Kitabı oku: «Haiti – Teuflische Entscheidung», sayfa 2

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Loransya bedachte die Frau mit einem hasserfüllten Blick, als sie sich zu ihrem Ehemann umwandte, der wissen wollte, wann er nun endlich mit seiner Mahlzeit rechnen könne.

„Dieses nutzlose Negerkind ist keine 20 Dollar wert! Wenn man bedenkt wie viel Arbeit wir mit ihr noch haben werden, sollten wir Geld zurückverlangen!“

Das kleine Mädchen wurde das Gefühl nicht los, dass sie in dieser Familie alles andere als willkommen war. Nur verstehen konnte sie nicht, warum sich die Leute überhaupt zur Verfügung stellten, um einem armen Kind den Schulbesuch zu ermöglichen und es vor einem qualvollen Hungertod zu bewahren. Loransya zwang sich ihre Tränen herunterzuschlucken und sich nicht der Sehnsucht nach ihrer eigenen, heiß geliebten Mutter hinzugeben.

Mittlerweile war das Oberhaupt der fremden Familie wieder an die Kochstelle getreten. Unwillkürlich zog das kleine Mädchen aus Angst davor für ihre Unfähigkeit gestraft zu werden, den Kopf ein. Doch statt sie zu schlagen, reichte er ihr wortlos einen Reisigbesen, mit dem sich Loransya daran machte, die Behausung zu fegen. Die Kinder der Familie saßen noch immer vor dem Fernseher und nahmen noch nicht einmal Notiz von ihr, als sie um das Sofa herum wirbelte. Ihre verbrühten Hände schmerzten so unendlich und es gelang ihr nur mit Mühe, allen Staub und Schmutz, der sich in der Behausung angesammelt hatte, auf einen Haufen zu kehren. Nachdem sie mit ihrer Arbeit fertig war, nickte die Mutter zufrieden und Loransya blieb in Mitten des Raumes stehen, weil sie nicht genau wusste, wie sie sich verhalten sollte, um keinen Ärger auf sich zu ziehen.

Erst als durch die kleine Wellblechhütte, der leckere Duft des warmen Hühnchens zog, bemerkte das kleine Mädchen wie hungrig sie eigentlich war. Seit ihrer Abreise in Virol hatte sie weder zu essen noch zu trinken bekommen. Obwohl Loransya es gewohnt war, oft tagelang nichts zu sich zu nehmen, so zog sich ihr heute doch der Magen vor Hunger zusammen.

„Das Essen ist dann soweit!“

Die Mutter war gerade dabei, fünf Teller bereit zu stellen und Hühnchen mit Reis und Pilzen darauf zu verteilen, als sich das erste Mal der älteste Sohn der Familie an Loransya wandte.

„Dann zeige ich unserem Rčstavek mal, wo sie schlafen soll!“

Das Familienoberhaupt nickte zustimmend und das kleine Mädchen folgte dem großen, kräftigen Jungen mit gebührendem Abstand nach draußen. In ihren Augen standen Tränen, die sie nicht mehr länger zurückhalten konnte, als der Junge sie unweit der Blechhütte zu einem kleinen, erbarmungswürdigen Verschlag führte, den Loransya bei ihrer Ankunft für eine Hundehütte gehalten hatte.

„Hier schläfst du!“, befahl er und deutete auf ein Stückchen Pappkarton, der auf dem dreckigen Boden des stinkenden Verschlags lag. Mehr Worte wollte er offensichtlich nicht an das kleine Mädchen verschwenden, er wandte sich ab und verschwand wieder im Inneren der Hütte. Loransya starrte ihm fassungslos hinterher, bis sie endlich begriff, dass sie hier soweit weg von der Liebe und Geborgenheit Virols war wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Mutlos kroch sie in den niedrigen Verschlag und legte sich auf den kalten Boden. Ausstrecken konnte sie hier ihre kurzen Beine nicht, da die Familie den Verschlag offenbar auch als Lagerraum nutzte. Zu ihren Füßen lag ein weicher Gegenstand, den sie versuchte etwas beiseite zu schieben, der sich aber so hartnäckig verweigerte, dass sie sich seufzend umdrehte und danach griff. Erst auf den zweiten Blick fiel Loransya auf, dass es sich bei dem Gegenstand um ihre eigene Tasche handelte. Ihre verbrannten kleinen Finger schmerzten so sehr, dass es ihr nicht gelang die Kraft aufzubringen, um den verschlossenen Reißverschluss zu öffnen. Wieder und wieder versuchte Loransya schmerzerfüllt die Reisetasche zu öffnen, aber alle Mühen blieben erfolglos. Wenn sie wenigstens ihre Puppe im Arm halten könnte, dann würden sich all die Sorgen und Schmerzen besser ertragen lassen, die Nase ganz tief darin vergraben. In dem kleinen Mädchen machte sich bitterliche Verzweiflung gepaart mit einem ihr unbekannten Gefühl der Ohnmacht breit. All die Hoffnungen, die sie auf das Versprechen ihrer Mutter gesetzt hatte, waren dahin. Der Hunger quälte sie hier in der Hauptstadt Port-au-Prince ebenso wie zuhause in Virol, nur waren die Magenkrämpfe in den geborgenen Armen ihrer Mutter bei weitem besser zu ertragen, als hier in der Einsamkeit der Fremde. Über die knochigen Wangen des Mädchens liefen die Tränen in Sturzbächen hinunter und sie klammerte sich voller Verzweiflung an ihrer Tasche fest. Die Einsamkeit der kühlen Nacht, die qualvollen Schmerzen an Händen und Stirn gepaart mit dem Hunger ließen ihren kleinen Körper erschauern. Je mehr Ruhe sich über das Armenviertel der Hauptstadt legte und je weniger Menschen vor den ärmlichen Wellblechhütten ihre abendlichen Gespräche führten, umso mehr versetzte sich Loransya in einen apathischen Zustand. Sie kauerte auf dem harten, kalten Boden, wippte mit der Reisetasche im Arm hin und her und schluchzte im Takt verzweifelt dazu.

„Wenn es einen Gott gibt, so wird er mich heute Nacht zu sich holen!“

Das war der letzte Gedanke des kleinen Mädchens an diesem Abend, ehe sie in einen unruhigen Schlaf fiel, der sie wenigstens im Traum zurück in die Arme ihrer Mutter führte.

***

Marina Courtons war in Virol bereits seit dem Sonnenaufgang damit beschäftigt, einen Teil der reifen Mangos auf einen Leiterwagen zu stapeln. Die Nacht, die hinter ihr lag, war grauenvoll gewesen und auch heute Morgen fühlte sie sich nicht besser. Gestern noch war hier über die grünen Wiesen des Bergdorfs ihr kleines Mädchen getobt. Wenn sie die Augen ganz fest schloss, dann konnte sie Loransya sehen und beinahe ihre Stimme hören. Obwohl Marina Courtons sich durchaus dessen bewusst war, dass es eine vernünftige Entscheidung im Interesse ihres Kindes war, sie zu fremden Leuten in die Hauptstadt zu schicken, die ihr einen Schulbesuch ermöglichten und genügend Nahrung bieten konnten, so vermisste sie ihre Jüngste so sehr, dass ihr die Trennung das Herz gebrochen hatte.

Ein, vielleicht zwei Mangos fanden noch Platz, ehe sie den langen beschwerlichen Weg über die steile Bergstraße in die nächst größere Stadt auf sich nehmen und darauf hoffen musste, dass sie ohne Früchte, aber dafür mit einigen Gourdes in der Tasche, zurück nach Virol kehren würde. Seufzend öffnete die vom Leben gezeichnete Frau die Tür des kleinen Lagerschuppens. Beinahe die ganze Ernte war schon verbraucht oder verkauft worden, nur in der hintersten Ecke der Hütte fanden sich noch einige Früchte. Wie die Familie nur die lange Zeit bis zur nächsten Ernte überleben sollte, wusste sie nicht und der Gedanke an die bevorstehende schwere Zeit trieb ihr tiefe Sorgenfalten auf die Stirn. Mutlos griff Marina Courtons nach der letzten Mango, die sie mit auf den Markt nehmen wollte und hielt plötzlich einen Moment inne. In der hintersten Ecke des Lagerschuppens inmitten von Staub und Dreck lag die vermisste Puppe ihres kleinen Mädchens. Marina Courtons bückte sich danach, entfernte den Schmutz großflächig und drückte die Puppe ganz nah an ihr Herz. Todunglücklich ging sie auf die Knie, stieß sie einen tiefen Seufzer aus und konnte die Tränen nicht mehr länger zurückhalten. Wie sehr vermisste sie nur ihre Kleine und wie hatte sie sich jemals darauf einlassen können, ihr Kind zu fremden Menschen zu geben? Doch dann schweifte ihr verschwommener Blick durch den leeren Lagerraum, in dem sich nur noch ein paar, wenige Mangos befanden.

„Loransya, meine Kleine! Glaub mir, du wärst hier verhungert. Schau dich nur um!“

Marina Courtons hielt die Puppe nun so, dass ihr Gesicht in die Richtung des leeren Lagerraums zeigte. Ihre abgearbeiteten, zittrigen Hände streichelten sanft über den Kopf der Puppe.

„Dir wird es einmal besser gehen, wenn du erst lesen, schreiben und rechnen kannst!

Sie schloss die Augen für einen kurzen Moment und küsste die Puppe liebevoll auf den Hinterkopf.

„Und vergiss nie, mein Mädchen: Ich liebe dich von ganzem Herzen!“

Dann packte sie die Puppe tief in die Brusttasche ihres hellblauen Kleides, wischte sich die Tränen aus den Augen und verließ den Lagerraum, um sich auf den Weg zum Markt zu machen.

***

Mitten in der Nacht war Loransya vollkommen durchgefroren erwacht. Irgendwie war es ihr gelungen, die Reisetasche doch noch zu öffnen und ihre einzige, zerschlissene Jacke überzuziehen. Mit ihrer Puppe im Arm konnte sie sofort wieder einschlafen. Erst nachdem die Sonne aufgegangen war, blinzelte sie vorsichtig in die Umgebung. Im Traum war sie zuhause in Virol und hatte die Mangoernte geborgen auf dem Arm der Mutter verschlafen. Dem kleinen Mädchen war ganz elend zumute, als sie feststellte, dass sie sich immer noch in dem erbarmungswürdigen Bretterverschlag in Port-au-Prince befand und auch Gott sie nicht hatte zu sich holen wollen. Sie hielt ihre Puppe ganz nah vor ihr Gesicht und begann leise mit ihr zu reden.

„Guten Morgen, Mama! Ich vermisse dich so sehr!“, schluchzte sie und war vollkommen überrascht, als sie plötzlich das warme, sichere Gefühl der Liebe durchströmte. Ihre Mutter dachte gerade an sie, das spürte Loransya ganz tief in ihrem kleinen Herzen. Sie wischte sich die Tränen vom Gesicht und bemerkte, dass dieses Gefühl eine Veränderung ihrer Denkweise herbeigeführt hatte. Für ihre Familie, vor allem für Mama und Gerárd, würde sie lesen, schreiben und rechnen lernen und dann eine gute Anstellung finden, mit der sie dafür sorgen konnte, dass alle satt werden. Auch wenn es von ihr das Opfer erforderte, bei der Familie zu bleiben, die sie schlecht behandelte - sie wollte kämpfen!

Etwas verschlafen kroch Loransya aus der Hütte, gähnte herzhaft und streckte sich in alle Richtungen. Dann überprüfte sie, ob ihre Puppe auch tief genug in der Tasche der roten Hose steckte, um auch ja nicht verloren zu gehen. Der Schmerz in ihren Händen war einem tauben Gefühl gewichen; den Hunger nahm sie im Augenblick nicht wahr. Unentschlossen blieb sie zunächst vor der Wellblechhütte der Familie stehen, wagte es aber nach einer Weile doch, leise gegen die Türe zu klopfen.

Das Familienoberhaupt öffnete ihr nur mit einer Unterhose bekleidet. Seine Rastazöpfchen standen zerzaust in alle Himmelsrichtungen ab und über sein Gesicht huschte sogar der Anflug eines sanften Lächelns.

„Petite Nčgre!“, begrüßte er sie knapp.

Schüchtern folgte ihm Loransya in das noch vollkommen verdunkelte Innere der Behausung. Der Fernseher lief noch immer, was den Vorteil mit sich brachte, dass wenigstens der Wohnraum ab und zu etwas erhellt wurde. Hilflos blieb das kleine Mädchen stehen und wartete darauf, neue Befehle entgegenzunehmen. Der Vater der fremden Familie schien jedoch keinerlei Notiz von ihr nehmen zu wollen und ließ sich gähnend auf das verschließene Sofa fallen. Der Rest der Familie schien noch zu schlafen, was das leise, regelmäßige Schnarchen aus der Ecke des Raumes verriet. Nach einer halben Ewigkeit drehte sich der Mann schließlich zu ihr um.

„Geh’ Wasser am Brunnen holen!“, murrte er miesepetrig und deutete mit dem Finger neben die Kochstelle. „Der Wassereimer steht da!“

Natürlich war diese Aufgabe Loransya nicht fremd, schließlich hatte sie in Virol auch täglich mit ihrer Mutter das Wasser vom Brunnen geholt. Aber wie um Himmels Willen sollte sie in dieser großen, unübersichtlichen Stadt den nächstgelegenen Brunnen überhaupt finden? Ihr fragender Blick sprach offenbar Bände, zumindest schob das Familienoberhaupt noch hinterher:

„Gleich wird dich das Restavčk von Fabienne abholen und dir zeigen, was du wissen musst!“

Das kleine Mädchen hatte zwar keine Ahnung, wer Fabienne sein sollte, gab sich aber dennoch mit der Antwort zufrieden, zumal sich das Rätsel ohnehin bald lösen würde.

Wenig später klopfte es auch schon an der Tür.

„Geh schon!“, befahl das Familienoberhaupt ungnädig und Loransya beeilte sich, die Türe so schnell wie möglich zu öffnen. Vor ihr stand ein etwas schief lächelndes Mädchen, das etwa acht Jahre alt war. Ihr kahler Schädel schimmerte feucht und der Blick aus ihren Augen war verklärt. Den mageren Körper, der bis auf einen deutlich geblähten Bauch, nur aus Haut und Knochen bestand, hatte sie in ein schäbiges, zerschlissenes Kleid gehüllt.

Sie nickte ihr nur aufmunternd zu ohne ein Wort zu sagen. Loransya begriff, die stumme Aufforderung sofort, holte sich den Wassereimer von der Kochstelle und trat hinter dem Mädchen aus dem Haus. Schweigend liefen die beiden Mädchen den langen, staubigen Weg vorbei an Wellblechhütten und knietiefen Müllbergen und Loransya fragte sich insgeheim, ob das Mädchen womöglich stumm war oder es einfach nur unüblich war, unter Restavčks zu sprechen. Nachdem sie gute zehn Minuten gelaufen waren ohne ein Wort miteinander zu sprechen, blieb Loransya unvermittelt stehen. Das bedrückende Schweigen, das ihr Leben seit ihrer Ankunft in Port-au-Prince überschattete, war für sie unerträglich und der Wunsch nach einem Gesprächspartner ließ das kleine Mädchen über ihren Schatten springen.

„Ich heiße übrigens Loransya“, wisperte sie leise und kaum hörbar.

Das fremde Mädchen hielt eine Weile inne und strahlte sie mit einem breiten Lächeln an.

„Ich bin Jocelyn, das Restavčk von Fabienne, der Nachbarin“, erklärte sie und ihr Blick wanderte gedankenverloren an Loransya vorbei.

„Komisch, ich habe meinen Namen schon so lange nicht mehr gesagt, dass ich ihn beinahe vergessen habe“, fügte sie noch nachdenklich hinzu.

Obwohl Loransya sich darüber wunderte, dass Jocelyn ihr eigener Name so wenig geläufig war, wagte sie es dennoch nicht nachzufragen. Irgendwann würde sie es von sich aus erzählen.

„Wir müssen weiter!“

Fast schon panisch setzte sich Jocelyn wieder in Bewegung. Loransya gelang es nur mit großer Mühe Schritt zu halten. Endlich war in der Ferne eine Gabelung des staubigen Wegs zu erkennen, die in eine geteerte Straße mündete. Das Straßenbild hatte sich zwischenzeitlich deutlich verändert und war statt Wellblechhütten und Müllbergen jetzt von Häusern, Autos und Mofas geprägt. Hier mussten offensichtlich die reicheren Haitianer leben, die es sich leisten konnten, ein Haus aus Steinen zu errichten. Die Mädchen waren nur ein kurzes Stück die Hauptverkehrsstraße entlanggelaufen, bis Jocelyn in eine schmale, miefige Gasse nach rechts einbog. An einer langen Hausmauer im Schatten des Gemäuers saß eine Unmenge von Kindern. Auf dem schmutzigen Asphalt um sie herum lagen die wenigen Habseeligkeiten verteilt, die sie besaßen und gerade nicht am Leib trugen. Vage erinnerte sich Loransya an die Erzählung ihres großen Bruders Jean, der nach einem kurzen Aufenthalt in der Hauptstadt Port-au-Prince von dem Schicksal der vielen Straßenkinder berichtet hatte. Die heimatlosen Kinder taten Loransya sehr leid, auch wenn es ihr selbst nicht wesentlich besser erging. Nur die Hoffnung auf eine bessere Zukunft mit einem Schulabschluss und der Chance auf Arbeit gaben ihr ein wenig Kraft in dieser auswegslosen Situation. Jocelyn eilte vollkommen abgebrüht weiter durch die enge Gasse. Das Leid der obdachlosen Kinder schien sie gar nicht wahrzunehmen.

„Warte, Jocelyn!“, brüllte Loransya ihr nach, während sie die enge Gasse rennend hinter sich ließ und endlich wieder den Anschluss an das Mädchen bekam.

Jocelyns Gesichtszüge hatten sich verdunkelt und sie schien alles andere als erfreut darüber zu sein, dass Loransya sie in der Verrichtung ihrer täglichen Arbeit aufhielt.

„Tut mir Leid“, entschuldigte sich Loransya und fügte kleinlaut hinzu, „ich war noch nie in einer so großen Stadt und staune darüber, was es hier alles zu sehen gibt!“

Diese Bemerkung quittierte Jocelyn mit einem abwertenden Seufzer.

„Du wirst noch öfter hier vorbeikommen, als dir lieb ist. Ich gehe fünfmal täglich zum Brunnen!“

Langsam wurde das fremde Mädchen etwas gesprächiger, wenn auch Loransya spürte, dass noch nicht der richtige Zeitpunkt dafür gekommen war, um ihr all die Fragen zu stellen, die ihr so unter den Nägeln brannten.

Vor den Mädchen lag jetzt eine steile Treppe. Die schiefen Stufen waren vom satten Grün der Natur eingenommen und derart verwuchert, dass sie sich im Laufe der Jahre zu einer echten Stolperfalle entwickelt hatten. Vorsichtig setzte Loransya einen Fuß vor den anderen und konzentriert sich sehr darauf, nicht ins Wanken zu geraten. Unendlich lange kämpften sie sich nun schon den Berg hinab, aber noch immer war kein Ende der Treppe in Sicht.

Schwer atmend hielt das kleine Mädchen kurz inne, um einen kleinen Moment zu verschnaufen.

„Wann sind wir denn endlich am Brunnen?“, stieß sie atemlos zwischen den Zähnen hervor.

Jocelyn zuckte ungerührt mit den Schultern.

„473 Treppenstufen sollen es sein“, antwortete sie und ließ ihren Blick abschätzend nach oben wandern, „wir haben jetzt vielleicht die Hälfte geschafft!“

Damit nahm sie den Eimer wieder auf und stapfte unermüdlich Stufe für Stufe hinab durch die verwinkelten, steilen Gassen bis sich schließlich der Brunnen wie eine Oase in der Wüste vor ihnen auftat. Vor der Wasserstelle standen bereits vier andere Mädchen, die geduldig darauf warteten, endlich an die Reihe zu kommen, um Bottiche und Eimer befüllen zu können. Ein paar Meter weiter hatte sich eine Gruppe Frauen auf dem staubigen Boden niedergelassen und boten ihre Waren zum Verkauf an. Mangos, Hühner, Holzkohle, Muscheln – das Angebot war nicht nur bunt gemischt, sondern auch kaum gefragt. Nur eine Handvoll Käufer schlenderten über den Markt. Die Verkäuferinnen indessen vertrieben sich die Langeweile mit einem kleinen Schläfchen in der wärmenden Sonne. Endlich war die Wasserstelle frei für die beiden Mädchen. Jocelyn befüllte ihren Eimer routiniert mit Wasser, hievte ihn auf den Kopf und deutete Loransya, es ihr gleich zu tun. Sie war erstaunt darüber, welche Größe der Brunnen im Vergleich zu der bescheidenen Wasserstelle ihres Bergdorfes hatte, trotzdem war das Prinzip dasselbe. Pumpen, pumpen, pumpen! Erst als der Eimer bis kurz unter den Rand gefüllt war, zerrte ihn Loransya zur Seite. Doch so sehr sie sich auch anstrengte, es fehlte ihr die Kraft, um den schweren Eimer auf Kopfhöhe anzuheben. Hilfesuchend blickte sie umher. Zuhause in Virol half ihr immer Jean, aber hier konnte sie allenfalls auf Jocelyn setzen.

„Du stellst dich aber auch ungeschickt an“, schimpfte das ältere Mädchen.

Sie schnaufte entnervt durch, stellte aber dennoch ihren Wassereimer wieder zu Boden und wuchtete Loransya die Last auf den Kopf. Im ersten Augenblick geriet sie ins Straucheln und es fiel ihr schwer, die Balance zu finden, schließlich stand sie aber wieder sicher auf ihren Beinen. Ein Problem blieb trotzdem bestehen: Loransyas dünne Arme waren einfach noch zu kurz, um den Rand des Plastikeimers zu erreichen, sodass der Wasserbehälter nicht sehr sicher auf ihrem Kopf platziert war.

„Komm jetzt endlich!“, zischte Jocelyn mahnend und wohl wissend, dass sie sich jede Menge Ärger einhandelte, wenn sie ihrer Arbeit in der Hütte allzu lange fernblieb.

Ohne weiter auf Loransya zu warten, machte sie sich auf den beschwerlichen Weg. 473 Treppenstufen bergaufwärts lagen vor ihnen. Schon ohne Last wäre der Anstieg ein kräftezehrendes Unterfangen gewesen - wie anstrengend war es jedoch mit zehn Litern Wasser auf dem Kopf! Immer wieder geriet das kleine Mädchen ins Wanken und konnte den Behälter gerade noch halten. Trotzdem hatte sie einiges an Wasser verschüttet, ehe sie oben angekommen war. Jocelyn hetzte durch die Gassen wie ein gejagtes Tier. Ihre längeren Beine waren von deutlichem Vorteil, sodass Loransya erst an der Wellblechhütte der Familie angekommen war und schwer atmend gegen die Türe klopfte, als Jocelyn sich bereits nicht mehr in Sichtweite befand. Ihr Kommen wurde bereits erwartet: Das Familienoberhaupt riss im gleichen Augenblick die Türe auf und warf einen kontrollierenden Blick in den Wasserbehälter.

„Du verdammter Neger!“, tobte er ungehalten und nahm ihr den Eimer vom Kopf, um sie grob an den Haaren knapp über das Wasser zu drücken. Er holte tief Luft, was sich als untrügliches Zeichen dafür herausstellte, dass der Ausbruch noch nicht vorüber war. Loransyas Herz schlug ihr bis zum Hals und die Angst lähmte sie einen kurzen Augenblick.

„Denkst du, die Pfütze hier reicht? Denkst du das etwa, du dummes Ding?“

Das kleine Mädchen beeilte sich den Kopf unterwürfig zu schütteln und hoffte, dass das Gewitter schnell an ihr vorüberzog. Aber der Griff des Familienoberhaupts um den schmalen Nacken des Kindes wurde immer fester und Loransya hatte das untrügliche Gefühl, dass er in der Lage war, ihr das Genick mit bloßen Händen zu brechen.

„Du wirst deinen kleinen Arsch gleich noch mal zum Brunnen bewegen!“

Sie zitterte vor Angst und konnte die Tränen nicht mehr länger zurückhalten.

„Vorher werde ich dir aber noch eine Lektion erteilen, du verdammter Neger, die du so schnell nicht vergessen wirst!“, hörte sie den Mann wie durch einen Nebel brüllen.

Damit drückte er ihr den Kopf brutal in den Wassereimer. Loransya prustete und schlug wie wild mit Armen und Beinen um sich. Aber sie war zu schwach, um sich gegen seinen festen Griff zur Wehr zu setzen. Das panische Gezappel ihrer Gliedmaßen im Angesicht des Todes wurde bereits nach kurzer Zeit deutlich schwächer.

„Gott hat meine Bitte erhört, er kommt und holt mich zu sich!“, schoss es ihr noch durch den Kopf. Vor ihrem geistigen Auge zogen Bilder der Eltern und Geschwister vorbei, auch die Bambushütte in Virol sah sie ganz klar vor sich. Plötzlich wurde es dunkel um sie herum.

In der Ferne vor ihr nahm sie das unruhige, verschwommene Flackern eines grellen Lichts wahr.

„Vor mir muss das Paradies liegen“, redete sich das kleine Mädchen glückselig ein und war froh, dass vermeintlich alle Qualen und Leiden hinter ihr lagen.

Wenig später jedoch holte sie die grausame Realität wieder ein. Loransya musste widerwillig erkennen, dass es nicht das Strahlen der göttlichen Himmelspforte war, die sie erwartete, sondern die brennende Sonne, die zur Mittagszeit unbarmherzig über dem Armenviertel von Port-au-Prince glühte. Wie lange Loransya bewusstlos war, konnte sie nicht sagen. Als sie allmählich wieder zu sich kam, befand sie sich im Staub vor der Hütte, abgelegt im Schmutz wie ein Stück Unrat. Das Gesicht ihres Peinigers war direkt über sie gebeugt. Sie konnte seinen widerlichen, verfaulten Atem riechen und verspürte eine tiefe Abscheu gegen dieses Ekel. Das erste Mal in ihrem jungen Leben überfiel sie ein Gefühl inbrünstigen Hasses gerichtet gegen den Mann, der ihr schon nach wenigen Tagen in seiner Obhut das alles angetan hatte. Er lächelte schief, deutete auf den Eimer und verschwand im Inneren der Hütte. Loransya blieb erst einmal fassungslos im staubigen Dreck zurück. In Virol, ihrer Heimat, ging man sogar mit Tieren besser um! Vorsichtig zog das kleine Mädchen ihre Puppe aus der Tasche hervor und blickte sich um.

„Mama, hol mich zurück!“, flehte sie bitterlich. Ihr kleines Herz war schon nach ein paar Tagen bei der fremden Familie gebrochen. So einsam und verlassen konnte sie nicht länger leben, wie sollte sie nur all die Demütigungen und Qualen, die man ihr zufügte, überstehen?

„Mama, bitte, ich brauche dich!“

***

Die Geschäfte auf dem Markt liefen auch heute wieder nur sehr schleppend. Gegen Mittag hatte Marina Courtons lediglich drei Mangos an die Tochter des ortsansässigen Priesters verkaufen können. Alle anderen Früchte würde sie am Spätnachmittag wohl wieder quer über die Hügel der Sierra de Bahorucou nach Hause transportieren müssen.

Marina Courtons warf einen prüfenden Blick in ihre Schürzentasche. Die paar Gourdes reichten bei weitem nicht aus, ihre Familie zu ernähren - zumal die Lebensmittelpreise auf Haiti durch die hohe Inflation stark angestiegen waren. Sogar die Preise für Grundnahrungsmittel wie Reis oder Mais waren für eine arme Bauernfamilie wie die Courtons schier gar unerschwinglich hoch. Seufzend schob Marina Courtons das Geld wieder zurück in die Tasche und zog stattdessen die kleine Puppe ihrer Tochter hervor, die sie liebevoll streichelte und küsste.

„Wir hätten das Mädchen niemals satt bekommen, niemals!“, versuchte sie ihr zerrissenes Mutterherz wieder zu beruhigen.

Trotzdem wollte es Marina Courtons nicht gelingen, sich mit der Entscheidung ihres Mannes abzufinden. Sicherlich liebte sie die Jungen auch, aber ihre kleine Nachzüglerin hatte eben einen ganz besonderen Platz in ihrem Herzen eingenommen.

In der Ferne näherte sich der Bus der Haltestelle am Marktplatz, die einzige tägliche Verbindung, mit der man von hier aus durch die Berge Richtung Port-au-Prince fahren konnte. Marina Courtons dachte einen kurzen Augenblick daran, die Mangos einfach zurückzulassen und ihrem Impuls zu folgen, den Bus in die Hauptstadt zu nehmen, doch im selben Augenblick wurde ihr klar, dass dies eine folgenreiche Entscheidung wäre. Sie brauchte einen hieb-und stichfesten Vorwand, den ihr Mann und Söhne ohne weiters abnahmen, um ihre Tochter zu suchen. Zärtlich strich sie über die Puppe.

„Mein kleines Mädchen, ich komme dich zu holen, versprochen!“, wisperte sie mit glasigen Augen und steckte dann die Puppe zurück in ihre Tasche.

***

Taumelnd rappelte sich Loransya auf und klopfte den gröbsten Staub von ihrer Kleidung. Die brennenden, reißenden Schmerzen im gesamten Nackenbereich fühlten sich an wie tausend Nadelstichen. Seufzend nahm das kleine Mädchen den Eimer wieder hoch und machte sich erneut auf den langen, beschwerlichen Weg zur Wasserstelle. Die meisten Bewohner des Armenviertels saßen um die Mittagszeit vor ihren Hütten im Schatten und betäubten Elend und Armut, das sie tagtäglich umgab, mit einem Schluck Barbancourt, dem landestypischen Rum. Nur die Restáveks der Familien verrichteten ungeachtet der gleißenden Mittagshitze die beschwerlichen Arbeiten, die ihnen tagtäglich aufgebürdet wurden. Obwohl dem kleinen Mädchen schwindlig war, schleppte sich Loransya Meter für Meter weiter über den staubigen Weg. Die Sonne blendete ihr in den Augen und von ihrer Stirn tropfte der Schweiß.

„Weiter laufen, ein Fuß vor den anderen“, befahl sie sich streng.

Ihr kleiner Körper jedoch schien nicht mehr länger durchhalten zu können und sendete ihr bald so deutliche Signale, dass sie einen Moment verharren musste, um sich eine Weile an Ort und Stelle auf dem Boden niederzulassen. Direkt hinter ihr wühlten sich vom Dreck verschmutzte Schweine deren Färbung bereits pechschwarz war, zufrieden grunzend durch einen kniehohen Müllberg.

„Wenigstens die Schweine werden satt“, schoss es Loransya durch den Kopf.

Erst jetzt machte sich wieder der quälende Hunger bemerkbar und trieb das kleine Mädchen in ihrer Verzweiflung dazu, es den Schweinen gleich zu tun. Schließlich war es alles andere als sicher, ob und wann die Familie ihr etwas zu essen geben würde. Selbst der widerliche Gestank des Müllhaufens oder die merkwürdigen Blicke der vorbei eilenden Bewohner des Armenviertels konnten sie nicht mehr davon abhalten, in den Abfällen zu wühlen. Lebensmittelverpackungen, alte Batterien, abgenagte Hühnerkochen, Plastiktüten.

„Schweine sind intelligente Wesen!“

Diesen Spruch pflegte Loransyas Mutter stets zu sagen und die Redenswendung fiel ihr gerade jetzt auf der Suche nach etwas Essbarem wieder ein. Folgerichtig setzte sie ihre Jagd nach Nahrung inmitten der Schweine fort, die panisch grunzend auseinander stoben. Bereits der erste Griff erwies sich als ein voller Erfolg und Loransya zog eine Staude Bananen heraus. Sicherlich war das Obst nicht mehr knackfrisch, sondern die Schale von einer dunklen Färbung überzogen, die eigentlich darauf hindeutete, dass die Bananen verdorben waren. Dennoch: Der Hunger trieb das Mädchen dazu, beinahe alles zu essen, um das schmerzende Loch in ihrem Magen irgendwie zu stopfen. Gierig entfernte sie die Schale und schob sich den matschigen Bananenbrei in den Mund. Der eigenwillige Geschmack würgte sie etwas. Gleichwohl wirkte der Brei wie ein lindernder Balsam gegen die quälenden Magenschmerzen. Endlich fühlte sich Loransya gestärkt genug, um weiterlaufen zu können. Die vielen Menschen, die immer wieder ihren Weg säumten, schien sie gar nicht wahrzunehmen, zu sehr hing sie ihren eigenen Gedanken nach. Die Hoffnung heute endlich eine richtige Schule besuchen zu dürfen und all das zu lernen, was Grundlage ihres zukünftigen Berufslebens werden sollte, hatte sich bereits am frühen Morgen zerschlagen. Die Kinder der Familie waren schon unterwegs zur Schule gewesen, als Loransya von der Wasserstelle zurückkam. Die bittere Enttäuschung des Mädchens geriet durch den massiven körperlichen Angriff des Familienoberhaupts erstmal etwas ins Abseits, kehrte aber in demselben Augenblick wieder zurück, als sie allein den staubigen Weg entlanglief. Auf der anderen Straßenseite saßen zwei Jungen kichernd über ein Buch gebeugt. Zweifellos gehörten sie zu den wenigen Privilegierten Haitis, die lesen und schreiben konnten. Seufzend wandte Loransya ihren Blick ab und schloss mit sich das Abkommen, spätestens Morgen den Mut aufzubringen, bei der Familie ihren Schulbesuch zu erbitten. Zwischenzeitlich passierte Loransya das schmale Gässchen, das sich im Laufe der Jahre zur Heimat zahlloser Straßenkinder entwickelt hatte. Im Augenwinkel sah sie Kinder, die in einer kleinen Gruppe zusammen saßen und ihre Nasen über eine kleine Dose Kleber hielten und die giftigen Stoffe schnüffelten. Wie gefährlich das sein konnte, wusste sie von ihrem großen Bruder Jean, der immer großen Wert darauf gelegt hatte, seiner kleinen Schwester wesentliche Teile seines bescheidenen Wissens weiterzugeben. Wenn er auch über keine gute Allgemeinbildung verfügte und noch nie eine Schule besucht hatte, so hatte er doch einiges mehr im Kopf als so manch gebildeter Haitianer.

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