Kitabı oku: «Im Auge des Betrachters», sayfa 5

Yazı tipi:

Eine knappe Stunde später bin ich nicht viel schlauer als vorher und Tanja ist auch immer noch nicht wieder da. Das Telefon klingelt, ich hebe ab. “Hallo Herr Truggenbrot, könnten Sie nochmal kurz zum Chef rein? Er möchte Sie noch einmal sprechen.” Natürlich. Wahrscheinlich hat er das Dokument gefunden, nachdem er vorhin gesucht hatte und möchte mir noch etwas persönlich dazu sagen. In Richards Büro angekommen, fällt mein Blick auf einen der drei Zeitungsausschnitte, die eingerahmt in randlosen Bilderrahmen an der Wand hängen. Serienkiller Matthias S. endlich gestoppt - Entscheidende Hinweise durch Bevölkerung, ist dort in der Überschrift zu lesen. Unsere Zeitung hatte entschieden zur Aufklärung beigetragen, da wir den Kontakt zur Zeugin herstellen konnten. Das ist auch zwischen den Zeilen zu lesen, aber offensichtlicher wollte es Richard damals nicht haben. Er sagte, ihm sei genug, dass er wisse, wie sehr wir zur Aufklärung beigetragen haben und dass wir die Welt zu einem etwas besseren Ort gemacht hätten. “Danke, dass du nochmal reingekommen bist.”, eröffnet Richard das Gespräch. “Gar kein Problem, die fünfzig Schritte schaffe ich grad noch.”, entgegne ich. Er lächelt kurz. “Ich finde das Papier einfach nicht, wahrscheinlich liegt es bei mir zu Hause, dann bringe ich es dir morgen mit. Ich habe es wohl in der Hektik heute vergessen. Du musst also die nächsten Stunden ohne vorgefertigte Planung und Kontakte vorankommen.” Das ist nicht das, was ich hören wollte. “Oh Mann, ich hab eben schon eine Stunde gesucht und bin kaum schlauer geworden. Tanja ist immer noch nicht im Haus. Ich weiß nicht, ob das mit den 48 Stunden wirklich klappen wird unter den Umständen.” Eine gewisse Verzweiflung mischt sich dabei in den Ton meiner Stimme, ich hasse es, Richard zu enttäuschen. Beruhigend antwortet er, “Rolf, bleib ganz ruhig. Ich weiß doch, wozu du fähig bist. Und den Standpunkt der Zeitung kennst du ja bereits, hangle dich daran entlang. Videos und Artikel zum Rapper selbst sollte es ja genug geben, er ist ja kein Unbekannter.”

Mir brennt auf der Zunge zu fragen, was so Besonderes an diesem Fall ist. Ich würde ihm gern sagen, dass er sich so komisch verhält und mir das Sorgen bereitet. Aber bin ich der Richtige, diese Fragen zu stellen? Zweifel machen sich breit. Richard bemerkt, dass ich mit mir hadere. “Was ist los, Rolf? Irgendwas möchtest du doch noch sagen.”, ermutigt er mich, den Mund zu öffnen. “Nichts Wichtiges. Kannst du mir nicht noch mehr über den Fall sagen? Ein paar mehr Ansatzpunkte wären schon wichtig.”, ist alles, was ich hervorbringe. Klartext schreiben geht, aber Klartext reden, damit habe ich manchmal so meine Probleme. “Ich kann dir wirklich nicht mehr sagen. Die Sache kommt von oben. Ja, ich bin der Chefredakteur hier und kann eine Menge bestimmen, aber auch ich berichte meinem Chef und muss mich an Vorgaben halten. Der hat den Artikel ganz oben auf die Agenda gesetzt und Zeitdruck gemacht. Das ist aber wirklich alles, was ich noch sagen kann. Vertrau mir, mach deinen Job und zeig, was du drauf hast. Ich weiß, 48 Stunden ist echt knapp, aber wenn es unter den Umständen einer hinbekommt, dann du.” Er war schon immer ein motivierender Mensch, das ist wahrscheinlich einer der Gründe, warum ich ihn so schätze. “Okay, ich frage nicht wieder nach und mache mich an die Arbeit. Bis später vielleicht.”

Die Zusammenhänge in den Hierarchien im alltäglichen Leben sind einem manchmal einfach nicht bewusst. Natürlich hätte ich mir denken können, dass mein Chef auch seine Anweisungen von oben bekommt. Wer bekommt die schließlich nicht? Das ist ja etwas ganz Natürliches. Die Welt funktioniert nunmal in dieser Pyramidenform. Die Menschen an der Spitze geben die Richtung vor und je tiefer man nach unten kommt, desto weniger wissen die Menschen dort, über die Beweggründe für diese Richtung Bescheid. Es macht ja auch alleine aus dem Grund schon Sinn, weil die Intelligenz der Menschen unterschiedlich ist. Was der eine innerhalb weniger Sätze versteht, dafür braucht ein anderer Monate. Jeder muss deshalb seinen Platz in der Pyramide finden. Mein Platz ist unter Richard. Habe ich immer noch das Gefühl, dass er mehr weiß, als er mir verrät? Ja, irgendwie schon, aber es wird legitime Gründe geben, warum er mir nicht mehr sagen kann. Die Sache kommt von oben. Wahrscheinlich weiß er selber nicht alles, weil ihm sein Chef auch nur einen Teil sagen kann. Das macht zwar die Arbeit für mich nicht leichter, aber die Suche nach der Wahrheit hat ja auch was für sich. Schließlich ist das der Hauptgrund, warum mich Journalismus Tag für Tag immer wieder reizt.

In der Mittagspause vertrete ich mir ein bisschen die Beine an der frischen Luft. Es ist angenehm warm, ohne ins Schwüle überzugehen. Vor ein paar Minuten rief Tanja kurz an. Sie schaffe es heute erst nach dem Mittag reinzukommen, weil sie trotz ihres Termins ungewöhnlich lange bei ihrem Arzt warten musste. Immerhin hat sie Bescheid gesagt. Ein paar grundlegende Dinge über die Band Johnny C. habe ich erfahren, aber das gehe ich dann mit ihr alles nochmal kurz durch, wenn sie da ist. Der Rapper selbst heißt eigentlich John Seeberger und Johnny C. ist offenbar Englisch zu verstehen, im Sinne von Johnny Sea, als Kurzform für seinen Namen. Die Leute kommen auf Ideen. Über die sonstigen zwei Bandmitglieder aber ist außer den Namen Manuel und Steven nicht viel herauszufinden. Selbst die Nachnamen sind bislang ein Rätsel. Vielleicht gehört sich das so, wenn es einen Star gibt, der im Rampenlicht steht. Außerdem ist Tanja in diesen Online-Recherchen viel besser, ich stochere nur rum und Suche die Nadel im Heuhaufen. Meine Zeit kommt, wenn es um die Zusammenhänge geht. In meinem Kopf bastle ich schon an den Tafeln und Pinnwänden zu Hause, ziehe Verbindungen, ergänze versteckte Informationen. Bleibt die Frage, ob die Zeit bis übermorgen ausreicht, um tiefer einzusteigen. Zur Not muss ich mir doch das ein oder andere aus den Fingern saugen. Wäre auch nicht das allererste Mal.

Es ist eines der großen Probleme, die wir als Tageszeitung haben. Vieles dreht sich darum, schnell zu reagieren und in kürzester Zeit, Artikel zu veröffentlichen. Man möchte schließlich so tagesaktuell wie möglich sein. Schafft man das nicht, sind andere Zeitungen schneller und ehe man sich versieht, ist die Nachricht schon wieder so veraltet, dass eine Veröffentlichung sich gar nicht mehr lohnt. Dann wäre die ganze investierte Arbeit umsonst. Magazine haben es da leichter. Die können ihre Beiträge über Wochen oder gar Monate vorbereiten und sind dadurch auch deutlich faktenbasierten. Sie können immer wieder prüfen, Quellen abgleichen, nochmal prüfen, Zusammenhänge klären und wieder prüfen. Wir von der Tageszeitung hingegen brauchen auch Bauchgefühl. Das lernt man in diesem Geschäft, wenn auch manchmal auf die harte Tour. Die Magazine mögen akribischer sein, aber letztlich ist für einen guten Journalisten wichtig, dass er seiner Intuition in den richtigen Momenten folgt. Die wirklichen Top-Journalisten arbeiten im Tagesgeschäft. Hilfreich ist, wenn man gute Quellen besitzt, denen man vertrauen kann. Das ist wieder wie mit der Pyramide. Man muss eben die richtigen Leute über sich kennen, dann kommt man auch an die notwendigen Informationen. Ich muss mir allerdings eingestehen, dass ich in diesem Fall hinsichtlich Informanten aus der Musikbranche leider etwas mau besetzt bin. Höchstens Herrn Preis könnte ich mal anrufen, der weiß am ehesten etwas oder kann mich zumindest weiterleiten. Das werde ich nach der Pause mal in Angriff nehmen, nachdem ich mein belegtes Brötchen gegessen habe. Oder besser noch etwas später, wenn ich Tanja, sofern sie dann endlich da ist, aufgeklärt und an die Arbeit geschickt habe.

Kapitel 5

Am folgenden Tag im Aufnahmestudio von Record 431

“Hast du Steven heute schon gesehen?”, ruft Manuel aus dem Aufnahmeraum. Ich gieße mir gerade ein Glas Wasser in der Lounge ein, um die Stimme wieder ein bisschen zu ölen. Die Lounge ist quasi das Spielzimmer des Aufnahmestudios. Drei große Sofas mit lauter weicher Kissen zum Entspannen, eine Nische mit Kühlschrank, Kaffeeautomat und Wasserkocher für die Verpflegung und eine Tischtennisplatte für die Unterhaltung - da schlägt das Herz höher. Unsere Kooperation mit dem regionalen Aufnahmestudio läuft von Beginn an, wir waren als Band immer hoch zufrieden mit den Gegebenheiten und von daher gab es auch nie das Thema eines Wechsels. Der Name Record 431 ist durch eine lustige Geschichte entstanden. Die ursprünglichen Gründer des Studios waren ihrerseits Musiker und probten in ihren eigenen Garagen. Der Leader der Band war für seine verrückten Ideen bekannt und interessierte sich schon immer für die indische Kultur. Nach einer zweimonatigen Reise inklusive dreiwöchigem Aufenthalt in einem Ashram kam er ganz begeistert zurück. Er sagte, es sei alles eine Sache der Aufmerksamkeit, seid immer aufmerksam. Ständig erinnerte er seine Bandmitglieder von ihren Tätigkeiten nicht abzuschweifen. Das gipfelte dann bei einer Probe darin, dass er das typische Einzählen four, three, two, one in four, three, one umwandelte. Die Folge war, dass die halbe Band den Einstieg verpasste, worauf er laut auflachte und wiederholte four, three, one - pay attention! Zwölf Monate später gründete er das Aufnahmestudio und der Name Record 431 bleibt ihm bis heute treu.

“Nein, hab ihn noch nicht gesehen.”, antworte ich Manuel, während ich das Aufnahmestudio betrete. “Schätze, dass er noch Dinge wegen der Klage zu tun hat, von der er gestern erzählt hat. Schon verrückt, was die ihm da vorwerfen. Das muss ja am Abend des Festivals bei der VIP-Party gewesen sein. Also ich kann mich zwar nicht mehr an alles erinnern, aber besonders auffällig war da nichts.” Steven hatte erzählt, dass eine Frau, die er auf der Feier kennengelernt hatte, ihn wegen sexueller Belästigung angezeigt hätte und dass ihn das zu allerlei undurchschaubarem Papierkram und aufwendiger Organisation bringen würde. Er selbst hatte direkt gesagt, dass die Vorwürfe unhaltbar seien, weil alles, was an dem Abend vorgefallen war, in beidseitigem Einverständnis passiert sei. Ins Detail ist er dabei nicht gegangen, aber für mich klang es so, dass die beiden zumindest mal rumgemacht haben. Klar sei er betrunken gewesen, fügte er noch an, aber doch nicht mehr als sonst. Wie diese Frau auf solche Ideen käme, wäre ihm schleierhaft. Es wird sich schon alles aufklären waren dann seine letzten Worte, bevor er das Aufnahmestudio gestern verließ.

Zu meiner Überraschung bekam ich gestern Abend dann noch einen Anruf von einer Zeitung, keine Ahnung wie die meine Nummer rausgefunden haben, aber scheinbar sitzen da Experten. Die Frau am Telefon sagte, ihr Kollege und sie würden gern sehr zeitnah einen Artikel über das Festival und die neue Single rausbringen, ob sie nicht am nächsten Tag, also heute, vorbeikommen könnten. Publicity ist natürlich gut für das Geschäft, also habe ich, ohne lang nachzudenken, zugesagt. Die zwei haben sich für 13 Uhr angekündigt. Sie hätten es am liebsten schon vormittags gemacht, also scheinen sie es wirklich eilig zu haben. Bei uns standen aber unter anderem noch Videoschnitte an, die ich nicht verschieben wollte. Das ist auch der Grund, warum Manuel schon da ist, sonst hätte er heute Vormittag auch frei machen können, weil Steven ja nicht da ist. Bei einem der Clips war aufgefallen, dass ein Scheinwerfer falsch stand und die Beleuchtung von Manuel beim Spielen der Gitarre unvorteilhaft war. Daher sollte er die Szene heute nochmal drehen, das ging auch problemlos ohne Steven. Der Aufnahmeraum verfügt neben den Musikwerkzeugen über einen Greenscreen, vor dem sich alles Mögliche machen lässt. Die Techniker für den Videoschnitt sind krass drauf, was die alles an Effekten und Hintergründen da rein bekommen, unglaublich! Die Leute glauben, wir wären für die Videos sonst wo unterwegs, auf Inseln in der Karibik oder in großen verlassenen Werkhallen. Alles Bullshit, eine grüne Wand, das reicht, den Rest macht die Technik. Das ist nicht ganz billig, aber verglichen mit dem Flug in die Karibik und der aufwändigen Innendekoration einer solch geschmückten Werkhalle kommen wir wahrscheinlich so auch noch günstiger weg. Schneller ist es obendrein.

“Wann wollten diese Reporter kommen, hast du gesagt? 13 Uhr?”, fragt Manuel. “Ja, genau. Wir haben also noch ne Stunde.”, antworte ich. Ludwig, unser Produzent, sitzt neben uns und sichtet das neu aufgenommene Videomaterial mit uns. Er wirkt zufrieden und hat etwas von einem dieser Wackeldackel, die ständig den Kopf auf und ab bewegen. Er murmelt diverse Male Dinge vor sich, die aber nicht in voller Gänze zu meinen Ohren vordringen. Ohne Ludwig wären wir aufgeschmissen. Der Organisationsaufwand, den er betreibt, ist für uns normal Sterbliche überhaupt nicht denkbar. Er kümmert sich nicht nur um alles rund um die Herausgabe der einzelnen Singles und Alben, er schiebt auch noch im Bereich Marketing alles an, sorgt für die Auftritte, spricht mit Werbepartnern und handelt die besten Deals mit Versicherern und Medien aus.

Heute Morgen war er etwas sauer auf mich, dass ich den Reportern zugesagt habe, ohne ihn im Vorfeld zu informieren. Ich hatte das zwar direkt nach dem Telefonat gemacht, allerdings wäre es ihm deutlich lieber gewesen, wenn ich mit der Zusage gewartet hätte. Er sagte, man solle sich vorher stets über diejenigen informieren, die Informationen von einem haben wollen. Nicht, dass am Ende etwas veröffentlicht wird, was wir gar nicht veröffentlicht haben wollen. Ich beschwichtigte ihn mit dem Hinweis, dass die lokale Zeitung, auch wenn konservativ, bislang immer gut über uns berichtet hat. Überzeugen ließ er sich davon nicht, vor allem die Tatsache, dass Reporter, die einem anderen Resort als sonst zugeteilt sind und gar nichts mit Musik im eigentlichen Sinne zu tun haben, die Interviewanfrage gestellt haben, stieß ihm übel auf. Eine der Eigenschaften, die ich an ihm schätze, ist aber, dass er sowas ziemlich schnell verzeiht. Wahrscheinlich liegt das daran, dass er so viel zu tun hat und sich die Zeit nicht nehmen kann, lang über Vergangenes zu grübeln. “Das gefällt mir!”, sagt er als alle Ausschnitte durchgelaufen sind. “Jetzt muss das nur noch wie besprochen zusammengeschnitten werden und dann haben wir das nächste Stück des Puzzles fertig. Unser nächstes Album wird der Hammer, ich sage es euch. Wir haben nochmal große Schritte in Punkto Professionalität gemacht.” Recht hat er. Es ist erstaunlich, wie viel Luft nach oben manchmal noch ist, wenn man denkt, man sei schon spitze. “Absolut”, sage ich, “was wir in den letzten Monaten auf die Beine gestellt haben, kann sich sehen lassen.” Manuel nickt.

Wir begeben uns zurück in die Lounge und lassen uns auf den Sofas nieder. Ludwig kann kaum die Füße still halten und lehnt sich zu uns vor. “Jungs, wenn die Reporter gleich kommen, lasst mich zuerst mit ihnen reden. Ich habe noch eine gute halbe Stunde Zeit, bevor ich los muss. Okay?” Wir stimmen zu. “Danke. Ich kläre dann schon mal das Wesentlichste mit denen ab und dann können sie für Detailkram und O-Töne zu euch kommen. Habt ihr schon was von Steven gehört? Falls er noch kommt, während die Reporter hier sind, lasst ihn nicht mit denen reden. Keine Ahnung, ob schon irgendwas bezüglich der Anzeige nach Außen gedrungen ist, aber ich will nicht, dass er zum jetzigen Zeitpunkt mit denen darüber spricht. Mir kommt das ohnehin schon vom Timing der Interviewanfrage etwas spanisch vor.” Ich wende ein, “Die klangen am Telefon jetzt nicht danach, dass sie uns deswegen interviewen wollen. Die Themen sollen ja Harte Bandagen und das Festival sein.” Ludwig macht ein skeptisches Gesicht, “Siehst du, deswegen will ich zuerst mit denen reden. Du bist naiv. Die Sache von Steven war beim Festival, beziehungsweise in der Nacht. Und glaubst du ein Reporter kommt ernsthaft zu dir und sagt Hey Johnny, Lust, zu der sexuellen Belästigung Stellung zu nehmen, wir wollen da einen ausführlichen Artikel drüber schreiben. Wenn da was dran ist, zerfleischen wir dich! Das glaubst du nicht oder?” Es gehört wohl zu einem guten Produzenten dazu auch die Worst-Case-Szenarien im Kopf zu haben. “So krass sicher nicht, aber”, beginne ich. “Nichts aber! Wir sollten uns in der Sache bedeckt halten, solange wir selber da nichts Genaues drüber wissen. Der Einzige, der momentan zu wissen scheint, was an dem Abend passiert ist, heißt Steven und war betrunken.” Noch während er spricht, denke ich wieder an die Feier zurück. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Steven an dem Abend zu weit gegangen ist und wirklich jemanden sexuell belästigt hat. Ich meine, come on, es ist Steven. Wenn ich ihn irgendwie schützen kann, werde ich das tun. Stupide Gerüchte! “Ich habe nichts mitbekommen, was ihn belasten würde.”, erkläre ich. Ludwig entgegnet, “Wir alle nicht. Und gewiss klärt sich die Sache auch schnell auf. Und vielleicht hast du ja recht, dass die Reporter tatsächlich nur wegen des Festivals und des neuen Hits kommen, sind ja schon logische Gründe.” Er atmet tief durch. “Will noch jemand einen Kaffee? Ich könnte noch einen vertragen.”

Etwas früher als erwartet, gegen 12:45 Uhr, treffen die zwei Reporter ein. Die Frau vom Telefonat gestern stellt sich als Tanja Moos vor, ihr Kollege Rolf Truggenbrot übernimmt von dort an das Gespräch. “Schön, dass Sie sich die Zeit so spontan für uns genommen haben. Wir würden gerne so viele Perspektiven wie möglich in unseren Artikel einfließen lassen und daher kurze Interviews mit allen von Ihnen führen. Wir würden uns dann aufteilen, damit wir zügig damit fertig werden.”, erklärt er. Ludwig schreitet sofort ein, “Guten Tag, ich bin Herr Müller, der Produzent der Band und hauptverantwortlich für Publicity. Sie können beide mit mir sprechen und wenn dann noch Fragen offen sind, die anderen kurz interviewen. Glücklicherweise sind Sie etwas früher als gedacht hier und daher sollte die Zeit, die ich habe, reichen, um Ihnen alles Wichtige mitzuteilen. Kommen Sie mit, wir ziehen uns in die Aufnahme zurück, dort sind wir ungestört.” Schon beeindruckend wie selbstsicher Ludwig die Initiative ergreift, direkt aufsteht und den zwei verdutzten Reportern keine Chance bietet, Widerworte loszuwerden. Anstatt die Fragen der Reporter abzuwarten, ist auf dem Gang Ludwig zu hören: “Worüber genau wollen Sie denn eigentlich schreiben, das ist ja alles sehr kurzfristig.”

Eine gute halbe Stunde vergeht. Was die zwei Reporter und Ludwig im Aufnahmestudio alles diskutieren, weiß ich nicht. Manuel und ich haben zwischendurch schon eine Partie Tischtennis gespielt, er thront danach mal wieder auf dem Siegerpodest. In diesem Fall bedeutet das, dass er ein Bein auf den Couchtouch gehievt und beide Arme nach oben gerissen hat. Ich bin zwar deutlich kräftiger als er, aber der Junge hat Reaktionen, krass. Zur Bestrafung mache ich zwanzig Liegestütz, ein wenig Workout bei der Arbeit schadet ja auch nicht und zwanzig sind wirklich nichts. Wenn ich meine richtigen Workouts mache und die Arme und der Rumpf dran sind, kommen in einer Session schon mal an die 300 zusammen. “Ich hätte gerne noch weiter mit Ihnen gesprochen, aber jetzt drängt die Zeit und ich muss los.”, ist Ludwig aus dem Gang zu vernehmen. “Alles Weitere erfahren Sie von Johnny und Manuel. Vielen Dank für das Gespräch, machen Sie es gut.” In der Lounge angekommen, richtet er das Wort an uns. “Das meiste sollte bereits geklärt sein, die restlichen Interviews führen die beiden einzeln. Frau Moos wird dich interviewen Johnny und Herr Truggenbrot dich Manuel. Danach sprechen die zwei auch noch mit der Tontechnik und dem Bühnendesigner.” Er dreht sich kurz zu den zwei Reportern, blickt uns dann ernst an und fährt etwas leiser fort: “Sie haben auch nach Steven gefragt und was es mit dem Gerichtsverfahren auf sich hätte. Das bedeutet, sie haben davon bereits Wind bekommen. Ich habe jedoch nichts zu den Anschuldigungen gesagt und sie direkt abblitzen lassen. Keine Ahnung, was sie genau wissen, ich wollte da nicht selbst bohren. Haltet euch bedeckt, ja?”

Während Herr Truggenbrot und Manuel sich auf den Weg ins Aufnahmestudio machen, um ihr Interview dort durchzuführen, begeben sich Frau Moos und ich in den Raum für die Tontechnik. Ein Mitarbeiter mit großen Kopfhörern ist dort noch an den zwei riesigen Mischpulten mit all den Reglern und Knöpfen beschäftigt und bemerkt gar nicht, dass wir hinein kommen. Als ich ihm auf die Schulter tippe, fährt er schreckhaft zusammen, reißt sich die Kopfhörer vom Kopf und dreht sich um. “Du hast mich erschreckt.”, sagt er danach fast ausdruckslos. “Sorry, Dennis, du hast uns wohl nicht kommen hören. Wir brauchen den Raum für ein Interview, das hier ist Frau Moos von der Zeitung.” Sie streckt ihm die Hand entgegen, doch er hat sich bereits abgewendet, seine kleine Tasche geschnappt und sich auf den Weg aus dem Raum gemacht.

“Ein”, kurze Pause, “sonderbarer Mensch.”, lässt Frau Moos verlauten. “Er ist etwas speziell und gern für sich. Mag andere Menschen nicht sonderlich, macht aber einen klasse Job als Tontechniker. Setzen Sie sich.” Der Raum ist dunkel verkleidet, was eine etwas bedrückende Stimmung erzeugt. Goldene Elemente wie eine Schallplatte, drei Kleiderhaken, die Füße der Tische und Stühle und diverse Accessoires sorgen für ein leicht vornehmes Ambiente. In einer Ecke des Raumes ist ein runder Tisch, natürlich mit Goldrand, mit zwei Stühlen. Auf dem Tisch stehen zwei Gläser und eine Flasche Wasser. Wir setzen uns und ich fülle die Gläser. Nach dem ersten Schluck und einem kurzen Danke beginnt das Interview. “Ihr Produzent hat uns erzählt, ihr richtiger Name lautet John Seeberger, Sie sind 33 Jahre alt, nicht verheiratet und haben das Ziel, einen Nummer eins Hit zu landen. Das war für uns natürlich wenig Neues. Auch war für uns nicht neu, dass Sie Ihre Texte selber schreiben. Seit wann sind Sie schon als Songwriter aktiv?” Sie wirkt ein wenig steif. “Mein erstes Lied habe ich als Teenager geschrieben und in der Schule aufgeführt, zum Abschluss. Ich hatte dort einen 20-minütigen Auftritt bekommen und einige bekannte Lieder nachgesungen, ehe ich als letzten Akt mein eigenes präsentierte. Die anderen Schüler mochten es, die Lehrer nicht so sehr. Es war frech. Das Schreiben hat mir damals viel Spaß gemacht und fortan bin ich dabei geblieben.” Sie notiert sich Stichworte in ihrem Block. “Gab es eine Inspiration für Ihren aktuellen Hit Harte Bandagen?”, möchte sie wissen. Ich muss an Gregor denken. Er ist meine Inspiration für so viele Lieder. Sein Tod hat mich erst zu dem gemacht, der ich bin. “Nein, nicht direkt. Das Leben ist hart und zeigt das in vielen Situationen. Mein Produzent hat es richtig gesagt, ich will einen Nummer eins Hit. Dafür muss man besser sein als alle anderen. Das geht nicht mit einem Kuschelkurs.” Es geht natürlich in diesen Interviews auch immer ein bisschen darum, sein Image aufrechtzuerhalten. Nicht jeder Rapper muss der absolute Hardcore-Gangster sein, aber weiche Rapper kommen bei den Fans nicht gut an.

Sie fragt mich ein paar weitere Sachen zum neuen Song, die ich in Ruhe beantworte. Sie hat ihre Hausaufgaben gemacht und zeigt das stolz immer wieder mit kleinen Bemerkungen. Als nächstes geht es um das Seefest, bei dem wir den Song das erste Mal live gespielt haben. “Wie war es, auf der Bühne zu stehen und den Song das erste Mal live zu performen? Und wie empfanden Sie die Reaktion der Zuschauer?” Ich rufe mir die Szenen zurück vor mein inneres Auge. Das war schon ein geiler Auftritt! “Stevens Drums haben gerockt! Es war der beste erste Auftritt, den wir mit einem Song bislang hatten, würde ich sagen. Die Stimmung war astrein, die Fans haben gefeiert und unsere Performance stimmte bis ins letzte Detail. Ich freue mich schon auf die Charts in den nächsten Wochen. Auf der Bühne zu performen hat immer etwas Spezielles, sonst würde ich nicht das tun, was ich tue.” Bei der Erwähnung von Steven schaute sie kurz von ihrem Block auf, schrieb dann jedoch fleißig weiter. Ich dachte immer, dass alle Journalisten inzwischen Tonbänder benutzen. Scheinbar habe ich mich geirrt. “Sind Sie bis zum Ende des Festivals geblieben? Haben Sie die Ausschreitungen vor Ort noch mitbekommen?” Was für Ausschreitungen? Als wir mit unserem T6 weggefahren sind, war nichts von Ausschreitungen zu sehen. “Nein, wir sind vorher schon gefahren, weil wir noch ins Hotel zurück wollten, ehe es Abends auf die VIP-Party ging, zu der wir eingeladen waren. Von Ausschreitungen hat da niemand was erzählt, was soll denn vorgefallen sein?” Ich versuche, mich zu erinnern, ob ich etwas im Nachhinein gelesen habe, aber muss mir eingestehen, dass der Kater am folgenden Tag mich davon abgehalten hatte. “Es gab eine Schlägerei mit mindestens zwölf Personen, sogar ein Krankenwagen musste kommen und die Polizei nahm drei Menschen in Gewahrsam.” Halb so wild, sowas kommt schon mal vor. “Davon weiß ich nichts. Ein paar Idioten gibt es natürlich bei so einer Großzahl an Besuchern immer.”, stelle ich fest.

“Sie sprachen die Afterparty an, waren Sie mit der ganzen Band dort?”, fragt sie. “Nein, Manuel war nicht mit dabei und unser Produzent hatte auch Besseres zu tun. Ich hatte auch nicht so richtig Lust im Vorfeld, aber Steven hat mich überzeugt. Ein paar Jungs aus der Technik sind uns später auch noch dort begegnet.” Wieder schaut sie beim Namen Steven auf. Die mahnenden Worte Ludwigs hallen durch meinen Kopf. Ihr haltet euch bedeckt, ja? “Steven wollte also unbedingt zu der Feier? Gab es dafür einen Grund?”, hakt sie nach. “Steven feiert einfach gerne und eigentlich ist das auch üblich, dass wir uns als Stars bei diesen Afterparties zeigen.” Jetzt hat sie so richtig Lunte gerochen. “Gerne feiern mit Alkohol und Frauen?”, rutscht es ihr heraus. “Das gehört beides häufig dazu, aber ich dachte es soll in diesem Interview um die neue Single und unseren Auftritt beim Festival gehen. Wir wissen beide, worauf Sie hinauswollen mit ihrer Anspielung. Steven hat nichts Falsches an dem Abend gemacht, dafür lege ich meine Hand ins Feuer. Mehr werden Sie von mir diesbezüglich aber nicht hören. Wenn Sie weitere Fragen zu den anderen Themen haben, beantworte ich die gerne.” Reporter können manchmal ziemlich dreist sein. Da machen wir extra für die zwei Platz in unseren Planungen und dann kommt so ein vorwurfsvoller Unterton. Sie rudert danach etwas zurück und stellt noch zwei, drei uninteressante Fragen, was bei mir den Eindruck verstärkt, dass es doch vorrangig um Steven geht. Was hat er nur die Nacht angestellt? Ich hoffe, Manuel hält sich ebenso gut an die Vorgabe von Ludwig wie ich.

Als wir den Raum verlassen, wartet Manuel schon in der Lounge, von dem Reporter ist nichts zu sehen. “Wo ist mein Kollege?”, möchte Frau Moos wissen. “Der wollte sich noch ein bisschen umschauen und einen Blick in den Mini-Flugzeughangar werfen.”, antwortet Manuel. “Den was?”, fragt sie verdutzt. “So nennen wir liebevoll die Halle neben dem Tonstudio mit all den Accessoires und Bühnenelementen für die Videoaufnahmen. Das reinste Schlaraffenland für kreative Menschen sage ich Ihnen. Folgen Sie dem Gang hier und dann am Ende die linke Tür.”, erklärt er und fügt lachend hinzu, “Von da aus sehen Sie schon den Eingang zum Hangar, also zur Halle.” Sie bedankt sich und wünscht uns noch einen schönen Tag.

“Wie war dein Interview? Die Reporterin bei mir war ziemlich vorwurfsvoll und wollte über Steven Bescheid wissen. Als hätte es Ludwig gewusst!” Manuel versichert, dass bei ihm nichts dergleichen vorgefallen sei, er habe aber ja auch nichts groß erzählen können, weil er ja nicht dabei war. Auch wieder wahr. Mal sehen, wann Steven hier auftaucht und was er dann an Neuigkeiten zu seinem Fall mitbringt.


Tanja und ich fahren im Bus zurück zum Redaktionsgebäude und arbeiten die Interviews währenddessen auf. Wahnsinnig viel Neues haben wir dabei nicht erfahren. Der Produzent Ludwig Müller hatte von Anfang an klar gemacht, dass zu den Vorfällen in der Seefestnacht keine Angaben von der Band gemacht werden und wollte sich auch selbst dazu nicht äußern. Schade natürlich auch, dass der interessanteste Gesprächspartner, der Drummer Steven Uttensen, gar nicht vor Ort war. Hätten wir das im Vorfeld gewusst, hätten wir uns den Weg eventuell gespart. Tanja hatte in ihrem Gespräch keinen Zugang zum Rapper gefunden, sagt sie. Er habe sehr früh abgeblockt und ihr gar unterstellt, das Interview nur zu führen, um belastendes Material gegen den Angeklagten zu bekommen. Vielleicht war sie nicht feinfühlig genug, Interviews führen ist nicht ihre große Stärke.

Mein Interview mit dem Gitarristen lief gut, hatte nur den Haken, dass dieser selber nicht auf der VIP-Party war. Trotzdem konnte er mir einige Hinweise zur Zeitlinie geben, die er anhand von Handynachrichten belegen konnte. Der Start der VIP-Party war für 23 Uhr geplant. Gegen 22:30 Uhr wollten sich der Drummer und der Rapper mit zwei Frauen vor dem Hotel treffen, eine davon ist wahrscheinlich die Klägerin, aber das müssen wir noch abschließend prüfen. Die erste Nachricht über die Party kam erst gegen 0:20 Uhr, weshalb davon auszugehen ist, dass die vier nicht direkt dorthin gefahren sind. Im Verlauf der Nacht kamen sporadisch und unregelmäßig noch ein paar Nachrichten dazu. Ich kenne die Inhalte der Nachrichten jedoch nicht. Zwei weitere Bilder, die zum Gitarristen gesendet wurden, zeigen den Angeklagten beim Tanzen in der großen Menschenmenge. Diese sind gegen 1:30 Uhr und 1:50 Uhr von Johnny C. gesendet worden. Der Veranstalter hatte uns im Vorfeld des Interviews mitgeteilt, dass die Feier gegen 4:30 Uhr zu Ende war, sich aber bereits gegen 3:30 Uhr größtenteils auflöste. Wie der Drummer und der Rapper genau nach Hause gekommen sind, ob allein oder in Begleitung und wann, ist völlig unklar. Es gibt noch eine Menge zu recherchieren, bevor wir hier etwas Stichfestes sagen können.

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