Kitabı oku: «Boat People», sayfa 4
Sehr beliebt heutzutage, sagte der Ladeninhaber, als er sie bediente. Er wickelte den Krug in Zeitungspapier und sagte: Dreihundert Rupien.
Hundertfünfzig, sagte Chithra mit fester Stimme. Ich bin keine von diesen Ausländerinnen.
Kaum hatten sie den Laden verlassen, rief sie jemand von irgendwoher.
Braut und Bräutigam!, sagte Chithra.
In einer Wolke von Eau de Cologne rauschte Ruksala heran, ihr zur Seite der getreue Rama. Die jungen Frauen beschnupperten sich flüchtig an den Wangen, erst rechts, dann links.
How machan?, begrüßte Mahindan seinen Cousin mit einem kräftigen Schlag auf den Rücken. Alles fertig für Freitag?
Rama nickte lebhaft. Ja, ja, alles fertig. Wir kommen gerade von Kumurans Laden. Du weißt doch, dass er den von seinem Vater übernommen hat?
Ich habe davon gehört, sagte Mahindan.
Girlanden, Essen, alles bestellt und vorbereitet?, fragte Chithra. Die Musiker?
Ruksala hakte sich bei Chithra ein, und zu viert gingen sie weiter, die Frauen voran, die Männer hinterher. Jetzt gibt es nichts mehr zu tun, außer zu entspannen, sagte Ruksala.
Und was ist mit der Öllampe, habt ihr euch entschieden?, fragte Chithra.
So, sagte Mahindan und schlang den Arm um die Schultern seines Cousins. Deine letzte Woche als Junggeselle.
Die letzte Woche, bestätigte Rama, der beim Gehen die Füße leicht nach außen kehrte. Rama gehörte zu den jungen Männern, die von der Ehe nur profitieren konnten. Von dem Ansehen, das er gewann, wenn er seine Frau vorstellte. Bei diesem Gedanken fragte Mahindan sich, ob andere seine eigene Ehe nicht auch so sahen.
Mahindan und Chithra packten ihre Einkäufe in die Fahrradkörbe und schoben die Räder neben sich her. Sie ließen das Gedränge im Stadtzentrum hinter sich und überquerten ein offenes Stück Land hinter dem Amman Kovil. Das war ein im dravidischen Stil erbauter Tempel mit einem pyramidenähnlichen Turm und einer von feinen Gravuren und Skulpturenreliefs bedeckten Fassade. Wie ein großer Teil von Kilinochchi, war auch der Tempel verdeckt durch ein Baugerüst aus Bambusholz. An Werktagen arbeiteten dort die Maler schwer daran, den Skulpturen ihren Glanz zurückzugeben.
Hast du gehört, dass Shangam wieder zurück ist?, sagte Rama.
Ach ja? Die Tigers haben ihn nach Hause geschickt?, sagte Mahindan.
Er kommt heute Abend an den See.
Samstagabends versammelte sich das junge Volk zum Sonnenuntergang am See. Flaschen mit hausgemachtem Palmwein gingen von Hand zu Hand. Chelva spielte Gitarre, und sie sangen alte Beatles-Songs. Oder Jeyanthi brachte ihren CD-Spieler mit und legte Tamil-Rap auf. Angefeuert vom Alkohol, tanzten sie wie wild, bis einer von ihnen, mit Sicherheit Rama, stolperte und ins Wasser fiel und die Mädchen in simuliertem Entsetzen aufkreischten.
Wir müssen für Shangam ein nettes Mädchen finden, sagte Ruksala. Jetzt, wo wieder Frieden ist.
Wer weiß, wie lange, sagte Chithra.
Die Sonne schien durch die Bäume und zeichnete diagonale Schatten auf die Erde. Affen baumelten an ihren Schwänzen und hielten gestohlene Früchte in den Pfoten. Ein Hund schnüffelte sich durch einen Abfallberg.
Ein Mann und eine Frau donnerten auf einem Motorrad vorbei, beide mit Schutzhelm, und Chithra zischte verächtlich durch die Zähne. Sie meinte, dass es Wahnsinn sei, wenn einmal Ausgewanderte in ihre unsichere Heimat zurückkehrten.
Warum sollen wir unsere besten Leute an andere Länder verlieren?, sagte Ruksala.
Chithra denkt nur an die steigenden Preise auf dem Markt, frotzelte Mahindan, der dem Gespräch über Krieg und vorübergehenden Frieden einen Riegel vorschieben wollte.
Aber schon sagte Rama: Die Verhandlungen werden was bringen. Man sieht doch, was die Europäer für Kosovo getan haben.
Mahindan und Chithra sahen sich kurz an. Sie hatten keine Ahnung, was in Kosovo vor sich ging, oder wo genau Kosovo auf der Landkarte zu finden war. Mahindan zog die Augenbrauen hoch, so als wollte er sagen: Was hast du uns denn da wieder aufgetischt.
Abwarten, sagte Rama. Dieser Waffenstillstand ist gerade mal der Anfang.
In den letzten zehn Jahren hatte die LTTE – Liberation Tigers of Tamil Eelam – den Norden Tamil Eelam mit der Hauptstadt Kilinochchi beherrscht. Hier sprachen sie alle dieselbe Sprache, verehrten dieselben Götter. Die Tamilen hatten ihre eigene Polizei, ihre eigenen Banken und Geschäfte. Die Tigers hatten eine Oase errichtet, in der die von der Regierung auferlegten Quoten und Sprachgesetze, all die Maßnahmen, mit denen die tamilische Minderheit entrechtet werden sollte, nichts ausrichten konnten. Jetzt mussten die Singhalesen es nur noch offiziell bestätigen: die Insel teilen und den Tamilen ihr eigenes Land geben.
Die Singhalesen werden uns nie in Ruhe lassen, sagte Chithra. Das werden die mit ihren Schutzhelmen und Sonnenbrillen niemals begreifen.
Rama aber setzte auf Kompromiss: Selbstverwaltung und keine Trennung. Tamil Eelam als autonome Provinz innerhalb eines vereinigten Sri Lanka. Er sagte: Wer finanziert denn die Regierung? Norwegen. Der größte Geldgeber.
Und jetzt, wo Norwegen beide Seiten zusammengebracht hat, sagte Ruksala, müssen die Singhalesen und etwas abgeben.
Es war schon immer so: auf der einen Seite Rama und Ruksala mit ihren von globalen Medien und internationalen Pandits geprägten Argumenten, auf der anderen Seite Chithra mit ihrem instinktiven Zynismus. Mahindan versuchte, sich aus diesen Debatten herauszuhalten. Was geschehen würde, würde geschehen. Wozu diese Diskussionen? Damit erreichte man ja doch nichts.
Eine Schlangenbrut, diese Singhalesen, sagte Chithra. Norwegen oder nicht, die finden schon einen Trick, die Verhandlungen platzen zu lassen. Sie sah sich um und fügte leise hinzu: Wenn nicht die, dann Prabhakaran. Unseren Kerlen traue ich auch nicht.
Krieg ist nicht gut fürs Geschäft, sagte Rama. Schlechte Ökonomie. Die Norweger werden eine Lösung finden.
Ruksala war anderer Meinung: Die Singhalesen sind mit ihrem Krieg am Ende, glaube ich. Die haben ja gesehen, dass sie gegen unsere Jungs nicht ankommen. Die sind klug genug, uns nicht weiter zu bekämpfen.
FAMILIENGESCHÄFT
Niemand schien über ihr Kommen informiert worden zu sein. Man führte sie zu einem fensterlosen Raum, der nicht mehr war als eine im letzten Moment eilig geräumte Besenkammer. Die Schubladen der Aktenschränke standen offen, darin hingen noch vereinzelte Ordner. Ein Computermonitor war da, auch eine Tastatur, aber keine Maus. Die herausgezogenen Netzteile lagen wirr verstreut herum.
Ihr neues Büro, erklärte Kelly von der Personalabteilung, schaute auf ihre Uhr und trippelte eilig zu einem Meeting.
Grace hörte das Summen in ihrer Handtasche. Eine SMS von Fred Blair: Viel Glück für heute! Sie werden glänzen. Grace schickte ihm ein Smiley zurück. Danke. Bisher alles ok.
Auf der Suche nach einer Steckdose kroch sie unter den Schreibtisch. So ein schäbiges Büro war nicht unbedingt ein schlechtes Vorzeichen. Diese Sache hier würde sie schon in den Griff bekommen.
Der Computer brauchte ein Passwort. Am Schreibtischtelefon sah sie ein Post-it mit einer zehnstelligen Zahl.
In Ottawa war gerade Mittag, und der Mann, der ihren Anruf entgegennahm, schien beim Sprechen zu kauen. Sorry, sagte er. Ihre Anstellung bei der Einwanderungs- und Flüchtlingsbehörde ist hier nicht gemeldet.
Grace Nakamura, sagte sie und buchstabierte ihren Namen. Ich bin das neue Mitglied der Prüfungskommission in der Zweigstelle Vancouver. Heute ist mein erster Tag.
Sie müssen das Formular H46 ausfüllen, sagte er. H46, nicht H46 A. Haben Sie Zugang zum Intranet?
Grace starrte auf den leeren Bildschirm und das Rechteck für das Passwort. Nicht ohne Passwort, sagte sie.
Füllen Sie das Formular aus, bitten Sie jemand von Ihrer Personalabteilung, es uns herzufaxen, dann können Sie in fünf bis sieben Geschäftstagen Ihre Arbeit aufnehmen.
Und was soll ich eine ganze Woche lang ohne Computer anfangen?
Grace versuchte, sich ins Gedächtnis zu rufen, ob es damals, als sie bei Fred angefangen hatte, auch so gewesen war. Aber das war zwanzig Jahre her, da gab es noch keine Intranets und keine E-Mails.
H46 A, sagte sie und griff nach einem Stift. Aber sie fand kein Papier. Sie schrieb es auf ihren Handrücken.
H46, sagte der IT-Mann.
Schließlich kehrte Kelly von der Personalabteilung zurück, um auf die Toilette zu gehen und Grace den anderen Kollegen vorzustellen. Grace gab jedem die Hand und wusste, dass sie unmöglich ihre Namen behalten konnte. Es wurde viel geredet von einem Mann namens Mitchell Hurst, der gerade von seinem einjährigen Sabbatical zurückgekehrt war.
Elternzeit?, fragte Grace.
Mitchells Kinder sind an der Universität, sagte Kelly. Nein, er hat sich ein Jahr freigenommen, um beim UNHCR zu arbeiten.
Es war 10 Uhr am Vormittag, und Kelly hatte sie schon mit Dutzenden von Akronymen beworfen. Grace fragte nicht, was dieses bedeutete.
Mitchell engagiert sich für das globale Hilfswerk. Ich wette, dass das Rote Kreuz ihn uns bald abziehen wird. Und dann geht er nach Kenia und hebt Brunnen aus. Eigentlich schade. Er ist einer der besten Leute, die wir haben.
Als sie an seinem leeren Büro vorbeigingen, blieb Grace eine Weile stehen. Über dem Türpfosten hing eine Girlande aus einem Ein-Dollar-Laden, darunter stand in bunt glänzenden Plastik-Lettern Willkommen zu Hause. Ein Rucksack war lässig über den Bürostuhl geworfen, darauf ein Fahrradhelm. Grace war versucht, den Tacker zu schnappen, der aufrecht auf seinem Schreibtisch stand. Sie legte die Hände auf dem Rücken zusammen und ging weiter, um Kelly einzuholen.
Den Rest des Vormittags hörte sie sich die Stimmen ihrer neuen Kollegen an. Ab und zu schnappte sie Mitchells tiefe Bassstimme auf, die kräftig und freundlich immer wieder sagte: Danke, ja, schön, wieder hier zu sein. Sie wünschte sich Gesellschaft und hätte gern die nächsten acht Wochen übersprungen, um dort zu sein, wo sie alle beim Namen kennt und mit ihnen über das Wochenende plaudern kann.
Sie hatte erwartet, an ihrem ersten Tag zum Lunch eingeladen zu werden, aber als es halb zwei wurde und niemand in ihr Büro gekommen war, ging sie zu einem Deli direkt gegenüber und kaufte sich ein Sandwich zum Mitnehmen.
Grace hatte schon immer die ersten Tage gefürchtet, den Moment, wo sie mit ihrem Tablett in der Hand vom Eingang der Kantine aus die voll besetzten Tische nach einem anonymen Sitzplatz absuchte. Aber diese Kantine hier war fast leer: ein halbes Dutzend runde Tische und eine einzige Person – ein ihr unbekannter Mann, gebeugt über eine Zeitung, die er auf dem Tisch ausgebreitet hatte. Auf einer Seite war ein Farbfoto zu sehen, das zeigte, wie Menschen unter dem Schutz großer Regenschirme von der Landungsbrücke eines Schiffes abgeführt wurden. Die Überschrift verkündete in marktschreierischen Großbuchstaben: MIGRANTEN – PRIME MINISTER SETZT AUF HARTEN KURS.
Sie sind doch der berühmt-berüchtigte Mitchell Hurst, sagte Grace und zog einen Stuhl heran.
Er hatte kurzgeschorenes rotes Haar, graumelierte Schläfen und ein von Sommersprossen gebräuntes Gesicht. Während er mit dem Daumennagel eine Apfelsine attackierte, sah er missmutig zu ihr auf. Berühmt-berüchtigt?
Na ja, ich … ich habe sehr viel von Ihnen gehört, sagte Grace. Warum nur hatte sie so etwas Blödes gesagt?
Sie machte einen zweiten Anlauf: Sie sind gerade zurückgekehrt. Brunnenbau in Kenia?
Brunnen in Kenia? Seine Augenbrauen gingen ungnädig nach oben. Wer hat Ihnen denn das erzählt?
Scheiße, dachte sie. Zweimal daneben.
Kopfschüttelnd löste Mitchell die Schale von der Apfelsine. Bangkok, sagte er. Weit weg von Kenia. Und Flüchtlinge, keine Brunnen.
Ach ja. Bei dem … Sie suchte nach dem Akronym.
Dem Büro des UN-Hochkommissariats für Flüchtlingshilfe, sagte Mitchell. Ich war Berater in Sachen Umsiedlung. Nargis hat für Arbeit gesorgt.
Grace traute sich nicht zu fragen, warum es Flüchtlinge in Thailand gab oder wer Nargis war. Aber ihre Unwissenheit entging ihm nicht.
Der Zyklon Nargis?, sagte er. Die schlimmste Naturkatastrophe in der Geschichte von Myanmar.
Klar, sagte sie. Wir haben hier davon gehört.
Blödsinn, erwiderte sein Blick auf diese Lüge. Er halbierte seine Apfelsine, legte die beiden Hälften auf eine Papierserviette und wandte sich der Zeitung zu.
Grace wickelte ihr Sandwich aus. Den Prosciutto mit Birne, der im Glaskasten vom Deli so appetitlich ausgesehen hatte, fand sie jetzt widerlich. Er hatte sie nicht einmal nach ihrem Namen gefragt. Und das war der Mann, den das ganze Büro so umschwärmte?
Ich bin Grace Nakamura, sagte sie.
Als er schließlich von seiner Zeitung aufblickte, starrte sie ihm direkt in die Augen.
Er verzog keine Miene, so als merkte er gar nicht, wie stoffelig er sich benahm. Als wäre es ihm völlig egal.
Ich habe heute angefangen, sagte sie.
Ich weiß. Die Regierung hat uns wieder mal jemanden geschickt. Wo waren Sie vorher – Grenzdienst? Justizministerium?
Ministerium für Verkehr und Infrastruktur, sagte sie. Ich war Einsatzleiterin.
Natürlich waren Sie das. Er blätterte weiter in seiner Zeitung und würdigte sie auch jetzt keines Blickes.
Grace hatte von zu Hause eine Tüte Weintrauben mitgebracht. Sie steckte sich eine Traube in den Mund, aß die Kerne mit und wünschte, sie wäre im Deli geblieben.
Die Kantine hatte ein Spülbecken, eine Mikrowelle und dazwischen eine schmale Ablage. An einem Pinnbrett hing ein Unterschriftenblatt für den Küchendienst, daneben eine schematische Darstellung des richtigen Hebens von Gewichten. Einen kurzen Moment lang vermisste sie ihren alten Job, die unbestrittene Autorität, mit der sie bei den Meetings den Laserpointer geschwenkt und die Minister beraten hatte.
Aber dann dachte sie an den Anruf von Fred, und wie stolz sie gewesen war, als ihr alter Mentor – der in die Bundesregierung gewählt worden war und in Ottawa einen Kabinettposten innehatte – ihr diese neue Chance anbot. Und außerdem war ihre Anstellung hier befristet. Nach den drei Jahren würde sie aufsteigen – zu Größerem und Besserem.
Mitchell faltete die Zeitung zusammen und legte sie beiseite. Er lehnte sich zurück, aß ein Stück Apfelsine und beobachtete sie teilnahmslos. Er trug einen Anzug, schien aber zu der Sorte Mensch zu gehören, die sich in Wanderschuhen und mit Tilley-Hut wohler fühlte. Um Augen und Mund zogen sich feine Linien. Sie schätzte, dass er auf die fünfzig zuging, also nur ein paar Jahre älter als sie war. Aber er hatte die herablassende Art eines Dienstälteren. Eingebildeter Affe, dachte sie. Obwohl sie nicht wusste, worauf er sich etwas einbilden konnte.
Mitchell steckte sich ein zweites Stück Apfelsine in den Mund und kaute langsam, methodisch. Grace brach den Augenkontakt ab und sah über seine Schulter hinweg. Jemand hatte sich eine Suppe mitgebracht; der Geruch von Chowder hing noch eine Weile in der Luft. Am Kühlschrank klebte ein Zettel mit der Information, dass er freitagabends ausgeleert wurde. Grace hörte Schritte im Korridor, aber niemand kam, sie zu befreien.
Und Sie?, fragte sie schließlich. Sind Sie schon lange bei der Einwanderungsbehörde?
Neun Jahre, sagte er.
Und davor? Sie lächelte dünn und machte ein Friedensangebot: Brunnen in Kenia?
Einwanderungsgesetz, sagte er. Zehn Jahre lang. Und davor Jurastudium.
Und was hat Sie hierher verschlagen?, fragte sie.
Meine Mandanten, sagte er. Ich konnte sehen, wie willkürlich der ganze Prozess ist, wie viel von den Entscheidern abhängt, wie viele von denen ohne jegliche Qualifikation und völlig unvorbereitet zu diesem Job kommen. Meiner Meinung nach.
Diesen letzten Satz hatte er in einem Ton hinzugefügt, den sie nicht deuten konnte. War er sarkastisch gemeint? Dann wickelte er die Apfelsinenschale in ein Stück Alufolie, knüllte das Ganze zu einem Ball zusammen und warf ihn im hohen Bogen zum anderen Ende der Kantine. Er landete im Abfalleimer. Ein perfekter Wurf.
Na dann viel Glück, Grace Nakamura, sagte Mitchell und stand auf. Jede Entscheidung ist ein Wendepunkt im Leben eines Menschen. Ehrlich gesagt, als Rechtsanwalt konnte ich besser schlafen.
Grace schraubte ihre Limoflasche auf. Es machte nichts, dass sie kein Jurastudium absolviert hatte. Dieser Job verlangt einen gesunden Instinkt, hatte Fred gesagt. Alles Übrige kann man lernen. Sie hatte die Prüfung gemacht wie alle anderen. Sie hatte das Recht, hier zu sein, nicht weniger als Mitchell Hurst.
Später am Nachmittag kamen die Entscheider zu einer Sitzung zusammen. Die Vorsitzende war eine sehr große Frau mit einem aufgebauschten Rock. Ich habe dieses Meeting einberufen, um Sie über das Frachtschiff aus Sri Lanka zu informieren.
Fünfhundertdrei Migranten: 297 Männer, 181 Frauen, 25 Minderjährige. Alle werden einen Asylantrag stellen. Das ganze Land wusste bereits von der Ankunft dieses Schiffes. Am Tag zuvor hatte es überall in den Schlagzeilen gestanden und wurde im Fernsehen gezeigt, das im Hintergrund lief, als Grace und die Kinder bei den Nachbarn dem Feuerwerk zuschauten und Steve unterwegs war, Raketen zu kaufen. Aber Grace wusste, dass mehr dahintersteckte, als offiziell berichtet wurde.
Fred hatte sie telefonisch schon in Kenntnis gesetzt. Die Regierung hatte Geheiminformation erhalten, sagte er. Die Hälfte der Leute an Bord hatte Verbindung zur LTTE, einer Gruppe von Separatisten, besser bekannt als die Tamil Tigers, die seit mehr als zwanzig Jahren Krieg gegen die Regierung von Sri Lanka führten. Verlierer eines Kriegs in Übersee, die jetzt nach Kanada flohen, um ihre Wunden zu lecken und sich neu zu gruppieren.
Kanada hat den Ruf, weichmütig zu sein, hatte Fred gesagt. Wir müssen die Welt eines Besseren belehren. Ich baue auf Sie, Grace. Das ganze Land baut auf Sie.
Grace fragte sich, warum die Vorsitzende von all dem überhaupt nichts erwähnte – von den Geheimdienstberichten, von den Tamil Tigers und ihrem langjährigen internationalen Waffenhandel, von den Wohltätigkeitsfassaden in anderen Ländern, hinter denen sie ihre Gelder wuschen, von Freds Verdacht, dass sie Kanada als Basis für neue Anschläge in Sri Lanka benutzen wollten.
Damit werden wir voll und ganz beschäftigt sein, sagte die Vorsitzende. Diese Fälle haben Priorität.
Grace überlegte, ob sie etwas sagen sollte. Außer ihr waren noch sieben andere Kollegen da, und sie alle würden die gleiche Entscheidungsbefugnis darüber haben, wer im Land bleiben durfte und wer abgeschoben wurde.
Die Haftüberprüfungen beginnen am Montag, sagte die Vorsitzende. Räumen Sie alles vom Tisch.
Grace glaubte, gehört zu haben: Räumen Sie alle vom Schiff. Sie musterte die Anwesenden. Alle hielten ihre Augen auf die Vorsitzende gerichtet, außer Mitchell, der etwas in seinen Notizblock schrieb. Er sah auf und sie sah weg. Die waren alle schon länger hier als sie, aber sie musste doch etwas sagen, wenn …
Unser Rechercheteam hat diese Nationalen Dokumentationspakete zusammengestellt, sagte die Vorsitzende. Sie stand zwischen zwei Türmen schlanker blauer Ordner und legte demonstrativ die rechte Hand auf den rechten Stapel, die linke auf den linken. Diese werden Sie auf den jüngsten Stand bringen.
Grace nahm einen Ordner und gab den Stapel erleichtert weiter.
Grace zog den Schlüssel aus dem Zündschloss und stieg barfuß aus, die Pumps baumelten an ihren Fingern. Kumi, eine Hand schützend über die Augen gelegt, stand in der Haustür und blinzelte missmutig in die Sonne. Für einen kurzen Moment glaubte Grace, ihre Mutter habe neugierig auf ihre Rückkehr und ihren Bericht über den neuen Job gewartet. Mit freudig erhobener Hand winkte sie ihr zu. Hallo Mom, wie geht’s?
Doch als sie zur Tür kam, wollte Kumi nur wissen, wo der Karton mit den Urkunden und Kontoauszügen war. Wo ist der Karton?
Im Hausflur stand eine große Obstschale, in der Kumis verlegte Besitztümer gesammelt wurden: Lesebrille, Armbanduhr, ihr Notfallarmband, eine im Kühlschrank verlegte Haarbürste. Heute war die Schale leer. Kumi hatte einen guten Tag.
Auf dem Karton war noch das rote Klebeband, redete Kumi weiter, machte die Haustür zu und lief ihrer Tochter hinterher ins Haus. Die ganze Dachkammer habe ich in der letzten halben Stunde durchsucht.
Vor einigen Jahren hatte Kumi eines Morgens vor dem Spiegel gestanden und ihr eigenes Gesicht nicht erkannt. Die Diagnose kam schnell: Alzheimer, zweites Stadium. Nachdem sie im April einen Toaster in Brand gesetzt hatte, ließ sie sich endlich überreden, ihr Apartment aufzugeben und bei Grace einzuziehen. In der Dachkammer wurden Kumis alte Kartons aufbewahrt – Milchkisten vollgestopft mit Fotoalben, Überseekoffer mit Aktenordnern, Sachen, die jahrzehntelang aufgehoben und nicht berührt worden waren. Die Mutter hatte die Berge bestimmt nur kurz überblickt und war, als sie das Auto in der Auffahrt hörte, mit streitbar auf die Hüften gepressten Händen nach unten gekommen.
Der Karton muss da oben sein, sagte Grace, bückte sich und hob ein Paar Straßenschuhe von Steve auf, die auf dem Teppich herumlagen.
Und weißt du, was deine Töchter die ganze Zeit getrieben haben? Kumi verfolgte Grace auf Schritt und Tritt. Videospiele!
Die Mädchen saßen auf dem Fußboden, einen knappen Meter vor dem Flachbildschirm an der Wand. Sie starrten nach oben wie Bittsteller zum Altar. Auf dem Bildschirm raste ein zweidimensionaler Mann wild durch die Straßen von New York, während ein Polizist mit der Pistole auf seine Autoreifen zielte. Die Mädchen umklammerten ihre Gamecontroller und trommelten mit den Daumen auf den Knöpfen herum.
Meg riss die linke Schulter hoch. Nein, nein, nein!, kreischte sie. Idiot!
Der Polizist rammte rückwärts in eine Backsteinmauer und flog mitsamt Auto in einem roten Feuerball durch die Luft.
Oh! Brianne schnippte mit dem Zeigefinger in Richtung Bildschirm. Dich hat’s ewischt!
Grace klopfte mit den Fingerknöcheln auf den Küchentresen. Und das habt ihr beiden den ganzen Tag so getrieben?
Meg antwortete mit einem lässigen Wedeln der Finger. Brianne schnaubte nur. Sie wandten sich nicht um.
Grace sah die Pferdeschwänze der beiden Mädchen und ihre dünnen Halswirbel, die sich wie zwei knubbelig nach unten laufende Linien auf ihren Rücken abzeichneten. Sie hängte ihre Kostümjacke über einen Stuhl. Kommt her und helft mir beim Abendessen, sagte sie.
Brianne beugte sich nach vorn und zog mit dem linken Daumen am Joystick. Nachher, sagte sie.
Was entweder bedeutete: wenn wir mit dem Spiel hier fertig sind, oder: fünf Minuten nach überhaupt nicht.
Die haben nichts Besseres zu tun? Kumi schwirrte wie eine lästige Fliege um Grace herum.
Auf dem Tresen in der Mitte der Küche lag eine Box mit süßem Knabberzeug, daneben eine leere Milchpackung mit offenem Ausguss.
Morgen kommt die Reinigungskraft, rief Grace in Richtung Fernseher, habt ihr euer Zimmer aufgeräumt?
JA!, kreischte Meg.
Toll, sagte Brianne.
Grace schnürte sich eine Schürze um und wischte den Tresen ab. Sie war sich nicht sicher, ob diese beiden Reaktionen die Antwort auf ihre Frage waren.
Kinder brauchen Grenzen, sagte Kumi. Und Verantwortung. Du musst ihnen eine nützliche …
Wozu brauchst du diese alten Kisten?, fragte Grace und machte dabei den Kühlschrank auf.
Die Hauptbücher und die Kontobücher, sagte Kumi. Ich will wissen, wie viel das Geschäft wert war.
Grace wühlte im Gemüsefach. Welches Geschäft?
Was meinst du, welches Geschäft? Das Familiengeschäft! Das Geschäft deiner Großeltern!
Graces Großeltern hatten vor dem Krieg einen Waschsalon gehabt. Als Kind hatte Grace Klavierunterricht von einer Frau in Gastown bekommen. Jedes Mal wenn sie die Powell Street entlangfuhren, hatte Kumi auf ein nichtssagendes Gebäude gezeigt und gesagt: Das hat uns gehört, ehe die Regierung es uns gestohlen hat. Und Aiko, Graces Großmutter, widersprach ihr mit sanfter Stimme: Nein, nein. Wie viel Gutes dieses Land doch für uns getan hat.
Grace hockte vor dem Kühlschrank und sah zu ihrer Mutter hoch, die hinter der Tür halb verdeckt war. Mal ganz langsam, sagte sie. Das Geschäft gibt es nicht mehr, Mom. Schon lange nicht mehr.
Ja, ja, sagte Kumi. Aber die Kontobücher. Die haben wir noch.
Wirklich?
Na klar, sagte Kumi. Dicke Bücher, in denen jede Transaktion verzeichnet ist. Wir hatten immer gute Kunden, und auch nicht nur Japaner. Sie sprach und lief dabei hin und her, und Grace musste in dieser kleinen Küche um sie herumtanzen, um zum Spülbecken zu kommen. Denk doch mal, wie viel das Geschäft wert wäre, wenn wir es heute verkaufen würden, sagte Kumi und legte den Zeigefinger auf den Daumen. Und der Wert des Grundstücks! Das Land hat uns gehört! Wir haben doch den Grundbuchauszug und können das beweisen.
Mom. Grace legte ihrer Mutter die Hände auf die Schultern. Pass auf.
Es war für Kumi nicht ungefährlich, gleichzeitig zu laufen und zu reden. Wenn sie sich über etwas aufregte, vergaß sie oft alle Vorsicht.
Kumi verzog das Gesicht, aber sie blieb stehen. Sie hielt sich am Tresen fest und sagte: Zufrieden?
Danke. Grace ging zur Spüle. Sie fragte sich, woher denn dieses plötzliche Interesse gekommen war. Ihre Großmutter hatte, als sie noch am Leben war, nie über den Krieg gesprochen, auch nicht über ihr Leben davor. Auch ihre Mutter hatte, außer ein paar gelegentlichen Nörgeleien an der Powell Street, nie davon gesprochen.
Grace werkelte unter dem fließenden Wasser und sagte laut: Du machst dir unnötig Gedanken. Das Land gehört jetzt jemand anderem.
An der Powell Street standen jetzt Kleinbrauereien und Kaffeeröstereien, moderne Apartments und bezahlbare Sozialwohnungen. Keine Spur mehr von der japanischen Gemeinde, die einst hier geblüht hatte.
Es geht ums Prinzip, sagte Kumi.
Der Fernseher ging aus und die Mädchen kamen hereingepoltert. Grace wies auf den Geschirrspüler und sagte: Bitte ausräumen. Zu ihrer Mutter sagte sie: Lass das mal. Das bringt nichts.
War es Langeweile?, überlegte sie. Der Alzheimer hatte Kumi alle ihre Lieblingsbeschäftigungen gestohlen – Kreuzworträtsel, Sudoku, Stricken –, und wenn sie las, konnte sie nur noch den anspruchslosen Plots in mittelmäßigen Romanen folgen.
Meg riss den Geschirrspüler auf, der sich mit einer wuchtigen Heißluftwolke entlud. Die Zwillinge waren schon immer sehr klein gewesen, kaum sechs Pfund bei der Geburt, und in der Grundschule immer die Kleinsten. Aber in den letzten sechs Monaten hatten sie sich gestreckt. Sie waren jetzt groß und langgliedrig und hatten ihre zusätzlichen fünfzehn Zentimeter noch nicht richtig unter Kontrolle. Sie schritten aufreizend langsam zwischen Geschirrspüler und Küchenschränken hin und her, immer nur mit einem Teller, und leerten die beiden Spülkörbe so umständlich wie nur möglich.
Wie war euer Tag heute?, fragte Grace.
Schön.
Habt ihr irgendwas gemacht? Und nicht nur vor dem Fernseher gehockt?
Wir waren draußen, sagte Brianne.
Wo wart ihr?
Weiß nich’, sagte Brianne. Im Park. Um den Block rum. Einfach rausgegangen.
Habt ihr heute nichts anderes gemacht?
Nichts, sagte Megan.
Die Unterhaltung versandete und Grace wünschte, sie hätte die Mädchen einfach bei ihren Videospielen gelassen. Das war ihre Rache dafür, dass sie sie gezwungen hatte, ihr zu helfen.
Steht mal gerade, sagte Grace.
Die Mädchen beugten sich immer nach vorn. Über den Computer, über das Videospiel, über ihre eigene Brust, als wollten sie sie schützen.
Wollt ihr denn aussehen wie zwei bucklige Hexen?, fragte Grace.
Die Mädchen machten noch größere Buckel und alberten der Mutter erst recht was vor. Sie schlugen mit den Armen um sich, gingen tierisch grunzend aufeinander los, sprangen mit wild ausschlagenden Beinen in der kleinen Küche herum.
Schluss jetzt mit diesem Unsinn!, schnauzte Grace sie an. Oder wir kriegen nie was zu essen.
Is’ mir doch egal. Meg richtete sich auf und warf ihr Haar zurück.
Brianne knallte die Schranktür zu, Grace zuckte erschrocken zusammen.
Kumi war aus der kleinen Küche verjagt worden und lief jetzt mit großen Schritten am Esstisch auf und ab, wobei sie mit einer Hand über die Stuhllehnen fuhr.
Alles wurde im Stillen gemacht, sagte Kumi. Die meinten, sie würden uns schützen.
Können wir uns später darüber unterhalten?, fragte Grace.
Kumi hielt mitten im Schritt inne. Später? Es gibt kein Später. Jetzt ist es Zeit aufzurechnen, was die uns angetan haben.
Bei den Worten was die uns angetan haben zuckte Grace erneut zusammen.
Denk doch an Obaachan, sagte Grace. Der Gedanke an die Großmutter würde hier vielleicht helfen. Die hätte das nicht gewollt.
Die haben uns alles weggenommen. Unsere Häuser, unsere Arbeit, unsere Würde. Kumi zog einen Stuhl heran und setzte sich mit hängenden Schultern seitlich darauf. Unsere Kindheit.
Wer hat alles weggenommen?, fragte Meg.
Ganz richtig. Ihr Mädchen solltet euch auch daran beteiligen.
Ich denke nicht …
Woran beteiligen?, fragte Brianne und machte den Geschirrspüler zu.
Kommt, Mädchen, sagte Kumi. Ihr könnt mir in der Dachkammer helfen.