elfriede Olbrich lag die Büroorganisation. Dazu gehörte ab der ersten Hälfte der 1950er Jahre eine ziemlich lückenlose Dokumentation, die etwa auch das Sammeln von Rezensionen oder Aktennotizen über mündlich Besprochenes betraf.3

Der Archivar ist gehalten, die vorgefundene Ordnung zu bewahren, gegebenenfalls geringfügig zu verbessern. Die Archivaliengruppen blieben erhalten. Es wurden alphanumerische Signaturen (z. B. Ts 432) vergeben, deren erster Bestandteil die jeweilige Gruppe von Dokumenten bezeichnet (etwa Ts für Typoskripte).

Inzwischen ist die Archivierung und Sicherung des weitaus größten Teils von Adornos Nachlass abgeschlossen. Zu Beginn wurden Fotokopien der Werkmanuskripte (Ts-Signaturen) und des schriftlichen Materials zu den Vorlesungen (Vo) gemacht. Briefe (Br), Fotos (Fo) und Tonaufnahmen (TA) wurden dann später digital reproduziert und als Dateien gespeichert. Die Reproduktionen ermöglichen eine Nutzung der Archivalien, ohne diese zu gefährden. Der überwiegende Teil der Korrespondenz von Adorno ist in Form von digitalen Reproduktionen an den elektronischen Leseplätzen des Walter Benjamin Archivs in der Akademie der Künste (Berlin) einsehbar.4 Dort können auch 388 Tonaufnahmen mit Adorno angehört werden. Die meisten dieser Aufnahmen wurden nach seinem Tod gesammelt.

Der Nachlass ist vor allem ein schriftlicher: Gedrucktes, Getipptes und Handgeschriebenes. Das Archiv enthält die von Adorno zum Druck gebrachten Bücher, Aufsätze und Zeitungsbeiträge, außerdem Fahnen- und Umbruchexemplare, teilweise von ihm selbst handschriftlich korrigiert. Seine Bibliothek5 ist im »Blauen Salon« des Frankfurter Instituts für Sozialforschung aufgestellt, das das Theodor W. Adorno Archiv heute beherbergt. Alle Seiten mit Lesespuren wurden durch Fotokopien gesichert. Durch Anstreichungen, Marginalien und Annotationen – zahlreich etwa in Ausgaben der Werke von Søren Kierkegaard und von Edmund Husserl – sind die Bücher Rezeptionsdokumente, die interessante Aufschlüsse über Adornos Lektüren ermöglichen.

Rezeptionsgeschichtlich relevant ist die umfangreiche Sammlung der Besprechungen von Adornos Büchern und Aufsätzen. Diese Rezensionen, vor allem in Zeitungen und Zeitschriften erschienen, belegen die große Resonanz, die seine Arbeiten in den 1950er und 1960er Jahren erfuhren. Die Pressedokumentation zeigt auch, dass es für ihn wichtig war zu wissen, wie seine Sachen in der Öffentlichkeit aufgenommen wurden.

Ein vielbenutzter Bestandteil des Adorno’schen Nachlasses ist die Korrespondenz mit mehr als 2000 Briefpartnern. Dazu gehören Alfred Andersch, Ingeborg Bachmann, Samuel Beckett, Ernst Bloch, Elias Canetti, Paul Celan, Hans Magnus Enzensberger, Max Frisch, Hans-Georg Gadamer, Arnold Gehlen, Jürgen Habermas, Hermann Hesse, Paul Hindemith, Joachim Kaiser, Marie Luise Kaschnitz, Alexander Kluge, Fritz Lang, Leo Löwenthal, Alma Mahler-Werfel, Herbert Marcuse, Arnold und Gertrud Schönberg, Hans Wollschläger und Stefan Zweig. Es ist erstaunlich, wie umfangreich das Netz der Korrespondenzen ist. Insgesamt dürften die Briefe etwa 40 000 Blatt ausmachen. Nur ein kleiner Teil von ihnen ist bisher publiziert. In der Reihe der »Briefe und Briefwechsel« erschienen die Korrespondenzen mit Walter Benjamin, Alban Berg, Max Horkheimer, Siegfried Kracauer, Ernst Krenek, Thomas Mann und Gershom Scholem. Adorno pflegte seine Briefe zu diktieren; sie wurden von einer Sekretärin getippt und schließlich von ihm unterschrieben. Ein Glücksfall ist, dass dabei mehrere maschinenschriftliche Durchschläge angefertigt und bewahrt wurden. So sind Adornos Briefe aus den 1950er und 1960er Jahren im Nachlass nahezu vollständig vorhanden. Jeweils einer dieser Typoskript-Durchschläge wurde in Leitz-Ordnern mit »Tageskopien« abgelegt. Mit ihnen lässt sich Adornos Korrespondenz Tag für Tag verfolgen.

Adorno hat 45 Notizhefte aufbewahrt, in denen er seine Gedanken, Ideen und Tagesreflexionen, mitunter auch Adressen festgehalten hat. Sie lassen sich (auch wenn er manchmal mehrere parallel führte) chronologisch ordnen. Sie bilden in ihrer Gesamtheit über die Jahre Adornos intellektuelles Journal. Ein größerer Teil der Notizen ist – verändert – in seine Arbeiten eingegangen. Deren erste Keime lassen sich nicht selten in den Heften finden. Ein Beispiel dafür findet sich im Notizheft K (September 1961): »Vielleicht ausgehen von der Erinnerung meiner Jugend, daß man Kracauer von einem Gespräch von Patmos-Leuten (einer wurde Nazi) ausschloß, weil er nicht eigentlich genug sei.« Tatsächlich ist Adornos Buch »Jargon der Eigentlichkeit. Zur deutschen Ideologie« davon ausgegangen. Während die Buchfassung unbestimmt von einer »Anzahl von Leuten« und von »ein(em) Freund« spricht, der zu ihrer Zusammenkunft nicht eingeladen wurde,6 nennt der Hefteintrag Ross und Reiter: den »Patmos-Kreis« und Siegfried Kracauer, den Freund Adornos in seiner Jugend.

Im Zusammenhang mit den Manuskripten sind auch die Kompositionen von Adorno zu nennen. Sie haben als seine Notenhandschriften im Archiv überlebt (auch reinliche Kopistenabschriften zu Aufführungszwecken sind überliefert). Zu Lebzeiten Adornos gedruckt wurden von seinen Kompositionen nur die »Sechs kurzen Orchesterstücke« op. 4.7 Er empfand es als Kränkung, dass dieser Notendruck der einzige blieb. Inzwischen gibt es bei der edition text + kritik die umfassende dreibändige Ausgabe der Adorno’schen Kompositionen.

Die Fassungen der Aufsätze und Bücher von Adorno liegen überwiegend in Typoskriptform vor. Vorhanden sind 54 043 maschinengeschriebene Blätter, ein nicht geringer Teil davon handschriftlich korrigiert und ergänzt. Die gemischte Schriftform Typoskript / Manuskript ist für Adornos Produktion charakteristisch. Eine erste Fassung, die er nach eigenen Notizen der Sekretärin diktiert hatte, wurde – so das typische Vorgehen – weiterer Bearbeitung unterzogen: Adorno nahm auf dem Typoskript eigenhändige Streichungen, Hinzufügungen, Ersetzungen und Umstellungen vor. Die entstandene Fassung ließ er von der Sekretärin abschreiben, die das Handschriftliche in ein neues Typoskript einarbeitete. Dieser Vorgang – das eigenhändige Bearbeiten und Abtippenlassen – konnte sich einige Male wiederholen.

Adornos Texte sind Arbeitsprodukte, in geduldiger Mühe entstanden. Ihr Werden lässt sich im Archiv gut nachvollziehen. Arbeitsprozesse mündeten in Fassungen letzter Hand. Diese für ihn verbindlichen und endgültigen Fassungen hatten sich von den ersten, rohen, der Sekretärin diktierten weit entfernt. Adorno schrieb einmal: »die zweiten Fassungen sind bei mir immer der entscheidende Arbeitsgang, die ersten stellen nur ein Rohmaterial dar, oder (…): sie sind ein organisierter Selbstbetrug, durch den ich mich in die Position des Kritikers meiner eigenen Sachen manövriere, die sich bei mir immer als die produktivste erweist.«8 Hinzuzufügen ist, dass es oft auch dritte, vierte (mitunter sogar fünfte, sechste) Fassungen gab, in denen Adorno noch Entscheidendes geändert hatte. So sind die Texte wiederholt durch den Engpass kritischen Sprachgefühls gegangen.

Dies Umschreiben hat den Tonus der Texte erhöht. Es machte sie straffer und dichter. Es brachte selten mehr Textvolumen, oft aber Gewinn an gedanklicher Konzentration und Intensität. Für Adornos Schreiben gilt: Er hat nicht nur versucht, Gedanken besser auszudrücken, sondern auch, durch sprachlichen Ausdruck Gedanken zu verbessern. Die korrigierenden Arbeitsgänge wollten auch auf Gedankenverbesserung hinaus.

Mit dem Abschluss einer Arbeit waren frühere Etappen für Adorno in der Regel abgetan. Dennoch sind sie rekonstruierbar geblieben. Er hat die Fassungen seiner Aufsätze und Bücher aufbewahrt. Mag er sie als Vorstufen betrachtet haben, für die Forschung im Archiv gewinnen sie lebendiges Interesse. Besonders auch durch das Gestrichene. Es weckt die Neugier: Warum hat Adorno es verworfen? Und lässt, was er strich, nicht den Text anders und besser verstehen? Ist es nicht mehr als die Schlacke, die abgefallen ist?

Aufschlussreich sind Frühfassungen besonders auch von Büchern, die Adorno nach Umarbeitungen erst Jahre später zum Druck befördert hat. Das ist der Fall bei bedeutenden Schriften über Søren Kierkegaard – »Konstruktion des Ästhetischen in Kierkegaards Philosophie« (1929 / 30) –, Edmund Husserl – »Husserlbuch« (1934–1937) – und Richard Wagner (1937 / 38). Die Drucktexte der Bücher »Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen« (1933), »Zur Metakritik der Erkenntnistheorie« (1956) und »Versuch über Wagner« (1952) werden später erheblich variieren. Man wird sie jedenfalls mit erweitertem Verständnis und Erkenntnisgewinn lesen, wenn man im Archiv auch auf den Fundus der Originalmanuskripte zurückgeht.

Auch ein literarischer Nachlass besteht selten nur aus Papieren. Der Adorno-Archivar registriert, dass das schriftliche Material (zumindest ab den 1950er Jahren) in großer Vollständigkeit hinterlassen wurde, Tondokumente jedoch nur in überschaubarer Zahl. Die Tonbänder, die Adorno hinterließ, sind schon bald nach seinem Tod mit solchen aus fremder Provenienz vermischt worden. Ein Teil dieses Audiomaterials, vor allem aus Rundfunkanstalten, wurde posthum von Gretel Adorno (mit der Hilfe von Alexander Kluge) zusammengetragen. Andere Teile der Sammlung kamen in den 1980er Jahren und später ins Adorno Archiv. Durch Recherchen bei Rundfunkarchiven konnten die vielen Lücken, die der nachgelassene Kernbestand ließ, geschlossen werden.

Adornos Vorlesungen ab 1958 sind als Transkriptionen vorhanden. (Von den älteren Vorlesungen sind oft nur die Stichworte erhalten, auf die er sich beim Sprechen stützte, oder auch Nachschriften, die mitstenografiert und danach getippt worden waren.) Die Abschriften nach Tonband haben Sekretärinnen erstellt. Nach der Transkription wurden die Aufnahmen gelöscht, indem man die Tonbänder, die, zumal in guter Qualität, damals nicht billig waren, neu bespielte. So kommt es, dass die »Einführung in die Soziologie« (1968) die einzige Vorlesung ist, die als Tonaufnahme vollständig – besser: nahezu vollständig – erhalten blieb. Es gibt zu den Vorlesungen fast nur schriftliches Material (12 064 Seiten Typoskripte und Manuskripte).

Was insbesondere Schriften aus späteren Jahren anlangt, so sind in sie nicht selten auch Formulierungen und Gedanken aus Vorlesungen oder Vorträgen eingegangen. Adorno ließ seine Vorlesungen auf Tonband aufzeichnen und danach transkribieren, um die Möglichkeit zu haben, sie für spätere Arbeiten zu nutzen. Die Transkriptionen waren für ihn selbst zur Wiedervorlage gedacht. Sie waren ein Reservoir. Auf den Typoskriptblättern finden sich mitunter diagonale Streichungen von Passagen oder Absätzen. Sie meinen nicht ein Verwerfen der betreffenden Gedanken, sondern weisen auf Übernahmen in Manuskripte von Werken. Aus den Ästhetik-Vorlesungen von 1961 / 62 etwa ist einiges in die »Ästhetische Theorie« eingegangen.

Auch improvisierende Vorträge, Gespräche oder Interviews konnten etwas enthalten, das Adorno noch ausarbeiten wollte. In einem Brief an Laurenz Wiedner vom Österreichischen Rundfunk schrieb er am 30. Oktober 1958: »(…) durch Zufall höre ich, daß das kleine Interview über Mahler, das ich im April diesen Jahres gab, am letzten Mittwoch übertragen worden ist. Es würde mich sehr interessieren zu erfahren, ob die Sache irgendwelche Resonanz fand und welcher Art sie war. Auch: ob Sie, wie es in Deutschland bei derartigen Radioveranstaltungen allgemein üblich ist, das Interview stenographisch aufgenommen haben und hektographieren ließen. Sollte das der Fall sein, so wäre ich für einen Durchschlag sehr dankbar, um so mehr als die Sache eine Reihe von Motiven enthält, die ich in einer größeren Arbeit über Mahler auszuarbeiten gedenke. Unter Umständen wäre mir auch mit dem Band geholfen, das ich hier umspulen und transkribieren lassen könnte.«9

Einige Vorträge und Gespräche wären nicht überliefert, wenn es nicht Transkriptionen geben würde, die Adorno (auf oder ohne seine Veranlassung) von den Veranstaltern zugeschickt worden sind. Die Bearbeiterinnen oder Bearbeiter dieser Nachschriften sind teils bekannt, teils anonym. Leider sind die Transkriptionen oft sehr unzulänglich. Stellenweise finden sich Aussparungen, Spatien für das, was nicht verstanden wurde. Die lücken- und fehlerhaften Transkriptionen machen es stellenweise schwierig zu rekonstruieren, was Adorno wirklich gesagt hat. Dies allerdings war das Ziel, das die Edition der »Vorträge 1949–1968« verfolgte.10