Kitabı oku: «Was Menschlich Ist», sayfa 3
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7
Chris
2. November
Erde
Für einen langen Moment stand die Welt still. Rückblickend hätte Chris das wohl wertschätzen sollen, denn währenddessen realisierte er noch nicht, was gerade passiert war. Erst nach Minuten, in denen sich der Engel nicht geregt und Janne kein Wort gesagt hatte, drang die Erkenntnis wie in Zeitlupe zu ihm durch.
›Scheiße‹, dachte er. Dann fiel ihm nichts mehr ein.
Um den toten Engel herum breitete sich ein blasses Leuchten aus. Durch den Staub hindurch verdichtete es sich, sammelte sich in den beiden ausgebreiteten Flügeln und zerstreute sich schließlich zusammen mit Tausenden weißen Federn. Letztere schwebten erst reglos in der Luft, drifteten dann langsam in Chris’ Richtung, umkreisten ihn, als suchten sie etwas. Kurz fühlte er so etwas wie einen Energieschub, als das Licht in seinen Körper eindrang – und dann war da nichts mehr. Die Federn fielen wie Steine zu Boden. Anstatt von Flügeln ragten nur noch bleiche Knochen in die Luft.
Janne ließ die Leiche mit einem überraschten Schrei fallen, packte Chris an beiden Schultern und begann ihn heftig zu schütteln. »Fühlst du was? Ist irgendwas anders? Sag schon!«
»Mir ist schlecht«, erwiderte er und gab sein Bestes, um sich nicht auch noch neben der Leiche zu übergeben. Automatisch tasteten seine Finger nach dem Anhänger um seinen Hals und allein diese Berührung hielt ihn in der Realität verwurzelt. »Ich habe gerade nicht wirklich-«
»Ja!«, unterbrach ihn Janne aufgeregt, vermutlich aus den völlig falschen Gründen. »Du hast es hingekriegt! Wir haben es endlich hingekriegt! Wir-« Er runzelte die Stirn und warf noch einmal einen prüfenden Blick auf Chris. »Also… haben wir doch, oder?«
»Äh.«
»Du hast ihn umgebracht!«
»Ich weiß«, murmelte Chris, als könnte er mit dieser Tatsache umgehen.
»Irgendwas musst du doch spüren, verdammt noch eins!« Janne schüttelte ihn weiter, bis ihm schwindelig wurde. »Du kannst mir nicht erzählen, dass-«
»Chris.«
Beide erstarrten mitten in der Bewegung. Alles um sie herum verstummte. Chris wurde kalt und er begann zu zittern, während Janne ihn langsam losließ und mehrere Schritte rückwärts ging. Erst schaute sich der falsche Engel verwirrt um, dann ging ihm offenkundig ein Licht auf. »Er ruft uns«, erklärte er und klang gleichzeitig aufgeregt und zutiefst verstört. »Komm. Wir müssen zu ihm.«
»Was?« Chris hielt sich die Stirn. Ein fremdes, doch bekanntes Bewusstsein durchwühlte plötzlich seinen Verstand und zog ihn mit aller Kraft in die Hölle. Er wollte sich wehren und war sich gleichzeitig bewusst, dass es dafür längst zu spät war. »Wie-«
»Egal. Komm jetzt!«
»Chris!« Sein Name hallte mit einer fremden Stimme durch seinen Kopf, begleitet von einem pochenden, migräneartigen Schmerz. Das Ziehen wurde stärker. Mittlerweile wollte Chris ihm aktiv nachgeben, in die Hölle zurückkehren und sich dem stellen, was ihn dort erwartete, aber er wusste nicht wie.
Janne streckte die Hand nach ihm aus. Instinktiv zuckte er zurück und erwartete, geschlagen zu werden, doch stattdessen fasste ihn der falsche Engel beinahe sanft am Handgelenk und zog ihn zu sich. Es blitzte wieder um sie beide herum auf, die Luft wurde stickig und heiß, der Boden hart, die Welt dunkel. Hölle.
Der Raum war größer als die Handvoll, die Chris in den letzten Tagen zufällig entdeckt hatte, aber bis auf einen dunklen, verstaubten Teppich ebenso leer. Kaum, dass sie angekommen waren, ließ Janne ihn los und fiel auf die Knie. Er biss sich auf die Unterlippe, und presste die Flügel so eng wie möglich an seinen Körper, ohne die Kleidung zu berühren. »Mach keine Scheiße jetzt«, murmelte er kaum verständlich.
»Ich versuch es«, antwortete Chris ebenso leise. Nicht dass er Janne sonderlich mochte, aber gerade steckten sie in derselben Situation und das schweißte bekanntlich zusammen.
Es dauerte nicht lange, bis das verhasste Licht den Raum erfüllte. Die Tür ihnen gegenüber flog so abrupt auf, dass es sie aus den Angeln hob, sich mehrere Risse im Stein bildeten und Staub und kleine Kiesel von der Decke regneten. Zuerst war nur eine gleißende Wand aus Weiß zu sehen, danach zeichnete sich Luzifers Gestalt hinter dem Schein ab. Er trug eine ungesunde Mischung aus Vorfreude, Anspannung und Angst im Gesicht.
»Ihr solltet zu mir kommen und nicht ich zu euch!«, herrschte Luzifer Janne als erstes an, woraufhin der auf etwa die Hälfte seiner Größe schrumpfte, den Kopf einzog und eine Entschuldigung murmelte. »Ist der Engel tot?«
»Ja«, antwortete Chris mechanisch, als hätte jemand anders das getan.
»Das kann nicht sein.«
›Glaub mir, das hab ich mir von allen Dingen hier noch an wenigsten eingebildet.‹ Sicherheitshalber schaute Chris trotzdem noch einmal auf seine Hände. Verschmiertes Engelsblut prickelte und brannte auf seiner Haut – eine andere Facette der gleichen Feindseligkeit, die die Hölle ihm entgegenbrachte.
Luzifer trat einen Schritt auf ihn zu und befahl ihm schweigend, an Ort und Stelle zu bleiben, sodass sich Chris spontan wie versteinert vorkam. Er schluckte, als der Engel eine Hand ausstreckte und ihn am Kinn fasste, seinen Kopf anhob und ihm in die Augen sah. Da war es wieder, das Gefühl, in seinen Gedanken nicht allein zu sein.
»Das kann nicht sein«, murmelte Luzifer noch einmal, jetzt deutlich ungläubiger. Chris glaubte, ihn unter dem Glimmer zusehends blasser werden zu sehen. »Das ist nicht möglich, wie ist das…«
›Ich hab keine Ahnung, was passiert ist. Ich dachte, du könntest mir das sagen.‹ Luzifer fror mitten in der Bewegung ein und schaute Chris an, als wäre er dem Engel gerade mit vollster Wucht auf den Fuß getreten. ›Scheiße, das kriegt er auch mit.‹
»Ja, das tut er«, antwortete der Engel fast flüsternd und zwischen zusammengebissenen Zähnen hindurch, ehe er Chris losließ und ihn von sich stieß. Wieder ging eine Druckwelle durch den Raum, Chris stolperte rückwärts, streckte die Hand aus und fand nirgendwo Halt. Janne schaute ihm hinterher, ehe er sich wieder zusammenkauerte.
»Wie kann das nicht funktioniert haben?« Während Luzifer sprach, wurde seine Stimme immer lauter, bis der Boden zu beben begann und schließlich das ganze Gebirge erzitterte. Chris wagte mehrere Schritte rückwärts, bis er gegen eine Wand stieß. Flüchten konnte er so nicht, aber immerhin sicher stehen.
Janne machte gerade Anstalten, wieder auf die Beine zu kommen, als ihn die nächsten Schockwellen direkt wieder in die Knie zwangen. Jedes Wort, das Luzifer herausschrie, schlug mit voller Wucht auf sie beide ein. Chris duckte sich wie vor einem Hagelschauer und wurde trotzdem erwischt, spürte die Frustration und den blanken Hass. Das Licht breitete sich aus, bis bis es den ganzen Raum erfüllte und durch Luzifers Stimme Wellen schlug. »Wie kann das sein?«
»Ich-« Chris brach ab, doch das Verlangen, auf Knien um Vergebung zu bitten, setzte sich am Ende durch. »Es tut mir leid, ich wollte das nicht, ich-«
»Geh mir aus den Augen!« Wieder ein Schlag, dieses Mal mit vollster Wucht ins Gesicht. Kurz knackte es und Chris glaubte erst, es seine Nase wäre gebrochen, aber es war nur die Wand hinter ihm, die mit erschreckender Geschwindigkeit in sich zusammenfiel. »Du bist ein Fehler, du hast nicht in meiner Nähe zu sein. Ihr habt beide versagt!«
Bei den letzten Worten nickte Janne hastig, kam schwankend auf die Beine und stolperte durch das Loch in der Wand nach draußen. Chris sollte ihm folgen, es bräuchte nur ein paar Schritte und er wäre weg von hier Aber trotzdem, trotz der Tatsache, dass ihn gerade niemand an dieser Stelle haben wollte, blieb er vor lauter Angst paralysiert stehen.
»Du bist falsch«, fuhr Luzifer fort, nun um einiges beherrschter. Doch die Frage war nicht, ob er wieder die Nerven verlor, sondern wann und wie lange Chris dann noch Zeit hatte, um zu rennen. »Es muss an dir liegen, ich mache keine Fehler.«
Er biss sich auf die Lippe, um sich nicht einmal seinen Teil zu denken. Sicher war sicher.
»Warum bist du falsch?« Luzifer starrte Chris bis ins tiefste Selbst, ließ ihn den konzentrierten Hass spüren, bis es ihm von innen heraus die Kehle zuschnürte. Die Welt flackerte, die menschliche Form des Engels verschwand und verzerrte sich zur Lichtgestalt. »Ich wäre frei gewesen!«
›Stimmt, da war ja was. Scheiße.‹
Eine unmenschliche Kraft hob Chris wie eine Puppe in die Luft und schleuderte ihn durch das Licht nach draußen, begleitet von einem unmenschlich kreischenden Schrei. Das Geräusch fraß sich durch Chris’ Gehörgänge, kroch ausgehend von seinem Kopf als Gänsehaut und eisiger Schauer durch seinen Körper, sammelte sich in seinem Magen und rief die Übelkeit erneut auf den Plan. Als Echo prallte es von den Wänden ab, vervielfältigte sich und sang seinen eigenen, schrecklichen Kanon. Chris stimmte ein, als er auf dem rauen Boden aufprallte, sich den Rücken durch den Stoff seines Mantels hindurch aufschürfte und seine Flügel den Stein berührten. Instinktiv kauerte er sich zusammen und presste die Hände auf die Ohren, doch die Geräusche hallten ihm unaufhörlich durch den Kopf.
Mehrere Erschütterungen schoben sich durch den Stein, jedes Mal ein größeres Beben. Zuckendes Leuchten aus dem Raum, in dem Luzifer den Geräuschen nach zu urteilen gerade alles kurz und klein schlug. Es regnete Staub, der Fels brach knirschend weiter auf, bis er den Blick auf einen neuen Tunnel freigab. Ein unheilvolles Knacken, dann Krachen, dann Stille.
›Renn‹, sagte der letzte Teil von Chris’ Verstand, der während der ganzen Angelegenheit noch die Nerven behalten hatte. Es musste ebenfalls dieser Teil sein, der ihn auf die Beine brachte und seine letzten Kräfte mobilisierte, um so viel Abstand wie nur möglich zu gewinnen.
Unterdessen ging ein erneutes dumpfes Grollen durch Wände, Boden und Decke, so tief, dass Chris es mehr spürte als hörte. Es wuchs zu einem ohrenbetäubenden Dröhnen heran, begleitet von einem Kratzen und Schieben und dann brach der Tunnel hinter ihm ein. In seiner Panik schlug Chris mit den Flügeln, stieg kaum einen halben Meter in die Luft und flog den Rest, in der Hoffnung, dadurch schneller zu sein. Mit letzter Mühe rettete er sich in den nächsten Raum, stolperte über seine eigenen Füße, rollte sich ungeschickt auf dem Boden ab und blieb liegen. Die Erschütterungen setzten sich fort.
›Ich kann hier nicht bleiben.‹ Nur deswegen stand er doch noch einmal auf. Vielleicht, wenn er sich einfach nur fest genug auf die Erde wünschte… ›Luzifer bringt mich um, wenn er mich noch mal sieht. Ich muss hier weg. Ich muss nach Hause.‹
Die Luft um ihn herum kühlte ab. Chris atmete auf, obwohl er nicht einmal wusste, was er eigentlich tat. Er klammerte sich einfach an die Hoffnung, die Hölle nie wieder betreten und Luzifer nie mehr ins Gesicht sehen zu müssen und betete, dass das reichte.
»Mach das nie wieder, okay?«
›Scheiße. Janne. Hätte er sich nicht einfach woanders hin verziehen können?‹
»Warte, was hast du vor? Hey… Hey, bleib hier!«
Gerade, als die Welt um Chris herum kippte und er aus dem Gleichgewicht geriet, packte Janne ihn an den Schultern und hielt ihn damit sowohl auf den Beinen, als auch in der Hölle fest. Chris riss sich los und schlug ziellos nach vorn. Er rechnete nicht damit zu treffen und schrie deswegen ebenfalls auf, als seine Faust auf etwas Hartes stieß, und ein dumpfer Schmerz durch seine Knöchel ging.
»Tut mir leid«, murmelte Chris, während er Janne noch zweimal ins Gesicht schlug und sich weiter auf die Erde wünschte. Egal wo, nur nicht mehr hier. Nicht mehr in Luzifers Reichweite und raus aus diesen verdammten Tunneln.
Wieder kippte die Welt, begleitet von Jannes unzusammenhängender Kette an Flüchen, die er Chris als Verabschiedung mit auf den Weg schickte. Seine Knie versagten, noch während er die Hölle verließ, und noch vor dem ersten Atemzug zurück auf der Erde lag er bereits am Boden. Die kalte Luft der Umgebung fühlte sich wie ein Wachrütteln an, der Asphalt wie ein Willkommen.
Chris schaute sich hektisch um und fand sich mitten auf der verlassensten Landstraße wieder, die er je gesehen hatte. Keine Menschenseele weit und breit, keine Häuser, nicht einmal Straßenlaternen. Seine Gefühle stritten sich darum, ob er deswegen erleichtert oder aufgrund der offensichtlichen Einsamkeit auf noch eine weitere Weise verzweifelt sein sollte, einigten sich aber am Ende auf eine tiefgreifende Erschöpfung.
Mit letzter Kraft schleppte er sich an den Straßenrand, sank ins hohe Gras und starrte in die Gegend, ohne einen Fokus zu finden. So viel sollte ihn beschäftigen. Doch seine Gedanken blieben leer, als wüsste sein Hirn nicht, wo es anfangen sollte.
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8
Metatron
3. November
Himmel
Größtenteils lud der Himmel dazu ein, sich zu verlaufen. Metatron kam seit Jahrhunderten so gut wie jeden Tag her und fand unter den Dutzenden identischen Büros in den Dutzenden identischen Gebäuden mittlerweile selbst im Schlaf das Richtige – trotzdem begleitete ihn immer die Sorge, eines Tages versehentlich woanders zu landen und sich erklären zu müssen. Gottes Stellvertreter verirrte sich nicht.
Mit schnellen Schritten ging er die Flure entlang und versuchte, möglichst wenig Lärm zu machen. In der üblichen Stille bekam man jede fallende Stecknadel mit. Unter anderem deswegen unterhielt Metatron sich nicht gerne hier, aber gerade gab es keinen sinnvolleren Treffpunkt.
Zaghaft klopfte er an die hoffentlich richtige Tür und bekam ein leidlich motiviertes »Herein« als Antwort. Hastig trat er ein und bemühte sich, die Tür so leise wie möglich hinter sich zu schließen.
Der Raum war fensterlos, die Luft stickig, und nur eine von der Decke hängende Lichtkugel sorgte für eine ausreichend helle Beleuchtung. An den Wänden standen Aktenschränke und Bücherregale, auf denen sich unzählige Dokumente stapelten. In den meisten anderen Büros hingen Karten von irdischen Gebieten, Listen und Ansammlungen strategischer Symbole an der Wand, hier wurde allerdings zugunsten von noch mehr Schränken darauf verzichtet. So selten, wie jemand hier war, wären die Informationen ohnehin ständig veraltet.
Am völlig überfüllten Schreibtisch saß ein Soldat in seinem Rollstuhl, die Hände über dem Kopf zusammengeschlagen und alles andere als begeistert von der offensichtlichen Arbeitslast, vor sich. Seine roten Haare trug er nach Vorschrift kurz, die grünen Augen sahen wie immer müde aus, wenn sie sich hier trafen. Er dürfte schon den ganzen Tag hier sitzen und erst spät in der Nacht nach Hause zurückkehren, wenn er nicht gleich bis morgen wartete.
»Tut mir leid, dass ich zu spät bin«, sagte Metatron, noch bevor er sich Michael gegenüber setzte.
»Ist mir nicht aufgefallen, wenn ich ehrlich sein soll«, antwortete der schulterzuckend, woraufhin seine dunkelgrüne Uniform noch mehr knitterte. Theoretisch wäre Michael weiterhin berechtigt, wie alle Seraphim Weiß zu tragen, was ihnen als Herrscher im Himmel zustand, aber das hatte er mit seiner Ernennung zum Erzengel abgelegt. Er wollte nichts Besonderes sein, hatte sich nie als etwas Besonderes gesehen. Und – das hatte er mit Metatron gemeinsam – eigentlich fühlte er sich der Verantwortung auf seinen Schultern kaum gewachsen. Aber jetzt saßen sie beide hier und mussten das Beste daraus machen.
»Wie weit bist du gekommen?«
»Tropfen auf den heißen Stein«, antwortete Michael, schlug die Akte vor sich mit einem Knall zu und beförderte sie unsanft auf einen Stapel auf dem Boden, der mehr als halb so hoch war wie Michael groß. »Dass alles Militärische über den Heerführer gehen muss, ist gut und schön, aber das hier hat Jophiel schon alles vorsortiert. Die Leute warten teilweise seit Wochen auf eine Antwort und niemand kommt zu etwas, weil sich alle darauf bestehen, dass ich das am besten entscheiden soll.« Er seufzte. »Jophiel soll die Leute dran erinnern, dass sie selber denken können.«
Wenn Metatron das hörte, war er insgeheim noch glücklicher, sich nicht auch um das Militär kümmern zu müssen. Abgesehen davon, dass er das zeitlich gar nicht schaffen würde, konnte er mit der gesamten Thematik reichlich wenig anfangen.
»Jedenfalls«, fuhr Michael fort. »Danke, dass du hergekommen bist. Die Erzengel haben mich gebeten, mit dir zu reden, weil ich dich wahrscheinlich eher treffe als der Rest.«
Metatron nickte. Den weiten Weg die Stufen hinab schaffte er nicht oft, und wenn, dann ging er ihn nicht gerne. Es kostete ihn Zeit, die er für andere Dinge brauchte und in erster Linie gar nicht hatte, und die Gespräche dort strengten ihn meistens so an, dass er danach eine Woche schlafen wollte.
»Ich komme zu euch, sobald ich kann«, antwortete er dennoch. Gottes Stellvertreter jammerte schließlich nicht. »Was ist auf der Erde los?«
»Die kurze Antwort ist, dass wir auch keine Ahnung haben«, erklärte Michael mit einem grummelnden Unterton. »Einer von Luzifers Dienern hat dieses Mal wohl ein gesamtes Wohnhaus in die Luft gesprengt. Ein Schutzengel hat das Elend anscheinend nicht mit ansehen können, ist auf die Erde gegangen und hat die beiden angegriffen.«
Metatron runzelte die Stirn. »Die beiden?«
»Es waren zwei, aber einer hat sich mehrheitlich im Hintergrund gehalten. Den kennen wir noch nicht, vielleicht ist er neu. Remiel befragt die Schutzengel gerade, um herauszufinden, wer er gewesen ist.«
»Ich will wissen, wenn sie Ergebnisse hat.«
»Ja, sicher.« Michael seufzte. »Dass dir letztes Mal niemand was gesagt hat, war nicht meine Idee.«
Es war normalerweise nicht Metatrons Art, besonders nachtragend zu sein, aber gerade bei diesem Thema hätten es die Erzengel besser wissen sollen. »Luzifer wäre letztes Mal fast freigekommen«, sagte er. »Wenn so etwas noch einmal passiert, will ich das rechtzeitig erfahren.«
»Ich weiß«, antwortete Michael mit Nachdruck. Er hatte damals auf der Erde aufräumen und ein größeres Chaos verhindern müssen. »Ich sage es Gabriel gerne nochmal. Und Remiel.«
»Danke.« Metatron schluckte das schlechte Gewissen herunter, zusammen mit der Frage, warum sie sich nicht einfach alle gut verstehen konnten. »Was ist aus dem Schutzengel geworden?«
»Nun, er ist tot. Von Luzifers Leuten umgebracht.«
»Aber er selbst ist nicht frei.« Das wüsste Metatron. Das wüsste mittlerweile schon die ganze Welt.
»Wahrscheinlich nicht«, antwortete Michael. »Aber sicherheitshalber suchen wir die Erde großflächig ab und versuchen, Uriel zu kontaktieren, weil er sich noch nicht gemeldet hat. Hat Gott etwas gesagt?«
»Kein Wort.«
»Wäre auch zu schön gewesen, wenn der Kerl uns weiterhelfen würde.«
Die Worte versetzten Metatron einen Stich. Einerseits, weil sich Engel so nicht über Gott zu äußern hatten, andererseits, weil die Bezeichnung an sich einfach nicht passte. Unabhängig davon, ob sie schon einmal Kontakt mit Gott gehabt hatten, alle Engel wiesen ihm immer das Geschlecht zu, das sie selbst hatten. Für Michael mochte es richtig sein, Gott so zu bezeichnen, aber für Metatron wollte es beim besten Willen nicht stimmen. Er war kein Kerl, kein Mann und sich bis heute nicht einmal sicher, ob es überhaupt ein Wort für sein Geschlecht gab, abgesehen von Nein.
Er zwang seine Gedanken zurück zum eigentlichen Thema. »Wenn Luzifer immer noch nicht frei ist, dann ist entweder seine gesamte Methodik falsch oder der Mensch, der den Schutzengel getötet hat, hat einen Fehler gemacht.«
»Denken wir auch«, pflichtete Michael ihm bei. »Wir gehen von Letzterem aus, weil er sich wohl generell seltsam verhalten hat.«
›Also hat Luzifer Pech gehabt‹, dachte Metatron. ›Oder wir Glück. Je nachdem.‹ »Ich kann mir nicht vorstellen, wie wütend er jetzt sein muss.«
»Soll er in der Hölle verrotten«, erwiderte Michael mit einem tiefen Grollen in der Stimme. Er ballte beide Hände zu Fäusten, sodass seine Knöchel jede Farbe verloren. »Und sobald er einen Schritt in den Himmel setzt, bekommt er es mit mir zu tun, das schwöre ich bei Gott.«
Metatron sollte ihm in der Hinsicht uneingeschränkt zustimmen, immerhin handelte es sich hier um den größten Sünder aller Zeiten. Er überredete sich zu einem Nicken. »Pass dann nur auf dich auf.«
»Ich lass mir nicht noch mal den Rücken brechen.«
Metatron wandte den Blick ab und kämpfte mit dem Verlangen, sich zu entschuldigen. Luzifers Hass hatte sich damals ausschließlich gegen ihn gerichtet, doch anstelle sich selbst zu wehren, hatte Metatron Michael auf ihn losgelassen. Er war für so vieles verantwortlich, aber die Schuld schnürte ihm seit Jahrhunderten die Kehle zu.
»Wir sind noch knapper an einer Katastrophe vorbei als letztes Mal«, sagte Michael. »Wenn das so weitergeht, dann haben wir kein drittes Mal Glück.«
»Remiel soll ihre Schutzengel so schnell wie möglich unter Kontrolle bekommen.«
Michael grinste schief. Wenn er gute Laune hatte, machte er kaum ein anderes Gesicht. Aber wenn er gute Laune hatte, traf man ihn auch nicht hier. »Glaub mir, die Arme tut schon alles, was in ihrer Macht steht. Du weißt, wie lange Gabriel sich mit ihr das letzte Mal unterhalten hat.«
Und wie kleinlaut sie in den Wochen danach gewesen war. Es hatte Metatron ein wenig verstört.
»Aber davon abgesehen, was schlägst du vor, wie wir damit umgehen sollen?«, fragte Michael. »Wie gesagt, die Erde wird gerade gründlich abgesucht. Vielleicht kriegen wir auch noch was aus Dämonen raus, aber die will ich lieber aus der Sache heraushalten.«
»Besser ist das«, antwortete Metatron. Niemand setzte sich gerne mit Dämonen auseinander.
»Ehrlich gesagt macht mir der Mensch ansonsten am meisten Kopfschmerzen. Es kann sein, dass er Luzifer doch befreit, wenn er noch mal einen Engel töten kann. Aber selbst wenn nicht, wer weiß, was noch alles anders bei ihm ist.«
Da lag das eigentliche Problem. Bislang hatten sie Luzifers Diener machen lassen, weil sie sich vorhersehbar verhielten und sich der Schaden in relativen Grenzen hielt. Sie der Reihe nach zu töten wäre ein größeres Risiko, als hin und wieder einen Menschen zu verlieren. Metatron hasste diese Denkweise, aber im Großen und Ganzen war sie richtig und zudem von Gott abgesegnet worden. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sie zu vertreten.
»Vielleicht hat Luzifer ihn mittlerweile umgebracht.« Michael warf einen Blick auf den Aktenstapel neben sich und seufzte tief, als legte er im Geiste noch einmal einen halben Meter obendrauf. »Ich kann trotzdem Attentäter bereithalten und ihn töten lassen, wenn er noch mal auf der Erde auftaucht.«
»Ist das nötig?«
»Es würde die Zweifel aus dem Weg schaffen.«
Metatron schüttelte den Kopf. »Noch nicht.«
Michael machte ein Gesicht, als hätte er einiges dazu zu sagen. Metatron war sich bewusst, dass ihm die Entscheidung nicht gefiel und der Mehrheit der Erzengel wahrscheinlich auch nicht, aber solange er sie begründen konnte, blieb er dabei.
»Vielleicht ist er wirklich harmloser als die anderen«, sagte er. »Dann kann er auch am Leben bleiben. Und Luzifer wird jetzt erst recht alles daran setzen, noch einen Engel zu fassen zu bekommen, da können wir ihm sein Ziel nicht auch noch auf dem Silbertablett präsentieren«
»Soll er kommen«, murmelte Michael. Metatron glaubte nicht, dass er das hatte hören sollen. »Wie du meinst, wir warten und beobachten. Aber sobald er zu sehr aus der Reihe fällt, töten wir ihn.«
›Noch eins von diesen notwendigen Opfern‹, dachte Metatron und erinnerte sich, wie Michael ihm das als Kind beigebracht hatte.
»Bekommt ihr das alleine hin?«, fragte er, der Höflichkeit halber. Länger als nötig wollte er eigentlich nicht bleiben.
»Wir haben jetzt unsere Anweisungen, wir kommen zurecht«, antwortete Michael. »Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, so plötzlich wie das kam.«
»Ist schon in Ordnung.« Metatron zwang sich zu einem Lächeln, das der gesamte Himmel für ehrlich hielt. Aber der gesamte Himmel ging auch zu Recht davon aus, dass er nicht mehr lügen konnte. »Bleibst du noch lange hier?«
»Ich will wenigstens ein bisschen schaffen«, erwiderte Michael und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Kann die Leute ja nicht ewig warten lassen, wenn sie sich schon an mich gewandt haben.«
»Brauchst du später Hilfe?«
Metatron wusste, dass Michael die Frage hasste. Von ihm ließ er sie sich aber immerhin gefallen und er wusste, dass er sie stellen durfte.
»Jophiel holt mich heute Nacht ab«, antwortete der Heerführer. »Er bringt mich runter nach Hause und sieht zu, dass ich mir nichts tue. Niemand muss sich Sorgen machen.«
Sein zynischer Tonfall tat weh, auch wenn er längst nichts Neues mehr war. Wieder verdrängte Metatron eine Entschuldigung. Sie konnte noch so ehrlich sein, gerade nützte sie nichts.
»Gut«, sagte er stattdessen. »Sobald ich kann, komme ich noch einmal zu euch. Ich weiß, Gabriel will, dass ich mich beeile, aber…«
»Es geht nicht anders.« Michael legte eine Hand auf Metatrons Unterarm – er fuhr zusammen, ließ es aber geschehen und konnte sich mit Mühe überzeugen, dass ihm niemand etwas tun würde. Gottes Stellvertreter sollte unberührbar sein. Volksnah und doch nicht zu erreichen. »Entgegen allgemeiner Behauptungen können die Erzengel warten. Wenn du es nicht schaffst, dann schaffst du es eben nicht. Wir sind nicht deine einzige Aufgabe.«
Metatron nickte. Auf dem Rückweg würde er versuchen, sich das einzureden und wie immer erfolgreich daran scheitern. Es sprach für Michaels Optimismus, dass er es trotzdem immer wieder wiederholte.
»Und pass auf dich auf, ja?«
»Du auch.«
Da war es wieder, das schiefe Grinsen. »Immer doch.«
Irgendwann hielt sich vielleicht einer von ihnen daran.