Kitabı oku: «Was Menschlich Ist», sayfa 2

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4

Chris

25. Oktober

Hölle

Als Chris zu sich kam, fühlte sich die Luft zwar immer noch unangenehm an, aber wenigstens tat die Hitze nicht mehr weh. Entweder hatte er sich daran gewöhnt oder es war abgekühlt.

›Oder ich bin tot‹, dachte er und wartete ab, bis ihm sein Gehirn mehr Informationen lieferte. ›Als Letztes hab ich ein Licht gesehen, das kommt also hin. Was den Rest angeht…‹

Er spürte sich bäuchlings auf heißem Stein liegen. Chris blinzelte und sah zuerst nur Schemen um sich herum, bis das Bild langsam aufklarte. Seine Augen mussten sich vollkommen an die Dunkelheit gewöhnt haben, denn nun erkannte er mehr als graue Schemen um sich herum.

Der Raum ähnelte mehr einer Höhle, denn einem Zimmer. Wände, Boden und Decke bestanden alle aus dem gleichen Fels, dunkelrot, an manchen Stellen gräulich oder von Adern aus Obsidian durchzogen, die Chris wie aus einem Fiebertraum bekannt vorkamen. Rechts und links befanden sich zwei Türen, vor ihm winzige Fenster aus dunklem, matten Glas. Draußen flackerten Funken oder weit entfernte Feuer.

Seine Gedanken tanzten wirr, als säße ihm eine fremde Präsenz im Kopf, die ihm einredete, dass alles in Ordnung sei und er sich keine Sorgen machen müsste. Aus Mangel an Alternativen versuchte Chris zuerst, sich darauf einzulassen, schaffte es aber beim besten Willen nicht.

Sein Rücken fühlte sich merkwürdig an, wund und schwer. Ein zusätzliches Gewicht lastete auf ihm, und fühlte sich an wie ein zu schwerer Rucksack, als er sich aufsetzte. Nur mit Mühe blieb er gerade sitzen und fiel nicht direkt nach hinten.

›Warte.‹ Ihm lief ein Schauer über den ganzen Körper. ›Was ist, wenn das-‹

Chris versuchte, das Gewicht zu verlagern. Es ließ sich bewegen und steuern, fühlte sich an wie zwei Gliedmaßen, mit denen er gerade ungelenk und in Zeitlupe durch die Gegend fuchtelte. Je mehr er es versuchte, desto sicherer wurde er und desto weniger fühlte sich die Welt real an. Alle Eindrücke drangen nur noch wie durch zentimeterdicke Watte zu ihm, seine Gedanken blieben stehen, sein Körper fühlte sich fremd an.

In einem Anflug Panik fühlte Chris auf seinem Rücken nach. Fast sofort stießen seine Finger auf zwei riesige Fortsätze, die aus seinen Schultern ragten, mit weicher Haut bespannt, von hunderten Federn besetzt. Kaum, dass er sie berührte, zuckte ein Schmerz durch seinen gesamten Körper und hinterließ erst ein taubes Gefühl, dann fühlte sich alles hundertfach intensiver an. Chris schrie auf, sank zu Boden, und begann trotz der Hitze zu zittern.

›Scheiße, das sind Flügel. Ich habe Flügel.‹ Wie um die Erkenntnis zu bestätigen, pochte der Schmerz durch seine Schultern. Selbst die Luft tat weh. ›Das kann alles nicht wahr sein.‹

Plötzlich wurde es wieder hell im Raum. Instinktiv kniff Chris die Augen zusammen, nur um sie direkt wieder zu öffnen, weil sein Blick von der Gestalt inmitten des goldenen Scheins angezogen wurde. Mit schmerzhafter Langsamkeit gewöhnte er sich genug ans Licht, um die Person dahinter zu erkennen, doch in seinem tiefsten Inneren wusste er da schon längst, dass ein Engel vor ihm stand.

Alles an ihm war makellos, von der blassen, glatten Haut über die langen, hellblonden Haare, die ihm wie flüssiges Gold über die Schultern fielen, bis hin zu jeder einzelnen, reinweißen Feder seiner Flügel. Ein Schein wie eine zerbrochene Krone zierte sein Haupt, lange Roben aus fließendem, dunkelroten Stoff bedeckten seinen Körper. Grenzenlose Verachtung schien aus seinen Augen und sein Blick allein befahl Chris, vor ihm auf die Knie zu gehen. Eine überwältigende Präsenz wühlte sich durch seinen gesamten Geist.

Auch wenn er besser sehen konnte, verstand Chris kein bisschen. »Was-«

»Du sprichst, wenn ich es dir sage«, antwortete der Engel so scharf, dass sich jeder Anflug von Widerstand im Keim erstickte. »Wie ist dein Name?«

»Chris«, murmelte er und atmete beim bekannten Klang seiner eigenen Stimme erleichtert auf.

Der Engel nickte langsam und wiederholte den Namen wie ein unbekanntes Fremdwort. Chris meinte, eine gewisse Faszination in seiner Stimme zu hören, neben mit einer deutlich präsenteren Abneigung ihm gegenüber.

»Mein Name ist Luzifer«, sagte der Engel. Es fühlte sich an, als hätte Chris das längst gewusst. »Du fragst dich, wo du bist.«

Unwillkürlich nickte er und versuchte nicht einmal, das zu bestreiten.

»Du hast vor sechshundert Jahren gegen Gott und die Herrscher im Himmel rebelliert und wurdest zur Strafe in die Hölle gestürzt. Dämonen haben dich getötet, bevor du dich wehren konntest.«

›Was?‹ Chris wusste nicht einmal, wie er reagieren sollte. Ein Teil von ihm wollte das sofort zu seiner neuen Realität erklären, aber die Tatsache, dass das so offensichtlich gelogen war, ließ sich nicht ignorieren. ›Was will er von mir?‹

»Als Engel gehörst du nicht hierher«, fuhr Luzifer unterdessen fort. Ob Unsinn oder nicht, seine Stimme verlangte Aufmerksamkeit. »Deine Seele hing in den Höllenflüssen fest und sank auf den Grund. Ich habe dich von dort gerettet.«

›Du musst den Falschen haben‹, dachte Chris in der Hoffnung, dass das Luzifer irgendwie erreichte. Etwas musste schiefgelaufen sein.

»Durch deinen Tod wurde der Bann gebrochen, der dich in der Hölle hält. Du kannst sie jetzt verlassen. Und du bist in der Lage, den Bann nun für mich zu lösen.«

»Was… Wie?«

Der Engel stutzte und fiel einen Moment lang komplett aus seiner Rolle. Er starrte Chris direkt in die Augen, seine Schönheit verzerrte sich erst zu Entsetzen und dann zu abgrundtiefer Wut. »Du stellst keine Fragen«, zischte er, anscheinend mühevoll beherrscht. »Dein Gehorsam ist das Mindeste, was du mir schuldest. Du wirst mir alles geben, was du hast.«

Etwas drückte seinen Kopf erst nach unten und zog ihn dann wieder hoch. Es fühlte sich wie ein groteskes Nicken an.

»Ruh dich aus. Ich werde nach dir rufen.«

Luzifer wandte sich um, verschwand so schnell wie er gekommen war und nahm das Licht mit sich. Es musste jetzt stockdunkel im Raum sein, aber Chris konnte immer noch problemlos sehen.

Er fasste sich vorsichtig ins Gesicht. Die Haut war kühler und glatter als er in Erinnerung hatte, aber sie fühlte sich lebendig an und nicht nach Marmor. Unter dem neuen Oberteil aus fremdem, schwarzen Stoff war seine Brust flach. Den silbernen Anhänger spürte er noch immer um seinen Hals, das Metall war angenehm kühl, als könnte ihm die Hitze nichts anhaben. Nicht die ganze Welt stand auf dem Kopf.

»Scheiße«, murmelte Chris trotzdem, weil ihm nichts Besseres einfiel. Vorsichtig legte er sich wieder auf den Boden, hielt die Flügel von sich abgespreizt, damit sie nichts berührten und schloss die Augen. Vielleicht war es sinnlos, immer noch auf einen endlosen Albtraum zu hoffen, aus dem es sich aufwachen ließ, aber den Versuch war es wert.


5

Dorian

25. Oktober

Hölle

Nach einigen quälend langen Stunden hatte sich Dorian immerhin davon überzeugt, dass sein Weltbild gerade nicht komplett in sich zusammenbrach. Dennoch lag er immer noch reglos am Gebirgsrand, trocknete langsam aus und wusste nichts mit sich anzufangen.

»Dorian.«

Die Stimme hallte mit seinen eigenen Gedanken durch seinen Kopf. Dorian zuckte zusammen, kam im selben Moment auf die Beine und versuchte, die schmerzenden Schürfwunden so gut wie möglich zu ignorieren. Luzifer rief nach ihm.

Dorian schloss die Augen und wünschte sich seinem Meister entgegen. Als er wieder aufschaute, befand er sich ganz woanders. Wo genau, konnte er auf die Schnelle nicht sagen, denn die unzähligen Höhlen und Tunnel im Gebirge sahen sich zum Verwechseln ähnlich, aber er wähnte sich tief unter der Erde. Die Luft fühlte sich deutlich kühler an als draußen.

Sein Meister stand mitten im Raum, die Arme vor der Brust verschränkt. Selbst durch sein Licht hindurch sah er ausgezehrt und erschöpft aus. Was auch immer er mit dem Menschen gemacht hatte, es musste ihn angestrengt haben – und jetzt hinderte Dorian ihn auch noch daran, sich auszuruhen.

Er senkte den Blick und wollte nichts lieber, als auf Knien um Vergebung zu bitten, aber er beherrschte sich. Lieber ruhig stehenbleiben, nicht fragen, nicht weiter provozieren, und alles über sich ergehen lassen. Er verdiente es.

»Warum hast du nicht gehört?«, fragte Luzifer nach einem lang gezogenen Schweigen und verlor danach die Beherrschung. Jedes Wort eine Schockwelle, ein Schlag in den Magen und gleichzeitig ins Gesicht. Schon das erste hielt Dorian nicht aus. »Ich habe dir gesagt, dass du gehen sollst. Was war daran nicht zu verstehen?«

Dorian biss die Zähne zusammen. Die Tränen an sich konnte das zwar nicht verhindern, dafür aber das laute Schluchzen, das in seiner Kehle saß. So einen Anblick verdiente Luzifer nicht.

»Dass du mir dienst, ist das Mindeste«, flüsterte sein Meister. Er packte Dorian am Kragen und zog ihn zu sich. Zwang ihn, ihm gegen jeden Instinkt in die Augen zu sehen, den aus reinster Abscheu geformten Blick auszuhalten und Luzifer in seinen Geist zu lassen.

Der Griff erlaubte Dorian nur ein paar Zentimeter Freiraum, aber es reichte für ein Nicken. Gleichzeitig wisperten seine vor Angst getriebenen Gedanken zwei Fragen vor sich hin. ›Warum betont er das so? Nur, weil du ihn enttäuscht hast?‹

»Es tut mir leid«, flüsterte er heiser. Er könnte die Worte nicht ehrlicher meinen, doch sie klangen platt und sinnentleert. Seine Zweifel standen zu offen im Raum, als dass die Entschuldigung noch irgendeinen Wert besäße.

Luzifer wusste das und ließ es Dorian spüren. Seine Verachtung schmerzte mehr als jede Folter, denn sie reichte tiefer. »Wer bist du? Was tust du?«

»Ich bin Euer Diener.« Darum herum baute sich seine Identität auf. Das war seine Aufgabe, sein Lebenssinn. Was davor kam, tat nichts zur Sache. »Ich werde Euch aus der Hölle befreien.«

»Du tust, was ich sage.«

»Ich tue, was Ihr sagt.«

»Du hast nichts gesehen.«

Dorian nickte und klammerte sich an den Worten fest, als hinge sein Leben davon ab.

»Du stellst keine Fragen.«

›Aber warum betont er das so?‹ Der Gedanke war nicht totzukriegen. »Ja, natürlich.«

Luzifer ließ ihn los. Instinktiv wich Dorian mehrere Schritte zurück. »Du gibst mir alles.«

»Alles, was ich habe«, flüsterte er. »Ich mache keine Fehler mehr.«

Schon allein deswegen, um nie wieder Dinge zu sehen, die nicht für seine Augen bestimmt waren. Nein, die es gar nicht gab. Warum fiel es ihm so schwer, das zu akzeptieren? Er musste kaputt sein.

Luzifer schaute Dorian noch immer durch die Augen direkt in die Seele. Der Engel musste sehen können, wie sehr Dorian die Bilder zu vergessen versuchte – und wie die Zweifel mit jedem Versuch wuchsen.

»Es ist alles gut«, sagte Luzifer, sowohl mit seiner eigenen Stimme als auch in Dorians Kopf. »Ich vertraue dir noch.«

Dorian nickte. Tränen strömten ihm übers Gesicht, aber gerade gab es nur seiner Erleichterung Ausdruck. Er war noch zu etwas gut.

»Das nächste Mal wirst du nicht gesehen«, fuhr sein Meister fort. »Das nächste Mal befreist du mich.«

»Natürlich.« Er würde alles daran setzen. Vor allem würde ihn nie wieder ein Mensch zu Gesicht bekommen und die Begegnung überleben. Nicht noch einmal Flügel, nicht noch einmal rote Engelsaugen, wo keine sein sollten. Wo nie welche gewesen waren. Dorian hatte nichts gesehen.

»Ich vertraue dir noch«, wiederholte Luzifer und ließ Dorian endlich fallen. Schluchzend brach er in sich zusammen und hielt sich den Kopf, weil sich seine gesamte Psyche wie seziert anfühlte. Außer einem heiseren »Danke« brachte er keine verständlichen Worte mehr heraus.

Luzifer wandte sich um und ließ ihn buchstäblich links liegen. Hinter dem Licht und unter dem perfekten Glimmer zitterten seine Knie. Was auch immer er getan hatte, es musste unvorstellbar viel Kraft gekostet haben. Undenkbar, dass ein Mensch das länger als ein paar Sekunden überlebt haben sollte. Unmöglich, dass die Erinnerung, die unablässig durch Dorians Kopf spukte, tatsächlich stimmte.

›Was ist, wenn doch?‹, flüsterte eine leise Stimme in Dorians Gedanken, von der er nicht wollte, dass sie es besser wusste. ›Was ist, wenn du deinen Augen trauen kannst?‹

»Ich habe nichts gesehen«, murmelte er und biss sich fast auf die Zunge. »Ich habe nie etwas gesehen. Das ist alles nicht passiert.«

Dorian hatte an der Hoffnung festgehalten, dass sich alles von allein wieder gerade rückte und sein Meister alle Fragen und Zweifel wenn nötig aus ihm herausfolterte. Doch stattdessen wuchs ihm das Gefühl, dass etwas mit der Welt nicht stimmte, stetig weiter über den Kopf.


6

Chris

2. November

Hölle

Noch mal.« Chris hatte schon die letzten drei Male nicht fragen wollen, aber die Hoffnung, dass er sich die ganze Zeit verhörte, ließ sich einfach nicht totkriegen. »Luzifer will, dass wir bitte was machen?«

Der Engel ihm gegenüber seufzte laut und schlug mit so einer Wucht in die Wand neben sich, dass Staub von der Decke rieselte. Vor etwa einer halben Stunde hatte er Chris in einem der endlos langen Tunnel ausfindig gemacht und sich grummelnd als Janne vorgestellt. Seitdem erreichte seine Laune stetig neue Tiefpunkte und Chris ging mittlerweile davon aus, den nächsten Morgen nicht mehr zu erleben.

»Wie oft muss ich dir das noch erklären?«, unterbrach sein selbst erklärter Partner den Gedankengang. Er war kleiner und schmaler als Chris, was an sich schon eine Leistung darstellte, hatte ebenso blutrote Augen wie Luzifer persönlich und wirre, schokoladenbraune Haare. Insgesamt sah er nicht älter aus als achtzehn und verhielt sich entsprechend. »Wir gehen auf die Erde, und du baust keine Scheiße, weil ich schon genug Ärger hab. Was verstehst du daran nicht?«

»Warum müssen wir Menschen töten?« Chris konnte kaum glauben, diesen Satz laut zu sagen und ernst zu meinen. Immerhin kam ihm die Sache so unwirklich vor, dass ihm die restlichen Umstände beinahe nichts mehr ausmachten – inklusive die Erkenntnis, was für ein Schicksal seinen Vater ereilt haben musste. »Was für einen Sinn soll das-«

»Ist egal!«, erwiderte Janne und schlug noch einmal auf die Wand ein. Ein beeindruckender Riss bildete sich an der Stelle. »Luzifer will, dass wir das machen, also machen wir es. Fertig.«

»Okay.« Chris wusste nicht, was für eine Antwort er erwartet hatte, aber die hier enttäuschte ihn trotzdem. »Sag mal, wenn du ›Wir‹ sagst, wie viele von euch gibt es eigentlich?«

Janne zuckte mit den Schultern. Da er weder dem Tunnel noch Chris weitere Gewalt antat, schien das Thema wohl weniger sensibel zu sein. »Keine Ahnung, fünfzehn oder so? Manchmal werden welche umgebracht. Manchmal holt Luzifer neue zurück.«

›Heißt das, alle seine Diener sind menschlich?‹ Es kam Chris so unfassbar absurd vor. Wenn der Engel mit all seiner Macht von allein nicht aus der Hölle kam, wie um alles in der Welt sollten ihm dann ausgerechnet Menschen dabei helfen? Und, das war wohl die größere Frage, warum schienen sie das auch noch bereitwillig zu tun?

»Noch was?«

»Kennst du einen bestimmten, äh, Kollegen von dir? Etwas größer als ich, blond, sagt kein Wort?«

»Ah«, machte Janne. »Dorian. Ganz ehrlich? Seltsamer Kerl. Der ist ständig alleine unterwegs und wenn ihn mal jemand zu Gesicht bekommt, dann redet er mit keinem.«

Chris nickte. Ein Name machte alles etwas greifbarer. Eine konkrete Person hatte ihn entführt und einem schier endlosen Albtraum zum Fraß vorgeworfen, und eben keine Erscheinung, die sich Chris vor lauter Verwirrung zusammengereimt hatte.

›Ob Dorian wohl wirklich bewusst gewesen ist, was er da anstellt? Zumindest Janne scheint ja zu glauben, was Luzifer ihm erzählt hat.‹

»Können wir jetzt endlich los?«, riss ihn Janne schon wieder aus den Gedanken, noch ehe er schlau daraus werden konnte.

»Äh. Ja. Sicher.«

»Bisschen motivierter, wenn’s geht«, erwiderte er und packte Chris an der Schulter. Instinktiv wollte er sich losreißen, doch bevor er nennenswert weit kam, leuchtete es plötzlich um sie herum auf. Chris verlor das Gleichgewicht im Glauben, der Boden würde unter seinen Füßen weggerissen und ausgetauscht werden. Die Luft kühlte ab, die inhärente Feindseligkeit in der Atmosphäre verschwand, und innerhalb eines Augenblicks kam ihm die Hölle nur noch wie eine entfernte Erinnerung vor.

Über Chris befand sich ein weiter, blauer Himmel, den eine Handvoll Schleierwolken zierte. Um ihn herum wuchsen Bäume, die noch tapfer dem Winter trotzten und deren Blätter von honiggelb bis tiefrot in allen Schattierungen leuchteten. Am Boden wuchs sattgrünes Gras, im Dickicht dunklere Büsche.

Chris war nie jemand gewesen, der sich gerne draußen aufhielt und gerade bereute er, die simple Schönheit seiner Umgebung früher nie als solche erkannt und in irgendeiner Form wertgeschätzt zu haben. Das hier musste die Erde sein oder ein Traum im Traum. Mit beidem käme er gerade gut zurecht.

›Ob ich von hier nach Hause finde?‹ Er schaute sich noch einmal um. Außer der Pflanzen gab ihm nichts konkrete Hinweise darauf, wo er genau gelandet war, und er kannte sich zu wenig mit Geographie oder Biologie aus, um daraus Schlüsse zu ziehen. ›Ich könnte genauso gut am anderen Ende der Welt gelandet sein. Das wäre dann wohl nur beinahe das Unmöglichste, was mir je passiert ist.‹

Jemand stieß ihn von der Seite an. Chris fuhr zusammen und beherrschte sich gerade gut genug, um nicht nach Janne zu schlagen, der wie die personifizierte Ungeduld neben ihm stand. »Hör auf zu starren und komm. Ich will die Sache hier gut machen.«

Chris hob eine Augenbraue. »Was genau hast du vorher angestellt?«

»Du hast ja keine Ahnung«, murmelte Janne mit geröteten Wangen. »Ich hab den scheiß Bahnhof in die Luft gejagt und man müsste meinen, dass das reicht, aber die Schutzengel sind trotzdem abgehauen. Ich hätte das hingekriegt, aber nein, die werden mir direkt vor der Nase weggeschnappt und ich steh mit leeren Händen da. Und dann darf ich das Luzifer beibringen. Der hätte mich fast umgebracht! Das hier muss ich jetzt hinkriegen, und wehe, du versaust mir das.«

»Warte.« Da war es wieder. »Nochmal von vorne.«

Janne seufzte und trat gegen einen Baumstamm. Es knackte, aber ansonsten passierte zum Glück nichts. »Du bist wirklich nicht der Hellste, was?«

›Nein, damit ist jetzt nur meine allerletzte Hoffnung gestorben, dass das alles ein schlechter Scherz ist.‹ »Du warst das mit dem Bahnhof? Das war überall in den Nachrichten.«

»Das war wo?«

»In den Nachrichten?«

Janne sah aus, als könnte ihm selbst ein Wörterbuch nicht helfen.

Chris seufzte. »Du hast den in die Luft gejagt?«

Janne nickte heftig und mit stolzgeschwellter Brust. »Höchstselbst!«, erklärte er grinsend. »Hatte nicht mal viel Zeit, das Ganze zu planen, weil alles so schnell gehen musste. Alle Leute haben an mir gezweifelt, weil sie dachten, ich würde das nie im Leben schaffen, aber ich hab’s ihnen gezeigt! Ich weiß, was ich mache.«

Es gab niemanden, dem Chris gerade mit schlechterem Gewissen Sprengstoff anvertrauen würde.

»Und die sind mir trotzdem abgehauen, die verdammten Schutzengel. Hätte ich nur einen von denen erlegt bekommen, wäre es das gewesen und Luzifer wäre jetzt frei, aber nein…«

Chris zwang sich zu einem verständnisvollen Nicken und versuchte dann, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren, bis sich Jannes anhaltender Monolog zu einem Hintergrundrauschen entwickelte. Sobald sein Verstand vollständig begriff, was der mehr oder weniger falsche Engel gerade vorhatte, würde er nur in Panik ausbrechen und das half ihm auch nicht weiter. Ein kleines bisschen Dissoziation schadete nicht.

Sie kämpften sich etwa fünf Minuten lang durch das Dickicht und kamen nur langsam voran, weil sie beide auf ihre Flügel aufpassen mussten. Wann immer seine Federn einen Ast oder ein Blatt streiften, fluchte Janne laut auf und trat die Pflanze platt. Am Rande des Wäldchens kam schließlich ein mehrstöckiges Wohnhaus zum Vorschein.

Selbst von weit weg bemerkte Chris die farbenfrohen Dekorationen auf den Balkons und Lichterketten in manchen Fenstern. Hinter zwei oder drei Vorhängen glaubte er, Bewegungen zu erkennen, doch ansonsten war kein Mensch zu sehen. Ein verlassener Spielplatz mit einer einsamen Schaukel befand sich etwas hinter dem Gebäude. Die Umgebung erinnerte Chris an die Stadtteile, in denen seine Freunde gewohnt hatten, und vielleicht hieß das, dass er doch nicht so weit weg von Zuhause war wie befürchtet.

Ihm war nicht nach Reden zumute, aber da Janne früher oder später von alleine wieder damit anfangen würde, wählte er das offensichtlichste Thema. »Was machen wir jetzt?«

»Du machst hier gar nichts«, erwiderte sein Begleiter entrüstet. »Ich erledige das alleine, bevor du mir hier irgendwas versaust. Ich kann das besser als du.«

»Willst du, dass ich warte, oder-«

»Lass. Mich. Machen«, erklärte Janne und machte den Eindruck, als wollte er Chris am liebsten an die Kehle springen.

Er hob beide Hände und ging einen Schritt zurück. »Okay, okay, ich bleib hier.«

»Und bau keine Scheiße.« Janne wandte den Blick ab und ließ Chris zwischen Bäumen und Gebüsch stehen. Der Engel ging zwei Schritte, breitete seine Flügel aus und stieg elegant in die Luft, als hätte er sein Leben lang nichts anderes getan. Schnell gewann er an Höhe, hielt auf einen der Balkone zu und kletterte mit einer fließenden Bewegung über das Geländer. Danach verschwand er aus Chris’ Blickfeld.

›Ich könnte wegrennen‹, dachte er auf der Stelle. ›Janne ist beschäftigt und wenn er Luzifer wirklich so unbedingt glücklich machen will, kann er mich auch nicht hinterher. Fragt sich nur, wie weit ich komme und ob ich woanders wirklich sicher bin.‹

Hätte Chris gewusst, dass er die Hölle anscheinend einfach so verlassen konnte, hätte er das schon längst versucht, anstatt stundenlang durch unzählige Tunnel zu irren, ohne eine einzige Person zu treffen, und sich zu fragen, wann er vor Durst den Verstand verlor. Hier konnte er immerhin klar denken, sich sammeln und versuchen, sich einen Reim auf alles zu machen.

›Mit den Flügeln kann ich definitiv nicht unter Leute‹, überlegte er weiter. ›Der Rest ist nicht mein größtes Problem, mit dem Mantel und der Haut halten mich die Leute höchstens für ’nen Goth und damit kann ich leben. Aber die verdammten Flügel.‹

In regelmäßigen Abständen dachte Chris darüber nach, sie sich einfach auszureißen. Aber so fremd und falsch sie sich auch anfühlten, er hing gerade genug an ihnen, um es nicht zu versuchen. Ganz abgesehen davon, dass er wahrscheinlich vorher ohnmächtig vor Schmerzen wurde.

›Im Moment kann ich zumindest herausfinden, wo ich eigentlich bin. Straßenschilder, Autokennzeichen, Werbung, irgendwas. Dann weiß ich mehr und kann weitersehen.‹

Zumindest fühlte sich das besser an, als wie angewurzelt hier zu stehen und auf ein unvermeidliches Unheil zu warten. Chris warf noch einen erneuten Blick aufs Wohnhaus, ging dann zurück ins Unterholz und bahnte sich hoffentlich ungesehen einen Weg. Früher oder später würde er wohl auf eine Straße stoßen.

Er kam höchstens drei Meter weit, als es hinter ihm krachte. Einen Moment später hörte er ein gellendes, unkontrolliertes Lachen, ehe ihm ein breit grinsender Janne fast ins Gesicht flog. »Duck dich!«

»Was?«

»Duck dich, hab ich gesagt!«

»Warum-« ›Oh. Oh Gott.‹ Reflexartig zog Chris den Kopf ein und drehte sich gerade noch rechtzeitig vom Haus weg, bevor es in die Luft flog. Der erste Knall war ohrenbetäubend, alle weiteren Geräusche wurden von einem schrillen Fiepen in Chris’ Ohren übertönt. Die Schockwelle erwischte ihn in dem Moment als er zur Überzeugung gelangte, sie irgendwie verpasst zu haben. Er wurde mit dem Gesicht zuerst ins Gras gedrückt, Dreck und Trümmer flogen über ihn hinweg und schlugen zum Teil in die Baumstämme ein. Eine graue Staubschicht legte sich über Kleidung, Haut, Erde und Sonne und kühlte die Luft innerhalb weniger Sekunden um mehrere Grad ab.

Chris verharrte in der Haltung, bis er sich halbwegs sicher war, beim Aufstehen von nichts erschlagen zu werden. Er richtete sich auf, atmete tief ein und musste husten, als sich Staub in seiner Lunge festsetzte. Jeder Atemzug brannte wieder wie in der Hölle, aber immerhin ließ das Fiepen nach.

Während er seinen Körper halbwegs wieder unter Kontrolle bekam, lachte Janne neben ihm immer lauter. »Hast du das gesehen? Hast du gesehen, wie das in die Luft gegangen ist? Jetzt guck doch, verdammt nochmal!« Widerwillig rieb sich Chris die Augen. Vor ihm hüpfte Janne wild auf und ab und deutete auf das Chaos, wo eben noch ein Haus gestanden hatte. »Alles ist kaputt, richtig gut!«

Chris wurde schlecht, während er sich umschaute und nichts außer Trümmer aus Stahl und Beton um sich herum erkannte. Spätestens als Janne vom Bahnhof erzählt hatte, war ihm klar gewesen, wie diese Sache ausgehen würde, aber ein Teil von ihm hatte wider besseren Wissens auf Angeberei gehofft.

»So hab ich sie am liebsten«, fuhr Janne begeistert fort und ließ offen, wen genau er meinte. »Alles ist perfekt, jetzt müssen wir nur noch zurück und Bericht erstatten und dann-«

Er brach ab, als die Luft um ihn auf einmal zu glühen begann. Chris glaubte erst, Janne hätte es einfach nur schrecklich eilig, doch der schaute sich nicht minder verwirrt um, zog die Flügel eng an den Körper, ging mehrere Schritte zurück. Zum ersten Mal stand Unsicherheit auf seinem Gesicht geschrieben.

Das Licht verblasste so schnell, wie es gekommen war und plötzlich stand jemand Drittes zwischen ihnen beiden. Er hatte kastanienbraune, im Nacken zusammengebundene Haare, hellblaue Augen. Dazu trug er einen fliederfarbenen, weiten Pullover und eine Art Jogginghose in der gleichen Farbe, keine Schuhe oder Schmuck, dafür aber gleichermaßen Fassungslosigkeit und unverhohlene Wut im Gesicht. Natürlich hatte auch er seine reinweißen Flügel weit ausgebreitet.

Noch während Chris seinen Augen nicht ganz traute, schaltete Janne bereits von Überraschung zu totalem Hass um. »Du bist einer von denen«, brüllte er und sprang dem Engel ohne Vorwarnung an die Kehle. »Du gehörst zu den gleichen Arschlöchern, die mir abgehauen sind!«

Der Engel wurde nach hinten gerissen, offensichtlich noch bevor er wusste, wie ihm geschah. Chris ging mehrere Schritte rückwärts, um nicht auch noch mitgenommen zu werden, duckte sich. Jemand schrie unverständliche Worte, im selben Moment blitzte es gleißend hell auf. Janne fluchte, gewann Abstand und hielt sich den Arm. Selbst seine Flügelspitzen zitterten vor Wut. »Ihr habt uns alle in die Hölle gestoßen und du holst Luzifer jetzt wieder da raus!«

Dem Engel blieb keine Zeit. Er schlug ein paar Mal mit den Flügel und versuchte zu fliegen, aber Janne packte ihn und zog ihn wieder zu Boden. Chris wusste nicht, was er machen sollte. Einerseits wollte er den Engel unterstützen, das erschien ihm gut und richtig und wenn ihm jemand hier ernsthaft helfen konnte, dann dürfte das wohl er sein. Aber andererseits konnte er wohl kaum etwas gegen den Hass ausrichten, mit dem Janne gerade auf seinen Gegner einprügelte. Wenn er zwischen die Fronten geriet, glaubte er garantiert als Erstes dran.

›Lässt Luzifer Menschen auf Engel los?‹ Vor lauter Entsetzen beschloss sein Hirn schon wieder, sich mit den irrelevantesten Dingen zu beschäftigen. ›Sind wir deswegen hier? Wie um alles in der Welt soll ihn das befreien, wie zur Hölle-‹

»Hilf mir, verdammt nochmal!«

Chris schreckte zusammen. Janne hatte den Engel von hinten gepackt. Der schlug verzweifelt um sich und murmelte Worte, die Chris als Gebet erkannte, während ihm Todesangst offen im Gesicht geschrieben stand. »Bring es zu Ende, darauf haben wir gewartet, dafür bist du da!«

›Ich soll was?‹ Jetzt setzte die Panik ein. Kampf- und Fluchtinstinkt bekämpften sich gegenseitig, löschten sich aus und ließen Chris zur Salzsäule erstarren. ›Das kann ich nicht. Zusehen, wie jemand anders Leute umbringt ist das eine… Aber das kannst du unmöglich von mir verlangen.‹

Janne nickte mit dem Kopf in Richtung Boden. Chris folgte seinem Blick und erkannte ein dünnes Messer im Gras liegen. »Krieg gefälligst deinen Arsch hoch, verdammte Scheiße!«

›Ich kann nicht. Ich kann das nicht.‹

»Bring ihn um!«

Der Engel wagte es nicht einmal, zu widersprechen. Da war immer noch Angst in seinem Blick, aber je mehr Zeit verging, desto mehr sah er danach aus, als würde er mit der Situation abschließen. Schließlich schloss er die Augen, seine Lippen bewegten sich noch, aber Chris hörte nur noch Jannes kontinuierliches Fluchen und die Aufforderung, sich endlich zu bewegen.

›Wenn ich es nicht mache, wird er es tun‹, dachte Chris. Irgendwie musste er die Sache vor sich rechtfertigen. ›Ich könnte wenigstens dafür sorgen, dass es schnell geht.‹

»Wie nutzlos willst du denn noch sein, mach deine verdammte Arbeit oder du bist als Nächstes dran!«

Chris spürte, wie er sich von ganz alleine in Bewegung setzte. Seine Beine trugen ihn an die Stelle, wo das Messer lag, sein Oberkörper bückte sich, seine Hände hoben es auf und hielten den Griff fest. Seine Augen schauten erst in Jannes Gesicht, dann auf den Engel. Er wehrte sich nicht mehr, war aber definitiv noch am Leben und bei Bewusstsein. Wenn er wenigstens ohnmächtig wäre…

Seine Beine bewegten sich weiter. Er wollte die Augen schließen und schaffte es erst, als es auch egal war. In einer schwungvollen, fließenden Bewegung holte Chris aus und stach dem Engel mitten ins Herz, einmal, zweimal, er hörte auf zu zählen. Als er sich endlich zum Stillhalten zwang, waren seine Hände längst mit Blut beschmiert und der Engel sackte bleich in sich zusammen wie eine Puppe.

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