Kitabı oku: «TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv», sayfa 5

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Treue Dinge

Das Konvolut unter diesem von Schmidt gewählten Titel hat der spätere Bearbeiter erweitert: Dort findet sich zum Beispiel ein Zettel, der der ältesten Schreibmaschine beilag, auf dem Schmidt verzeichnete, welche Texte er von 1949 bis 1960 auf ihr tippte, und zu dem Schluss kam: »sie hat unvergleichlich gedient!« – abgezeichnet mit Datum und Unterschrift. Dazu gibt es ein Papiermuster (»wichtig! da altes Schreibpapier, von 1946 aus dem FormularHaufen der ›Eibia‹ in Benefeld«, paraphiert mit dem üblichen »Sch«), einen DIN-A5-Zettel mit einem Muster aus winzigen Strichen und der Anmerkung »Vom Tabellen linieren Sch«. Gesammelt wurden hier auch Zeilenanzeiger, die als Hilfsmittel bei einer Übersetzung ›gedient‹ haben, sowie zwei Stücke Karton, die laut Aufschrift Arno Schmidt beim Signieren der Bögen der ZT-Erstausgabe geholfen haben, um die Signatur an die richtige Stelle auf der Seite zu platzieren. Ein alter selbstgebastelter Zeilenzähler, eine Postgebührentabelle, der ebenfalls bescheinigt wird, sie habe »treu gedient«, genauso wie ein schmaler Pappstreifen (»hat 14 Monate lang treu gedient, als ›wanderndes Lesezeichen‹ bei d. Bulwerübersetzung Sept. 69 – Okt. 70 / Arno Schmidt«), werden dort aufbewahrt. Die letzten beiden Stücke hatte Schmidt selbst übrigens im Konvolut »MS-Kleinkrims (aus den Jahren 1965–71)« abgelegt.

Weiter sind Signaturproben zu finden, ebenfalls kategorisiert und abgezeichnet (»Blatt zum Probieren v. Schreibfedern zwecks Signierung (220 Mal!) von ›Tina‹. – Bargfeld, den 18.VI.64 Arno Schmidt«). Dass es Zettel gab, auf denen Schmidt mit seiner Unterschrift ausprobierte, ob der Faserschreiber noch funktionierte, überrascht nicht; dass er sie in einem Konvolut »signierte Zettel« aufbewahrte, schon eher. Auf einem der Blättchen hat er zusätzlich notiert: »(diese PENTEL-Schreiber sind wirklich gut! (evtl. weitere, über Fischer, bestellen))« – Note to self? Oder doch eher ein Hinweis an spätere Finder, wie eindringlich sich Schmidt mit dem Schreibmaterial befasst hat? Die Aufbewahrung weiterer Schreibproben (»ist er doch noch nicht leer? / Sch«, »alles schlechte Minen! Sch«) ergeben als inhaltliche Mitteilungen an wen auch immer dann überhaupt keinen Sinn mehr. Nur ihre Aufbewahrung sagt etwas über den Autor als Person aus.

Ein besonderes Rätsel gibt ein einmal gefaltetes DIN-A4-Blatt auf – auf der Rückseite die gedruckten Sonderangebote aus dem kleinen Bargfelder Lebensmittelladen (»Kraft Extra Scheibletten«); diese Art Papier diente dem Autor oft als Schmierzettel. Die einzige Notiz auf dem Blatt (außer drei kleinen Bleistiftziffern) lautet aber »Handunterlage beim Rechnen / April ’76 / Sch«, anzusehen ist ihm diese Funktion keineswegs. Nur so ein Blatt Papier halt, nicht wahr? Muss man das nun aufbewahren?

Zettel / Briefchen zwischen Arno und Alice Schmidt

Dieses Konvolut habe ich selbst aus damals noch ungeordneten Mappen aus Alice Schmidts Schreibtisch zusammengestellt, im Bemühen, den Bestand etwas feiner zu ordnen. Hier finden sich Geburtstagsbriefchen zwischen den Eheleuten, Liebeszettelchen, aber auch Mitteilungen darüber, was nicht vergessen werden dürfe. Ein Zettel von Arno an Alice Schmidt wird hier mit aufbewahrt, den der Autor schrieb, bevor seine Frau 1976 ihre Freundin Rosa Scholz in Dessau besuchte:

»25.XII 76 Lilli nach D.

bestellen:

1) P. Ahnert, ›Kalender für Sternenfreunde‹ für 1977

2) Batterien für Kleinwecker nicht vergessen

3.) farbige Wiedergabe des Bildes vd 4 Töchtern Oranien (da für ›Julia‹ gedacht – die Lynxde soll, verjüngt noch, ihr Porträt sein)

4.) evtl. noch eine ReclamAusgabe, Kant, ›Kritik d. r. V.‹ Sch«

Dies ist die einzige mir bekannte Äußerung Schmidts, die der literarischen Figur der Julia aus dem letzten, unvollendet gebliebenen Roman »Julia, oder die Gemälde« explizit eine der auf einem Gemälde abgebildeten vier Prinzessinnen von Oranien zuordnet, nämlich Luise Henriette (das Gemälde hängt in Schloss Mosigkau bei Dessau, deshalb der Auftrag an Alice Schmidt). Weil ich das aber damals nicht wusste (und später vergessen hatte), gibt es in der Archivmappe zu »Julia, oder die Gemälde« keinen Hinweis auf diesen Zettel. Die Ordnung im Archiv scheitert also nicht nur an ihren eigenen Grenzen, sondern unter Umständen bedauerlicherweise auch am mangelnden Überblick der Bearbeiter.

»MS-Kleinkrims (aus den Jahren 1965–71)«

Diesem von Schmidt überlieferten Konvoluttitel sortierten die Bearbeiter weiteres nicht eindeutig zuzuordnendes Material zu, hier gibt es (wenige) inhaltliche Notizen, die zu keinem Projekt gehören und Erkenntnisse enthalten wie »Die ›Wurzel‹ ist das ubw der Pflanze« oder »too many things happen every day«.

Ebenso findet sich aber auch eine Notiz, welche Seiten im Original-Manuskript von »Zettel’s Traum« nach der Reproduktion fehlten und wann sie doch noch wieder eingetroffen sind, eine Nachricht für den Tischler, welche Art Regalbretter benötigt werden, Handschriftenproben der Nachbarn (Verwendungszweck unbekannt) und von Schmidt selbst in einem Umschlag gesammelte »Reste d. Aufklebepapiere v. ›Zettel’s Traum‹«. Auch Memorabilien, möglicherweise eher von Alice Schmidt aufbewahrt, sind hier beigelegt: Ein Markenbutterpapier der Molkerei aus dem Nachbarort Eldingen (»Die gute Heide-Butter, ein Qualitätsbegriff«), ein Zuckereinwickelpapier mit dem Aufdruck »Willkommen in der Lüneburger Heide«, eine kleines Glanzpapier mit einer Abbildung des Sarotti-Mohrs, wohl ursprünglich von einer Praline. All diese Dinge können im Archiv nicht über standardisierte Suchen gefunden werden, man ahnt entweder, wo sie sind, oder kann sie, was schöner ist, überraschend (wieder)finden. Und hier wäre er dann, der nicht mehr sinnvoll zu ordnende Rest, der, auch wenn er keinerlei Erkenntnisse zum literarischen Werk vermittelt, doch eine Papierbrücke zwischen Autorleben und Welt legt, die vielleicht nie jemand außer den Archiv-Mitarbeitern betreten wird.

1 Konvoluttitel von Arno Schmidt für einen kleinen Bestand in seinem Nachlass. — 2 Zumindest in Museen ist das verbreiteter, als man annehmen möchte: »Museen ersticken fast an ihren Sammlungen, die sie weder adäquat präsentieren noch entsprechend aufbewahren können. Insofern ist ein – fast sogar der – wichtigste Schritt ein Sammlungsprofil festzulegen und diejenigen Bestände abzugeben, die nicht in dieses Profil passen.« Marisa Schiele: »Entsammeln: Wie Museen in Deutschland damit umgehen«, https://museumswissenschaft.de/entsammeln-wie-museen-in-deutschland-damit-umgehen/ (6.8.2020). — 3 In »Zettel’s Traum« wurden allerdings einzelne Seiten durch spätere Fassungen ausgetauscht, wie man an den unterschiedlichen Schreibmaschinentypen sehen kann – gleich die erste Seite, die fast keine Korrekturen trägt, ist so eine ausgetauschte Seite, ebenso die Seiten 10 und 11 der Erstausgabe. Vom Roman »Schule der Atheisten« gibt es einen ersten, nur wenige Seiten umfassenden Entwurf, der noch als monologische Erzählung angelegt wurde; vgl. »Die Schule der Atheisten«, 1. Entwurf, in: Arno Schmidt: »Fragmente«. Bargfelder Ausgabe, Supplemente, Bd. 1. (Frankfurt / M.) 2003, S. 139–152. — 4 Das ist zum Beispiel bei Peter Rühmkorf ganz anders, nicht nur weil sein Nachlass so umfangreich ist (mit über 600 Kästen der größte Einzelnachlass im Deutschen Literatur-Archiv in Marbach). Bei Rühmkorf sind Textzeugen mit Notizen und Entwürfen nicht immer eindeutig zuzuordnen. — 5 Die acht Zettelkästen zu »Zettel’s Traum« enthalten laut Schmidt über 120 000 Einzelzettel; nach ersten Stichproben dürften es eher zwischen 50 000 und 70 000 Notizen sein. Die ersten 3200 Zettel aus diesem Bestand können auf der Website der Arno Schmidt Stiftung eingesehen werden (https://www.arno-schmidt-stiftung.de/Archiv/Zettelarchiv.html; 6.8.2020), ebenso die Zettel zur Erzählung »Caliban über Setebos«. Die Notizen zum (ungeschriebenen) Roman »Lilienthal« sind als Edition erschienen (Bernd Rauschenbach (Hg.): »Arno Schmidts Lilienthal 1801, oder Die Astronomen. Fragmente eines nicht geschriebenen Romans«, Zürich 1996), ebenso die Zettel zu »Seelandschaft mit Pocahontas« (Susanne Fischer / Bernd Rauschenbach (Hg.): »Arno Schmidts Seelandschaft mit Pocahontas. Zettel und andere Materialien«, Zürich 2000). — 6 Dieter Gätjens: »Die Bibliothek Arno Schmidts. Ein kommentiertes Verzeichnis seiner Bücher«, Zürich 1991. Als PDF abrufbar unter https://www.arno-schmidt-stiftung.de/Archiv/Bibliotheksverzeichnis.html; 6.8.2020. — 7 Vgl. Arno Schmidt: »Vier mal vier. Fotografien aus Bargfeld«, hg. von Janos Frecot (2003), und Arno Schmidt: »SchwarzWeißAufnahme. Fotografien von Arno und Alice Schmidt aus drei Jahrzehnten«, hg. von Janos Frecot (2009). — 8 Ich beschränke mich im Folgenden auf den Papiernachlass, die Sammlung kleiner und seltsamer dreidimensionaler Objekte lasse ich beiseite. — 9 »… und eine welt noch«, Kunsthaus Hamburg, April–Juni 2016. — 10 Vgl. dazu Bernd Rauschenbach: »Wenn sich eine Briefklammer derart sperrt, daß soll man achten. Arno Schmidt & Design«, Darmstadt 1990. — 11 Das Originalmanuskript zum Roman »Das steinerne Herz«, das Schmidt Wilhelm Michels zur Aufbewahrung übergeben hatte, trägt den Vermerk: »Wichtig, da ohne alle die im Buch von Krawehl vorgenommenen Kastrierungen!«; in sein Handexemplar des Romans hatte er notiert: »Das Originalmanuskript hat durch den Verleger eine weitgehende politische Entschärfung erfahren, von der einseitig die Bundesrepublik profitiert hat. – Bei einer späteren Auflage also zu berichtigen; ebenso wie diverse Erotica im Urtext wiederherzustellen.« — 12 Schmidt datierte die Erzählung »Pharos« auf dem Typoskript nachträglich auf den August 1932; sie war aber erst zwischen 1942 und 1943 entstanden. Vgl. dazu Susanne Fischer: »Datierung literarischer Texte als Inszenierung der Schriftstellerbiographie. Arno Schmidts ›Pharos‹«, in: »Text. Kritische Beiträge« 2 / 1996, S. 97–104, und Susanne Fischer: »Archivnote zur Datierung des ›Pharos‹«, in: »Bargfelder Bote« 253 / 254 (2001), S. 28–31. — 13 Als Alice Schmidt den Eintrag im Personalausweis 1955 wieder korrigieren ließ, verwies sie darauf, dass ihr Mann sich in der Kriegsgefangenschaft vier Jahre älter gemacht habe, um nicht zu schweren Arbeiten herangezogen zu werden. Wie ihm das gelang, bleibt rätselhaft, da er mit dem korrekten Geburtsdatum in die Gefangenschaft ging. Auf seinem Entlassungsschein wurde allerdings »1910« wiederum unauffällig in »1914« korrigiert. — 14 Henning Hermann-Trentepohl: »›Verfluchte Zeitn!‹. Die Rolle des Fernsehens im Spätwerk Arno Schmidts«, Frankfurt / M. 1992. Im Falle von Peter Rühmkorf, der einen ganzen Schuppen mit alten Zeitungen gefüllt hatte, die er aufbewahrte, weil Artikel daraus für die Arbeit möglicherweise noch einmal hätten wichtig werden können, wurden die Druckwaren kassiert. — 15 Abgedruckt in Susanne Fischer / Bernd Rauschenbach: »›Und nun auf, zum Postauto!‹ Briefe von Arno Schmidt«, Berlin 2013, S. 82–84.

Thomas Ehrsam

Vom Suchen und vom Finden Erfahrungen in Nachlassarchiven

»Wer sucht, der findet«, lautet der ins Alltagspraktische banalisierte Vers aus der Bergpredigt (Mt. 7,7), mit dem schon Kinder ermuntert werden, das Verlorene zu suchen und wieder zu finden. Nun lehrt aber die Erfahrung, dass das Gesuchte nicht immer gefunden wird –, und dass das Gefundene nicht immer das Gesuchte ist. Im zweiten, weniger banalen Fall spricht man, besonders wenn das Gefundene ein glücklicher Fund ist, von Serendipity (da die deutsche Übersetzung ›Serendipität‹ so hässlich klingt, belasse ich es beim englischen Ausdruck, er ist seltsam genug). Es war Horace Walpole, der Erbauer von Strawberry Hill und Verfasser des ersten Schauerromans, »The Castle of Otranto«, der den Begriff in einem Brief vom 28.1.1754 an Horace Mann einführte. Er hatte ein orientalisierendes Märchen gelesen: »Le voyage et les aventures des trois princes de Serendipe«, das zuerst 1557 in Venedig auf Italienisch erschienen war. Die Prinzen von Serendip (ein alter Name für Sri Lanka) machen auf ihren Reisen immer wieder unerwartete, unverhoffte Entdeckungen, und zwar, wie Walpole schreibt, dank »accidence« und »sagacity«, dank Zufall und Scharfsinn oder Klugheit. Offenen Blicks gehen sie durch die Welt, ohne etwas zu suchen, und stoßen auf Dinge, die ihnen dank ihres Scharfsinns zu Entdeckungen werden. Wesentlich für solche Entdeckungen sind Unvoreingenommenheit und Aufmerksamkeit. Müßiggängerisches Umherschweifen, ohne etwas zu suchen, passt nicht in die Wissenschaft, und deshalb meint der Begriff Serendipity heute, so wie er durch den Wissenssoziologen Robert K. Merton Karriere gemacht hat, verwertbare Entdeckungen, die sich auf der Suche nach etwas anderem glücklich und zufällig einstellen: etwa die Entdeckung Amerikas auf der Suche nach Indien, die des Penicillins oder von LSD auf der Suche nach einem anderen Wirkstoff.

Bevor ich mich dem Suchen und Finden und insbesondere der Serendipity im Archiv zuwende, möchte ich einen kurzen Blick auf das Internet und das Sammeln von Büchern werfen, denn hier zeigt sich exemplarisch ein Wandel der Möglichkeit und Bereitschaft zu Serendipity. Einerseits bietet das Internet mit seiner Google-Suche viele Gelegenheiten für Serendipity: Unter den fast unzähligen Treffern, die die Suchmaschinen auswerfen, stößt man immer auch auf Dinge, die man nicht gesucht hat ‒ und meistens sofort übergeht oder wegklickt, aber manchmal ist da etwas, was einen weiterbringt, obwohl man nicht danach gesucht hat: ein zufälliger Fund! Andererseits wird ebendiese Serendipity dort weitgehend verunmöglicht, wo sie seit je zu Hause ist: beim Sammeln von Büchern.

Kaum ein Geschäftsgebiet wurde schon in der Frühzeit des Internets so nachhaltig durch ebendieses verändert wie das der Antiquariate. Der Radius eines Büchersammlers war früher beschränkt auf die Kataloge einer überblickbaren Anzahl von Antiquariaten und auf Ladengeschäfte. Der Sammler besuchte sie, anders als der Gelegenheitskäufer, der nach einem bestimmten Buch fragte, um sich anregen zu lassen und – mit Glück – etwas zu finden, was er nicht explizit gesucht hatte, etwas, was ihn – vom Text, der Typografie oder Illustration und vom Erhaltungszustand her – ansprach und in sein Sammelgebiet passte, oder – noch schöner – ein neues eröffnete. Bereits ab 1996 hat sich das allmählich und dann grundlegend geändert: Die großen Plattformen AbeBooks und ZVAB wurden gegründet und versammelten bald die Bestände von Tausenden von Antiquariaten aus der ganzen Welt mit insgesamt vielen Millionen Büchern, die damit jedem in seiner Stube zugänglich wurden. Das ist großartig für den, der einen bestimmten Titel, einen Autor oder ein klar bestimmtes Sachgebiet sucht. Zum Stöbern und dem glücklichen, unerwarteten Fund sind diese Plattformen allerdings völlig ungeeignet, weil Millionen angebotener Bücher jedes Stöbern sofort erlahmen lassen. Bleiben die Ladengeschäfte, oder besser: blieben die Ladengeschäfte. Denn je mehr die Plattformen ausgebaut wurden, desto mehr Läden wurden (und werden immer noch) geschlossen. Die Besitzer gaben, von den steigenden Mieten bedrängt, auf und wechselten in das Netz. Viele neue Antiquare haben seither gleich dort begonnen und freuen sich an einer ruhigen Tätigkeit ohne Ladenmiete und Präsenzzeiten, allerdings auch weitgehend ohne direkten Kundenkontakt. Der leidenschaftliche Sammler hat das Nachsehen. Antiquare mit Ladengeschäft klagen allerdings seit Jahren, dass diese Aficionados, die sich Zeit nehmen zum Stöbern und nicht mit einem konkreten Wunsch, es sei denn dem, ›etwas‹ zu finden, ins Geschäft kommen, immer seltener werden. Dass an diesem Befund etwas dran ist, zeigen auch die in den letzten zehn, zwanzig Jahren gesunkenen Besucherzahlen von Antiquariatsmessen, dem verbliebenen Eldorado des Stöberns. Es scheint, und das mag für das Thema Serendipity über das Beispiel hinaus bedeutsam sein, dass gleichzeitig mit der digitalen Revolution, die wesentlich auch eine wachsende Inanspruchnahme des Einzelnen durch digitale Geräte ist, eine Grundbedingung der Serendipity im Schwinden ist: die mit Muße verbundene, sich Zeit lassende wache und offene Aufmerksamkeit für das, was einem begegnet. Das gehetzte Wegklicken einströmender Informationen ist jedenfalls das Gegenteil müßiger Offenheit.

Wie steht es nun mit der Serendipity im Archiv? Archive sind keine Orte für freies Stöbern, zu sehr und mit gutem Grund werden die Bestände bewacht und den Benutzern nur in kleinen Portionen ausgegeben. Wer in ein Archiv geht, muss sich in der Regel mit einer konkreten Suche ausweisen, sei es die eigene Familiengeschichte betreffend, sei es die Korrespondenz einer Person, für die man sich interessiert, oder Dokumente zu einem Leben, eines historischen Geschehens oder was immer. Die in der Regel digitalen Kataloge, darunter der von der Staatsbibliothek zu Berlin betreute Verbundkatalog für Nachlässe und Autographen Kalliope, weisen den Weg zum Gesuchten.

Das heißt aber noch lange nicht, dass man das so einfach Gefundene auch einfach zu lesen bekommt. Nicht nur Urheberrechte, der Persönlichkeitsschutz und Sperrungen durch die Nachlasser können dem – verständlicherweise – im Weg stehen, sondern und trotz aller Bekenntnisse zur Digitalisierung auch die Kopier- oder Scanregeln der einzelnen Archive. Einige Archive schicken auf Anfrage und natürlich gegen Gebühr unkompliziert Kopien oder Scans, andere aber gehen äußerst restriktiv damit um. Ein Münchner Literaturarchiv beschränkt den Kopierservice auf gerade 25 Seiten und will das Verschicken von 29 Seiten schon als großes Entgegenkommen gewürdigt wissen – und macht ungefragt das etwas louche Angebot, den Preis zu senken, wenn man sich in der geplanten Publikation beim Archiv nicht nur bedanke, sondern einige lobende Zeilen zu dem wunderbaren Archiv schreibe … Will man nun das gesamte gefundene Konvolut, in meinem Fall ein keineswegs ausufernder Briefwechsel, lesen, muss man ins Archiv fahren. Wohnt man in Norddeutschland, bedeutet das zwei Tage Bahnfahrt, zwei Hotelübernachtungen und einen Tag im Archiv für die Lektüre von ca. 35 Briefen. Dasselbe Archiv bietet auf seiner Website einige Nachlässe komplett digitalisiert und gratis an, aber gegen Gebühr eine Handvoll Briefe zu kopieren und zu verschicken, geht über seine Möglichkeiten; man verwendet die dafür nötige Zeit lieber für seitenlange E-Mails. Viele Archive und Handschriftenabteilungen von Bibliotheken sind erfreulicherweise viel kulanter und bei ernsthaftem Interesse auch bereit, von Fall zu Fall über etwaige Regeln hinwegzusehen und den Benutzerinnen und Benutzern entgegenzukommen. Lob ihnen!

Aber gibt es auch zufällige Funde im Archiv? Je höher der Erschließungsgrad, je perfekter der Bestand geordnet ist, desto kleiner die Chance für zufällige Funde. Am höchsten ist der Erschließungsgrad in der Regel in den Handschriftenabteilungen der Bibliotheken, wo zumindest früher jedes Dokument einzeln erfasst wurde. Mittlerweile ist man aber auch hier meist zur Erfassung auf Dossierebene übergegangen, die schiere Menge des Materials hat dazu gezwungen. Die Dossiers (eine Korrespondenz, Dokumente zu einem Thema, z. B. die Biografie des Nachlassers) werden dabei genau geordnet – wenn die arbeitsaufwendige Erschließung zum Abschluss gebracht wird. Die Suche liefert dann die präzis ›richtigen‹ Resultate. Doch längst nicht alle Bestände können in diesem Sinn erschlossen werden.

Wenig nachgefragte Bestände sind oft nur konservatorisch gesichert: rostige Büroklammern und Plastikmäppchen werden entfernt, die Dossiers oder Konvolute in säurefreie Schachteln versorgt. Aber oft reicht der Personalbestand nicht einmal dazu. Die Staatsbibliothek zu Berlin verwahrt zum Beispiel den 54 Kästen und Ordner umfassenden Nachlass der heute weithin vergessenen Schriftstellerin Ilse Molzahn. Er präsentiert sich noch heute, 38 Jahre nach der Übernahme, weitgehend so, wie er seinerzeit ins Haus kam: mit Büroklammern und Schnüren um in Packpapier geschlagen Korrespondenzkonvolute und zu einem großen Teil in den noch von Molzahn angelegten alten Ordnern mit zum Teil defekten Schließmechanismen, die das Blättern ohne Beschädigung der delikaten Durchschläge fast verunmöglichen. So bedauerlich es ist, dass die Stiftung Preußischer Kulturbesitz lieber Museum um Museum baut, als ihre Bestände zu sichern und zu bearbeiten, so günstig ist dieser an Verwahrlosung grenzende Umgang mit eigenen Beständen für den Zufallsfund: Mitten in der umfangreichen Korrespondenz mit ihrem Mann, dem Maler Johannes Molzahn, stößt man auf zwei Briefe an Friedo Lampe. Zugegeben, für mich war dieser Fund kein Zufall, denn genau danach hatte ich gesucht und mangels eines detaillierten Verzeichnisses den halben Nachlass stundenlang durchgeblättert. Aber dabei bin ich auch auf anderes, Unerwartetes, gestoßen. In einem großen in Packpapier eingeschlagenen Konvolut, das im Verzeichnis als »Verschiedene Briefe, vornehmlich an Johannes Molzahn« figuriert, finden sich zwar kaum Briefe an den Genannten, aber solche von oder an Ernst Wiechert, August Scholtis, Sabine Lepsius und Hans Erich Nossack, dessen langjährige Korrespondenz mit Ilse Molzahn auf verschiedene Kästen und Ordner verteilt ist. Zufallsfunde, die bei gehöriger Erschließung allerdings keine wären.

Es gibt aber auch – selten genug – die wirklich überraschenden und zugleich zufälligen Funde auch im Archiv, Serendipity auch hier! Von einem solchen Fall möchte ich hier zum Schluss erzählen. Während der Arbeit an der Edition der Tagebücher von Thea Sternheim bin ich mehrfach auf eine Person gestoßen, die immer nur »die Rieß« genannt wurde. Sie war, so ließ sich den Eintragungen Thea Sternheims entnehmen, in den Zwanzigerjahren eine berühmte Porträt-Fotografin mit Atelier am Kurfürstendamm gewesen mit internationaler Prominenz als Kundschaft. Sie war liiert mit dem französischen Botschafter in Berlin, Pierre de Margerie, dem sie nach seiner Abberufung 1931 nach Paris folgte. Hier nun verkehrte sie in der französischen Gesellschaft, muss das Fotografieren aber bald aufgegeben haben. In den späten Dreißigerjahren erkrankte sie, war zunehmend gelähmt und vereinsamte schließlich. Mitte der Fünfzigerjahre muss sie gestorben sein, das Todesdatum ist bis heute unbekannt. Die fast einzigen Zeugnisse dieser Zeit sind eben die Tagebücher Thea Sternheims, die »die Rieß« trotz wachsender Aversion bis zur Libération immer wieder besuchte (und sich ihre Bettgeschichten mit Gottfried Benn anhörte). Sie ging hin aus Solidarität, weil die Rieß »paralysiert und Jüdin« war, »das ist wirklich zu viel des Unerträglichen«.

Wer war diese seinerzeit berühmte Fotografin, die auch von den Fotohistorikern vollständig vergessen war? Nicht einmal ihr Vorname war bekannt. Mit dieser Frage ging ich im Deutschen Literaturarchiv Marbach a. N. zu Michael Davidis, dem damaligen Leiter der Bildabteilung, der diese ebenso leidenschaftlich wie kenntnisreich und freundlich führte. »Ach, die Rieß!«, rief er freudig, jemanden gefunden zu haben, der sich auch für sie interessierte. Er hatte bereits eine kleine Mappe angelegt mit Dokumenten zu ihr und seinen, bisher ergebnislosen Anfragen an andere Institutionen. Erst die intensiven Recherchen der beiden Damen vom Verborgenen Museum in Berlin, Marion Beckers und Elisabeth Moortgat, sowie einer Studentin, die die Geburtsurkunde und damit auch den Vornamen der Rieß, Frieda (nicht Hanna, wie Marianne Breslauer sich zu erinnern meinte), fand, brachten Licht ins Dunkel und führten 2008 zu einer großen Ausstellung des Verborgenen Museums in der Berlinischen Galerie. Doch zurück ins Büro von Michael Davidis: Er zog einen dünnen, unscheinbaren und extrem raren Katalog der Galerie Flechtheim zu einer Fotoausstellung der Rieß von 1925 aus dem Regal. Ich blätterte ihn durch – und stieß zuhinterst auf ein großzügig und in eleganter Schrift gedrucktes Gedicht von Gottfried Benn, ein Gedicht zur Porträtfotografie, an die Rieß gerichtet: »Auf die Platten die Iche / tuschend mit Hilfe des Lichts …«. Da ich mich seit Jahren immer wieder mit Benn beschäftigt habe, blätterte ich nicht weiter, sondern las. Das Gedicht war mir unbekannt, und, wie sich bald herausstellte, auch allen Herausgebern von Benns Werken. Es ist das einzige Gedicht Benns zur Fotografie und das einzige Zeugnis seiner Beziehung zur Fotografin aus seiner Hand: ein glücklicher Fund! »Accidence« und »sagacity« – Serendipity!

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