Kitabı oku: «TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv», sayfa 4

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Die meisten seiner Vorträge hat Adorno nicht nur einmal gehalten. Sondern verschiedenenorts – und zwar in leicht variierter Version. »Kultur und Culture« darf als der Vortrag gelten, mit dem Adorno am häufigsten aufgetreten ist, insgesamt achtzehnmal.11 Für die »Amerika-Häuser« war die Thematik ideal. Dort wurde der Vortrag zumeist unter dem Titel »Deutsche und amerikanische Kultur – sind sie vergleichbar?« angekündigt.

Veranlasst durch einen Zeitungsbericht über einen dieser Auftritte, schrieb Joachim Günther, Herausgeber der »Neuen Deutschen Hefte«, an Adorno und bekundete Interesse, den Vortrag in seiner Zeitschrift zu bringen. Adorno antwortete ihm am 22. Mai 1957: »Leider kann ich Ihnen den Vortrag über die Möglichkeit eines Vergleichs zwischen der amerikanischen und deutschen Kultur nicht geben. Und zwar keineswegs deshalb, weil bereits darüber disponiert wäre, sondern weil es diesen Vortrag in literarischer Form nicht gibt. Ich habe ihn in verschiedenen Amerikahäusern ganz frei gehalten, lediglich aufgrund von Notizen. Aus diesen Notizen einen Text zu machen, der sich drucken ließe, wäre eine unendlich langwierige und verantwortungsvolle Aufgabe, zu der ich eben einfach nicht komme. Ganz abgesehen davon, daß diese Sache wirklich als Vortrag, im Sinne unmittelbarer Einwirkung auf Zuhörer, konzipiert ist, und nicht als Text, und daß ich diesen Grundcharakter antasten würde, wenn ich versuchte, ihn ›auszuarbeiten‹. Schon allein der Begriff ›Kultur‹ – das Wort kann ich allenfalls, wenn auch nicht ohne Scham, in den Mund nehmen, aber nicht in die Feder. Sie verstehen mich.«12

Der Brief an Günther weist auf das grundsätzlich Verschiedene von Vortrag und ausgearbeitetem Text hin. Adorno hat es immer wieder betont: Eine Rede sei keine Schreibe, ein improvisierender Vortrag nicht für Buch oder Zeitschrift bestimmt. Ihn zum Text festzuschreiben und zu publizieren widersprach Adornos Überzeugungen. Gedrucktes verlange eine ganz andere sprachliche Erscheinungsform, nämlich eine »literarische«, wie es im Brief an Günther heißt, einen herangewachsenen, verantwortlichen Text, den Dichte, Stringenz und Bündigkeit der Formulierung charakterisieren.

Adorno hat den Vortrag über »Kultur und Culture« (am 9. Juli 1958) auch im Rahmen der Hessischen Hochschulwochen für staatswissenschaftliche Fortbildung gehalten. Die Hessischen Hochschulwochen, eingerichtet zur Weiterbildung für Beamte, waren Veranstaltungsreihen, die über den staatswissenschaftlichen Bereich hinaus bald auch kulturelle oder allgemein bildende Themen abdeckten. Adorno nahm achtmal als Referent daran teil (1954–1962). Der Üblichkeit entsprechend, wurden die Beiträge in eine Publikationsreihe aufgenommen, deren Verbreitung er anfangs auf den Teilnehmerkreis beschränkt glaubte.13 Er gab diesmal seine Zustimmung zum Abdruck – aber diesem eine Vorbemerkung ad lectores bei (vgl. die maschinengeschriebene Vorlage in Abb. 1), in der er die Publikation der »freien Rede, wie man das so nennt« unter generellen Vorbehalt stellte. Seine Kautelen wollten »wenigstens einigen der Mißdeutungen« vorbeugen, denen er sich ausgesetzt sah. Adorno hat die Vorbemerkung so oder so ähnlich wiederholt bei Abdrucken seiner Improvisationen verwandt.


Abb. 1

Nichts Gesprochenes könne seinen theoretischen und literarischen Ansprüchen genügen, könne »dem gerecht werden, was er von einem Text zu verlangen hat«. Er zögere, der Veröffentlichung zuzustimmen. Es mag erstaunlich erscheinen, dass Adorno – dem doch vielfach attestiert wurde, wie gedruckt zu sprechen – behauptet, »daß in seiner Art von Wirksamkeit gesprochenes und geschriebenes Wort noch weiter auseinandertreten als heute wohl durchweg«. Weniger erstaunlich erscheint die Behauptung, wenn man im Archiv sieht, wie eingehend er an seinen Texten gearbeitet hat, um die »Verbindlichkeit der sachlichen Darstellung« zu erreichen, die für ihn zur Moralität des Schreibens gehörte.

Während schriftliche Arbeiten verbindlich auf die dargestellte Sache gerichtet sein sollten, hat Adorno bei Vorträgen den Wirkungsaspekt betont. So auch in dem zitierten Brief an Joachim Günther. Adorno hat nicht voraussehen können, dass einer der Vorträge, »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus«14 (1967), erst nach mehr als 50 Jahren seine größte Wirkung entfalten sollte, ironischerweise in schriftlicher Form.

Als die »Vorträge 1949–1968« zur Publikation vorbereitet wurden, ging das Manuskript des Bandes an den Suhrkamp Verlag. Dort hatte Eva Gilmer, Leiterin der Abteilung Wissenschaft, die Idee, den Rechtsradikalismus-Vortrag zusätzlich auch separat herauszubringen. Er erschien im Juli 2019 in handlicher Broschur, mit einem Nachwort des Historikers und Publizisten Volker Weiß. Die ungeheure Resonanz, die diese Veröffentlichung erfuhr, war erstaunlich. Das Büchlein stand sechs Monate lang auf der »Spiegel«-Bestsellerliste, bis April 2020 etwa wurden 70 000 Exemplare verkauft.15 Nachwort wie eine Vielzahl von Rezensionen machten deutlich, dass dies nicht nur ein abgelagertes Zeitdokument war. Es war nicht bloß ein der Dokumentationspflicht geschuldeter Nachtrag zu den Schriften von Adorno. Relevanz und Gegenwartsbezug dieses Vortrags wurden immer wieder betont. Vieles lasse sich auf die heutige politische Situation beziehen, die nach Erklärungen für den Aufstieg national-autoritärer Bewegungen und antiliberaler Parteien, für die Entwicklung einer »neuen Rechten« – die sich als gar nicht neu erweist – verlangt. Schlagend hat der kleine Band gezeigt, welches Maß an aktuellen Einsichten eine Veröffentlichung aus dem Archiv bereithalten kann.

1 Vgl. zum Nachlass auch den Überblick, den Rolf Tiedemann 1992 gab: »Theodor W. Adorno Archiv 1985–1991. Ein Bericht«, in: »Frankfurter Adorno Blätter I«, hg. vom Theodor W. Adorno Archiv, München 1992, S. 126–136. — 2 Das Theodor W. Adorno Archiv ist eine Einrichtung der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur. Es wurde 1985 von der Stiftung gegründet, die Eigentümerin des Nachlasses ist. In den ersten zwanzig Jahren war das Archiv in einem städtischen Gebäude untergebracht, unter einem Dach mit der Frankfurter Drogenhilfe. Seit 2005 befinden sich Adornos Hinterlassenschaften in dem Institut für Sozialforschung, seiner einstigen Wirkungsstätte, dem Stammhaus der Kritischen Theorie. Das Adorno Archiv ist vor allem durch Editionen in die Öffentlichkeit getreten. Von den durch Rolf Tiedemann 1985 auf den Weg gebrachten, später von Christoph Gödde und Henri Lonitz betreuten »Nachgelassenen Schriften« sind inzwischen 18 Bände erschienen; daneben auch 11 Bände der »Briefe und Briefwechsel« von Adorno. — 3 Bei der Terminorganisation scheint Gretel Adorno leitend gewesen zu sein. Zur Planung eines Vortrags an der Volkshochschule Hildesheim fragte Olbrich durch eine Notiz bei Gretel Adorno an: »Frau Dr. Adorno: TWA meint, daß er das mit dem Kieler Vortrag verbinden könne – er bittet um Ihr Votum. E. O. / Nein! (gez.) G. A.« (Theodor W. Adorno Archiv [abgekürzt: TWAA], Signatur Ei 215 / 5). — 4 Das Findmittel für den Nachlass ist die Archivdatenbank der Akademie der Künste: www.archiv.adk.de. — 5 Eine Auflistung steht online unter https://www.adk.de/de/archiv/bibliothek/pdf/Nachlassbibliothek-Theodor-W.-Adorno.pdf (16.11.2020). — 6 Vgl. Theodor W. Adorno: »Gesammelte Schriften«, hg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno, Susan Buck-Morss und Klaus Schultz, Bd. 6, Frankfurt / M. 1997, S. 415. Im Folgenden nachgewiesen als GS mit Band- und Seitenzahl. — 7 Erschienen bei Ricordi, Mailand 1968. — 8 Zitiert nach GS 7, S. 539 f. — 9 TWAA, Sign. Ru 121 / 9. — 10 Vgl. Theodor W. Adorno: »Vorträge 1949–1968«, hg. von Michael Schwarz, Berlin 2019. — 11 Ebd., S. 156–176; vgl. auch S. 638–641. — 12 TWAA, Sign. Ve 226 / 6. — 13 Später musste Adorno die Erfahrung machen, dass die Schriftenreihe über die Teilnehmer der Hochschulwochen hinausgedrungen war. Es wurde sogar, registrierte er mit Schrecken, in soziologischer Literatur aus seinen Vorträgen zitiert. — 14 Vgl. Adorno: »Vorträge 1949–1968«, a. a. O., S. 440–467. — 15 Der buchhändlerische Erfolg der »Aspekte des neuen Rechtsradikalismus« musste um so mehr überraschen, als Adornos Vortrag bereits seit 2010 auf einer Webseite der »Österreichischen Mediathek« anhörbar war, eine Veröffentlichung, die so gut wie keine Aufmerksamkeit gefunden hatte. Erst die Druckpublikation, fast zehn Jahre später, löste eine Welle von Rezensionen in Printmedien, im Rundfunk und Internet aus.

Susanne Fischer

Reste und Ränder »Nichtiges Zeug«1 im Nachlass-Archiv Arno Schmidts

Ein Problem bei der Archivierung von Schriftstellernachlässen scheint mir zu sein, dass sich die Bearbeiter in der Regel einer ziemlich durchmischten Objektlage gegenüber sehen. Während Archive von Firmen oder anderen Institutionen gezielt aufgebaut werden, nach eingangs festgelegten und später vielleicht noch mehrfach angepassten Regeln, entsteht ein Schriftstellernachlass im Moment der Katastrophe – eben noch war die Autorin Herrin über ihre Manuskripte, persönlichen Gegenstände und Notizen, von denen nur sie selbst wusste, ob sie etwas bedeuten oder nicht. Mit ihrem Tod ist alles Vorhandene potenzielles Archivgut, und plötzlich haben andere zu entscheiden und zu begründen, was aufbewahrt wird. Alles gleichwertig? Sicher nicht. Archivmitarbeiter kassieren einiges schon bei der Sichtung oder ›entsammeln‹ es später doch noch.2 Aber nicht alles, was aufbewahrt wird, fügt sich dann sinnvoll in eine Ordnung, weil Ordnung auf Systematik beruht, während Wirrkopf und Welt sich allen Systematiken gern entziehen. Eine ausreichend detaillierte Ordnung von Dingen bildet am Ende die Welt eins zu eins ab und hilft deshalb nicht weiter, während eine weniger detaillierte Ordnung dazu führen kann, dass Einzelnes nicht mehr auffindbar ist. Darum soll es im Folgenden gehen.

Bargfelder Bestände

Weil ich beim Aufbau des Archivs der Arno Schmidt Stiftung nicht mitgearbeitet habe, kann ich über Einzelentscheidungen zur Systematik keine Auskunft geben. Doch da Arno Schmidt gelernter Buchhalter und ein ordentlicher Mensch war, hatte er seine Manuskripte schon zu Lebzeiten weitgehend systematisch abgelegt, wenn auch aus Platzmangel zum Teil in Kartons auf dem Dachboden. Zu seinen Werken gibt es in der Regel nur wenige Textzeugen mit Entwürfen und abweichenden Fassungen, da er schon während der ersten Niederschrift sehr genau, bis zu Details der Formulierungen wusste, wie sein Text aussehen sollte. In den ersten Jahren seiner Autorschaft verfasste er seine Entwürfe noch handschriftlich, schon weil ihm bis 1949 keine eigene Schreibmaschine zur Verfügung stand. Auf den Entwurf folgte unmittelbar das abgabereife Reinschrift-Typoskript, möglicherweise auch aus dem pragmatischen Grund, dass auf den ausgeliehenen Schreibmaschinen nicht lange gearbeitet werden durfte.

Ab 1957 gibt es meist ein oder zwei maschinenschriftliche Entwürfe, gefolgt von einer Reinschrift mit mehreren Durchschlägen. Bei den Texten des sogenannten Spätwerks, also den als fotomechanische Wiedergabe des Typoskripts erschienenen Romanen »Zettel’s Traum«, »Schule der Atheisten«, »Abend mit Goldrand«, bildet sogar die erste Typoskript-Niederschrift mit handschriftlichen Korrekturen zugleich die Endfassung des Textes.3 Für Zeitungsartikel und Rundfunksendungen sind manchmal mehrere leicht voneinander abweichende Fassungen vorhanden, da die Texte bei erneuter Verwendung gelegentlich überarbeitet oder gekürzt wurden. Insgesamt ist es nicht schwierig, die Zeugen einzelnen Texten zuzuordnen, sodass Arno Schmidts Manuskriptbestand nach seinem Tode übersichtlich vorgefunden wurde.4 Das führte dazu, dass bisher keine digitale Erschließung des Textarchivs in einer Datenbank vorgenommen wurde, da alle Mitarbeiterinnen mit der Zettelkartei, die bei der ersten Aufnahme angefertigt wurde, problemlos arbeiten können.

Ein besonderer Bestand innerhalb des literarischen Nachlasses sind bekanntlich Arno Schmidts Zettelkästen. Erhalten haben sich aber ›nur‹ acht Kästen zu »Zettel’s Traum«, einer zu »Abend mit Goldrand« und einer zum letzten, nicht vollendeten Roman »Julia, oder die Gemälde« sowie kleinere vermischte Zettelsammlungen. Dieser Bestand ist nur zum Teil detailliert erschlossen.5

Schwieriger ist es mit den Lebenszeugnissen und den dreidimensionalen Objekten – da Arno Schmidts Nachlass in Bargfeld in seinem Haus und dem von ihm gebauten Archiv verblieb, gab es keinen Anlass, Objekte oder Dokumente zu kassieren; es hatte alles (s)einen Platz. Erschlossen und katalogisiert wurde neben dem schriftstellerischen Manuskriptnachlass zuerst die Bibliothek,6 rund fünfzehn Jahre später dann das Fotoarchiv, dessen Bestände Schmidt als überraschend guten Fotografen zeigen. Kurz danach folgte die Katalogisierung der Grafiksammlung, noch später die Aufnahme der Textilien im Nachlass, ebenfalls ein sehr umfangreicher Bestand.

Was zeigt sich in dieser Priorisierung? Natürlich ist der schriftstellerische Nachlass eines Autors das Wichtigste, außerdem waren die Aufnahme, Verzeichnung und Ordnung dieses Bestandes unerlässliche Voraussetzung für die Arbeit an der Werkausgabe, deren erster Band bereits sechs Jahre nach dem Tod des Autors erschien. Dass darauf die Aufnahme der Bibliothek folgte, ist Schmidts Ruf als Zitiermeister unter den Autoren geschuldet. Forscher und Leser wollten und sollten einfach wissen, was der Autor gelesen hatte (wobei die in Bargfeld erhaltene Privatbibliothek darüber nur begrenzt Auskunft gibt, was gern vergessen wird). Die Fotos, über 2000 Dias und Hunderte Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Arno und Alice Schmidt, wurden schon vor ihrer Katalogisierung genutzt. Autorenporträts wurden für zahlreiche Veröffentlichungen gebraucht, während ›schöne‹ Landschaftsaufnahmen zum Beispiel als Titelbilder für die Taschenbuchausgaben der Werke Schmidts Verwendung fanden. Dieser Bestand war frühzeitig durch Duplizierung der Negative und professionelle Abzüge gesichert worden; mit einer Datenbank und Digitalisaten erschlossen wurde er jedoch erst ab 2008, als der Fotohistoriker Janos Frecot ihn gesichtet hatte, auch aus fotografiehistorischer Sicht erhaltenswürdig fand und eine Wanderausstellung mit ausgewählten Landschaftsaufnahmen Arno Schmidts kuratiert hatte.7 Hier hatte sich also die Wahrnehmung des Bestands geändert, er erschien zwanzig Jahre nach Schmidts Tod bedeutender als zu Beginn der Archivarbeit.

Die von Arno und Alice Schmidt gesammelte Grafik wurde ab 2010 vom Kunsthistoriker Ole Wittmann in einer Datenbank erschlossen. Obwohl sie über lange Jahre materiellen Einschränkungen unterlagen, hatten Schmidts als Mitglieder der Griffelkunst-Vereinigung 90 Grafiken erworben; insgesamt weist die Datenbank über 500 gesammelte Stücke vom Druck bis zum Gemälde aus. Auch wenn das lebensgeschichtlich bemerkenswert ist, spielt es für Arno Schmidts Bedeutung als Schriftsteller keine große Rolle. Denn obwohl einige dieser Bilder in seinem Werk vorkommen, muss die Sammlung eher als Teil des Privatlebens gelten. Oder? Lassen sich die verschiedenen Sphären überhaupt unterscheiden? Was ist mit Schmidts Freundschaft zum Maler Eberhard Schlotter, die immerhin zum gemeinsamen künstlerischen Projekt »Das zweite Programm« führte; was mit den knapp 300 Arbeiten von Schlotter in Schmidts Nachlass? Die Entscheidung zur Katalogisierung des Bestands ging dennoch eher auf die Einsicht zurück, dass eine Kunstsammlung in einem Archiv nicht ungeordnet und unerschlossen aufbewahrt werden sollte, und nicht auf ein vermutetes Forschungsdesiderat zu Schmidts Verhältnis zu den Bildenden Künsten.

Der textile Nachlass wurde auf Anregung des Celler Museumsverbunds erst ab 2011 von der Textilhistorikerin Gisela Soltkahn inventarisiert. Die über 1000 Stücke stammen aus der Zeit zwischen 1930 und 1983. Diese umfangreiche Sammlung von Alltagsbekleidung ›kleiner Leute‹ ist wegen ihrer Vollständigkeit wohl einmalig, und gewinnt deshalb eine textilgeschichtliche Bedeutung, die zuvor niemand vermutet hatte. Das hat nun gar nichts mehr mit Schmidts Autorschaft zu tun, oder nur insofern, dass wegen der Einrichtung der räumlich großzügigen Gedenkstätte niemand die Entscheidung treffen musste, die Kleidung des Paares zu entsorgen. Sie blieb einfach vor Ort (wie auch die Einmachgläser im Keller), ohne dass der Bestand besonders betreut worden wäre, ehe Gisela Soltkahn die textilhistorische Bedeutung der Sammlung erkannte.

Erstaunen mag, dass es kein Inventar des Arno-Schmidt-Hauses gibt, also der eigentlichen Gedenkstätte, in dem alle im Haus gezeigten Möbel und Gegenstände verzeichnet wären. Abgesehen davon, dass die schiere Menge – wir sprechen immerhin von einem ganzen Haushalt – einen großen Aufwand verursacht hätte, wurde ein Inventar für die Arbeit der Stiftung nie als Desiderat empfunden. Alle Objekte werden innerhalb des Hauses und des noch zu Lebzeiten Arno Schmidts erbauten Archivs aufbewahrt. Es gibt kein weiteres Depot und kaum Leihverkehr, weder Zukäufe noch Abgänge. Deshalb wurde ein Inventar niemals vermisst, ebenso wenig übrigens wie ein Verzeichnis des Briefbestands, weil alle vorhandenen Briefe von und an Schmidts in Kopien im Büro jederzeit für die Arbeit zur Hand sind.

Nichtiges Zeug

An den Rändern des Schriftsteller-Archivs lagert Material, das nicht unmittelbar zum literarischen Nachlass gehört und dennoch mehr über den Autor aussagt als andere, vermeintlich wichtigere Objekte.8 Einiges davon lässt sich zwar bequem katalogisieren, gibt aber dennoch Rätsel auf: zum Beispiel die selbstgezeichneten Kalender der Schmidts, Resultat eines liebevoll gestalteten Privatkosmos voller »Kalenderherren«, deren Zuordnung zu den einzelnen Monaten ausgewürfelt wurde. Jeder Monat wurde von Schmidts mit einer sorgfältig gezeichneten Vignette der jeweiligen Kalenderherren geschmückt. Mit Hilfe eines Punktesystems zur Bewertung von Lebensereignissen, das bisher nicht rekonstruiert werden konnte, wurde in jedem Jahr der ›Sieger‹ unter den Monaten ermittelt. Diese Bögen – ein ganzes Jahr passt in der Regel auf ein größeres Blatt – haben es bis in eine Kunstausstellung geschafft,9 weil es reizvolle Objekte sind, ohne dass ihr Geheimnis entschlüsselt worden wäre. Zum Verständnis des Werks trugen sie bisher nichts bei, zur Erkenntnis über das Leben des Ehepaars Schmidt höchstens etwas wie ›äußerst merkwürdig‹. Dennoch käme niemand auf die Idee, sie zu entsorgen, denn allein ihre Existenz genügt, um sie für relevant zu halten. Ein anderes Konvolut umfasst Zeichnungen und Entwürfe für Gebrauchsgegenstände – auch nichts, was man bei einem Schriftsteller unbedingt erwarten würde; wohl aber passen die Entwürfe zu einem gelernten Autodidakten wie Schmidt, der sich mit vielem beschäftigte und sich vieles zutraute.10

Schmidts eigenes Nachlassbewusstsein trieb in seiner Sammlung kuriose Blüten. Es gibt Mitteilungen an seine Nachlassverwalter11 und sogar eine absichtliche Fehldatierung eines Manuskripts, die dazu dienen sollte, ihm schon als sehr jungem Mann die Autorschaft an einem ausgefeilten literarischen Text zuzuschreiben – für die Nachwelt wohlgemerkt.12 In den in Bargfeld aufbewahrten biografischen Unterlagen finden sich außerdem von Schmidt veränderte Urkunden mit dem falschen Geburtsjahr 1910; auf einem Heiratsschein ist die Jahreszahl absichtlich durch einen Brandfleck unkenntlich gemacht. Diese Fälschung zielte zwar eher auf Behörden und Schmidts Zeitgenossen als auf die Nachwelt, dennoch wurde sie überliefert – und ist zwar einerseits kaum zu erklären,13 andererseits aber im Hinblick auf das Fälschungsmotiv im Roman »Das steinerne Herz« nicht uninteressant.

Da Schmidt selbst über literarische Texte aus früheren Epochen arbeitete und sich meist für die Werke als Resultat der Schriftstellerbiografie interessierte (was hatten die Autoren gelesen, erlebt, gesehen und wie haben sie es, bewusst oder unbewusst, literarisch verarbeitet?), wollte er späteren Forschern ihre Arbeit erleichtern, indem er sechs Jahrgänge seiner Fernsehzeitschrift aufbewahrte mit Anstreichungen der Sendungen, die gesehen wurden. Tatsächlich steuerte er so weniger die Rezeption seiner Texte als den Bestand des postumen Archivs – denn weil er selbst diesem speziellen Altpapier einen so hohen Wert beimaß, musste es aufbewahrt werden. Dieses Material wurde übrigens später tatsächlich von einem Forscher für seine Untersuchung mit herangezogen.14 Im Einzelnen katalogisiert wurde es allerdings nicht.

Wie erschließt und verzeichnet man Teilsammlungen wie »Inhaltsangaben von Werkausgaben«, »Genealogien und Geburtstage von Bekannten«, »Versandlisten von Zeitungsartikeln«? Gar nicht. Die Mappen liegen in einem Extra-Stapel im Archiv. Für Schmidts literarische Arbeit sind sie, wie auf den ersten Blick zu sehen, unterschiedlich relevant. Die Versandlisten mit ihren Übersichten – an wen wurden wann Artikel geschickt, wann wurden sie gedruckt, wann wurden sie honoriert – dienten den Schmidts für die eigene Buchhaltung und dazu, nicht versehentlich eines der Feuilletons zweimal an dieselbe Redaktion zu schicken. Heute geben sie Aufschluss über die Arbeitsbedingungen eines Schriftstellers in den 1950er und 1960er Jahren, also über die Mühsal der Brotarbeiten.

Inhaltsangaben sagen aus, dass Schmidt ganze Werkausgaben anschaffte (wie aus seinem Bibliotheksverzeichnis ebenfalls leicht zu ersehen) und als systematischer Mensch auf einen Blick sehen wollte, welche Texte darin zu finden waren. Nicht sonderlich aufregend, ein Puzzlestück der Persönlichkeit – vielleicht würde es genügen, wenn man weiß, dass es das gab, vielleicht ließe sich eine einzelne Inhaltsangabe als Beispiel behalten. Allerdings erzeugte man damit auch ein Problem – die Frage, ob das ein Einzelstück, mehrere oder gar viele waren, ob sie sich unterscheiden, könnte interessant werden, wenn sich eines Tages jemand mit dem Thema »Arno Schmidt als Leser« beschäftigen möchte.

Die notierten Geburtstage von Freunden und Versuche, die Verwandtschaftsbeziehungen der befreundeten Familie Schlotter in einem Stammbaum zu erfassen, sagen dagegen eher wenig aus. Erstaunlich, dass Schmidt selbst die Genealogien in einem Konvolut »Brauchbares Material« aufbewahrte, in dem sich auch Skizzen zu Funkdialogen und ein Durchschlag des Briefs an den Lexikonverlag Knaur,15 englische Merksprüche und verschiedene Antiquariatsangebote finden. Hier entlastet Arno Schmidt einmal den weniger ordentlichen Rest der Menschheit: Wenn ein Konvolut in einem Schriftstellerhaushalt »Brauchbares Material« heißt, könnte man zum Beispiel auch daran denken, an den Vorratsschrank in der Küche einen Zettel zu kleben, auf dem »Mögliches Essen« steht. Mit anderen Worten – hier gibt es eine Sammlung von disparaten Notizen, die sich einer sinnvollen Ordnung und detaillierten Aufschlüsselung entzieht. Wer wissen will, was man hier findet, muss einfach nachsehen (obwohl der Autor selbst, mit einem phänomenalen Gedächtnis begabt, das vielleicht nicht musste).