Kitabı oku: «Haiti – Teuflische Entscheidung», sayfa 3
Ohne Jocelyn an ihrer Seite fühlte sie sich in dieser Gegend sehr unwohl, sodass sie ihren Schritt deutlich beschleunigte und den Blick auf den Boden senkte. Das Ende der dunklen Gasse war schon in Sichtweite, als sich ein Junge vom Straßenrand erhob und ihr plötzlich den Weg verstellte. Er war etwa einen halben Kopf größer als Loransya und trug ungewöhnlich saubere Kleidung für die bitterarmen Verhältnisse, die ihm sein Schlafquartier auf dem Bürgersteig, nur von einer alten, zerlöcherten Plastikplane etwas geschützt, bot. Vollkommen verunsichert was er nur von ihr wollte, blieb sie zögerlich stehen.
Hallo, lächelte er ihr freundlich entgegen.
Hatte das Mädchen im ersten Augenblick einen Anflug von Angst verspürt, so schwand sie durch sein charmantes Lächeln dahin.
Hallo, gab Loransya zurück und deutete auf den Wassereimer.
Ich muss zum Brunnen!
Sofort zog er sein Bein zurück und folgte ihr auf dem Fuß.
Du siehst so aus, als könntest du Hilfe gebrauchen.
Sie war ehrlich überrascht darüber, dass man ihr ansah, wie schwer es ihr fiel, sich in dem Großstadtdschungel von Port-au-Prince zurecht zu finden und zuckte mit den Schultern. Ein derart freundliches Wort hatte sie seit ihrer Ankunft in der Fremde nicht mehr gehört und sie wusste im Moment auch gar nicht wie sie damit umgehen sollte, zumal sie sich ihrer selbst schämte, von ihrer Familie verstoßen worden zu sein. Ohne den Jungen länger zu beachten, stapfte sie weiter die Treppe hinunter.
Jetzt warte doch mal!
Sie hielt einen kurzen Moment inne und blieb schließlich auf den Stufen stehen, bis der Junge auf ihrer Höhe angekommen war.
Ich habe es verdammt eilig, verstehst du?, stieß sie barsch zwischen den Zähnen hervor und hastete weiter. Fast erschrak sie selbst über den harten Klang ihrer Stimme. Doch der Junge ließ sich nicht so einfach abschütteln und nahm mehrere Stufen gleichzeitig, um mit ihr Schritt zu halten.
Du bist nicht aus Port-au-Prince, stimmts?
Seine dunklen Augen strahlten ihr offen entgegen.
Nein, Virol, antworte Loransya knapp.
Wo liegt das denn? Verwundert zog er seine Augenbrauen nach oben.
Natürlich konnte sie es ihm nicht übel nehmen, dass er das kleine Bergdorf Virol inmitten der Sierra de Bahorucou mit seinen knapp einhundert Einwohnern nicht kannte, aber der spöttische Tonfall der Frage missfiel ihr.
Sierra de Bahorucou, und jetzt lass mich einfach meine Arbeit machen, okay?
Loransya funkelte den unbekannten Jungen so böse an, dass er entsetzt einen Schritt zurückwich. Die unzähligen Treppenstufen schienen nicht enden zu wollen, zumindest kam ihr der Weg unendlich lang vor.
Lass mich raten, er schien seine Fassung wieder gefunden zu haben, du bist als Réstavek hier in Port-au-Prince!
Und du als Straßenkind!, giftete sie wutschnaubend zurück und fragte sich, wer ihm wohl das Recht dazu gab, sich in ihr Leben einzumischen.
Zu ihrer Überraschung lachte der fremde Junge nur und nickte dann etwas nachdenklicher.
Ja, ich lebe auf der Straße! Aber angefangen hat alles wie bei dir!
Das Mädchen horchte gespannt auf. Endlich ein Leidensgenosse, der kein Problem damit zu haben schien, über seine Geschichte zu sprechen. Ganz anders als Jocelyn, über deren Lippen kein Wort über ihre persönliche Situation kommen wollte. Indessen waren die beiden an der Wasserstelle angekommen. Um die Mittagszeit wirkte der Marktplatz wie ausgestorben. Herrschte hier vor einer Stunde noch das rege Durcheinander der vielen Händlerinnen, die darum bemüht waren, den wenigen Kunden Holzkohle oder Süßkartoffeln zu verkaufen, so zeugte jetzt nur noch ihre Hinterlassenschaft von Unrat und Müll von dem vorangegangenen bunten Treiben. Während Loransya den Eimer voll Wasser pumpte und peinlich genau darauf achtete, auch keinen Tropfen zu wenig einzufüllen, musterte sie den Jungen unverhehlt. Natürlich war auch bei ihm die chronische Unterernährung deutlich ausgeprägt, aber der Blähbauch spiegelte den typischen Körperbau haitianischer Kinder wieder. Seine lockigen Haare umspielten die weichen Gesichtszüge. Heimlich bewunderte sie die Größe seiner dunklen, schönen Augen, die von unglaublich langen, vollen Wimpern umrandet waren.
Wie ist es dazu gekommen?, fragte sie schließlich und konnte sich nur mit Mühe von seinem Anblick losreißen, gerade vor das Wasser überlief.
Kameradschaftlich zwinkerte er und nahm ihr wie selbstverständlich den Eimer ab, den er routiniert auf seinen Kopf stellte.
Das ist eine verdammt lange Geschichte. Aber ich fürchte, soviel Zeit hast du nicht, gab er zurück und schwieg einen Moment nachdenklich.
Ich bin auch nicht aus Port-au-Prince, sagte er deutlich leiser, sondern aus Port-de-Paix, Nord-Ouest.
Augenblicklich schämte sich Loransya dafür, dass sie derart ungebildet war, dass sie nicht einmal sagen konnte, in welchem Bezirk Virol lag, geschweige denn eine ungefähre Ahnung davon hatte, in welcher Himmelsrichtung sich Nordwest befand.
Mein Name ist übrigens Bernard.
Loransya griff nach der Hand, die er ihr entgegenstreckte und drückte sie einen Augenblick.
Loransya!
Das kleine Mädchen erahnte mit beinahe beängstigender Gewissheit, dass sich ihre Wege nicht das letzte Mal gekreuzt hatten und es sich um eine schicksalhafte Begegnung zwischen den beiden handeln sollte. Natürlich äußerte sie diesen Gedanken nicht, sondern stapfte Bernard schweigend nach.
Wie bist du dann in die Hauptstadt gekommen?
Loransya konnte ihre Neugierde nicht mehr länger zurückhalten. Ganz im Gegensatz zu der Begegnung mit Jocelyn überkam sie bei Bernard merkwürdiger Weise ein vertrautes Gefühl, beinahe als wären sie Geschwister, obwohl sie sich doch erst seit wenigen Minuten kannten.
Bernard lachte bitter auf und warf ihr einen Blick aus den Augenwinkeln zu.
Ich bin vor einiger Zeit, wie lange das her ist, weiß ich nicht mehr, von einer Tante nach Port-au-Prince gebracht worden. Zu meiner neuen Familie!
Er stapfte energisch weiter. Loransya entging es aber nicht, wie sich seine Gesichtszüge schlagartig verfinsterten.
Leider ging es dem Hund der Familie besser als mir.
Bernard verzog sein Gesicht, die Erinnerung schien ihm qualvoll.
Schläge, nichts als Schläge, Beleidigungen und Demütigungen, seufzte er.
Loransya hing gebannt an seinen Lippen und hätte ihm gerne noch länger zugehört, doch mittlerweile waren sie wieder in der dunklen Gasse, die Bernard seit damals sein Zuhause nannte, angelangt. Die Unterhaltung wurde jäh unterbrochen, als ein beinahe erwachsener Junge freudig auf ihre neue Bekanntschaft zutrat.
Salut Bernard!, begrüßte er ihn beschwingt.
Es folgte eine lange, ausgeschmückte Gesichte über seinen Besuch bei der Familie in Cap-Haitien, von der er eben zurückgekehrt war.
Leider fehlte Loransya die Zeit nutzlos in der Gegend herumzustehen, zu sehr fürchtete sie eine drohende Bestrafung, falls sie sich verspäten sollte.
Ich muss weiter, Bernard!, verabschiedete sie sich freundlich und nahm den Wasserkübel in Empfang, den er ihr hilfsbereit auf den Kopf stellte.
Ich schätze, wir werden uns sehen!, flüsterte er. Du kennst doch zwischenzeitlich meinen Palast!
Er grinste breit und sah ihr nach, wie sie sich immer weiter entfernte, schließlich um die Ecke bog und dann ganz verschwunden war.
Seltsam leichtfüßig legte Loransya den Rest des Weges bis zur Hütte zurück. Das kurze Gespräch mit Bernard hatte sie sehr genossen. Zu lange war es für ihre empfindliche Seele nun schon her, dass sie wie ein Mensch behandelt worden war. Die Mutter der Familie saß auf einem kaputten Korbstuhl vor der Behausung und erwartete sie bereits ungeduldig, als sie von der Wasserstelle zurückkam. Der Boden um sie herum war von einem knöcheltiefen Haufen aus Bauschutt, Unrat und Müll bedeckt, der in der Mittagshitze bestialisch stank. Gelegentlich huschte eine Ratte vorüber. Wortlos zeigte ihr Loransya den Inhalt des Eimers, wartete auf ein zustimmendes Nicken der Frau und hievte den Wasservorrat zu der behelfsmäßig eingerichteten Waschgelegenheit in einer Ecke der Hütte.
Jocelyn ist da!, brüllte sie hinter dem Mädchen her. Die Wäsche muss gewaschen werden!
Erschrocken zuckte Loransya zusammen. Bereits der Klang ihrer Stimme genügte, um dem Mädchen Gänsehaut über den Körper zu jagen. Eingeschüchtert suchten ihre Augen den dunklen Raum nach der Wäsche ab, zu fragen wagte sie nicht. Vor dem Bett türmte sich ein Haufen Schmutzwäsche, daneben lag ein Baumwollsack. Hektisch warf sie die Kleidung in den Sack, schulterte ihn und beeilte sich vor die Hütte zu treten. Schwer atmend rappelte sich die Alte in die Höhe und humpelte auf ihren Stock gestützt auf Loransya zu.
Dummer Neger, zischte sie und starrte das Mädchen hasserfüllt an. Wie willst du ohne Kernseife die Flecken herausbekommen?
Das Blut stieg ihr pulsierend in den Kopf, als sie auf dem Absatz kehrt machte und nach drinnen verschwand.
Wo ist nur die Kernseife, verdammt, wo ist sie?, schoss es ihr bang durch den Kopf, als sie nervös jede Ecke der Hütte absuchte und gleichzeitig lauschte, ob sich ihre Schritte näherten. Sie war den Tränen schon nahe, als sie das dumpfe, aufschlagende Geräusch des Gehstocks hinter sich hörte.
In der Küche!
Mehr sagte sie nicht. Tatsächlich lag in dem einzigen Regal der Hütte die Reste eines abgenutzten, schmutzigen Stückchens Kernseife. Schnell griff sie danach, schulterte den Wäschesack und fühlte sich, als wäre eine dunkle, schwere Last von ihrer kindlichen Seele abgefallen, als sie endlich durch die Tür nach draußen in den strahlenden Sonnenschein trat.
Endlich! Jocelyn hatte ihre Stirn in tiefe Falten gelegt und schien auch jetzt nicht besonders glücklich darüber zu sein, dass ausgerechnet sie von ihren Alltagspflichten abgehalten wurde, um dem dummen Réstavek der Filles alles zu zeigen.
Ich habe keine Lust schon wieder wegen dir Ärger zu bekommen!, erboste sie sich und griff geladen nach ihrer Wäsche. Ab morgen musst du schon alleine zurecht kommen!
Dieser Satz fühlte sich an wie ein Schlag ins Gesicht. Eindeutiger hätte sie wohl nicht sagen können, dass ihr an einer Freundschaft mit dem Réstavek der Nachbarn nicht gelegen war. Enttäuscht und tieftraurig trottete Loransya ihr hinterher. Aus diesem Mädchen wurde sie nicht schlau. Sie trug überhaupt nichts Freundliches, Offenes in sich, sondern wirkte so verbissen wie ein altes, bösartiges Weib.
Schweigend liefen sie nebeneinander her bis hinunter ins Tal. Vor ihnen lag ein schmutziger Bachlauf. Unzählige Frauen und Kindern saßen bereits am Ufer, um die Wäsche der letzten Tage zu reinigen. Jocelyn suchte sich einen Platz neben zwei anderen Mädchen, ließ sich auf dem lehmigen Boden nieder und begann zu Loransyas Überraschung eine freundliche Plauderei mit den beiden. Ihr selbst aber war es unwohl. Die musternden, neugierigen Blicke lagen auf ihr; trotzdem machte sie sich sofort an die Arbeit. Die meisten Wäschestücke der Familie waren übersät von fettig-glänzenden Motorölflecken, die sich bereits tief in den Stoff hineingefressen hatten. Schwitzend bearbeitete Loransya nun schon seit einer Viertelstunde ein hellblaues Hemd. Das Stückchen Kernseife, das man ihr mitgegeben hatte, würde nicht ausreichen, um den Fleck zu beseitigen und der Wäschesack war auch noch prall gefüllt mit anderen Wäschestücken. Obwohl es nicht ihre Schuld war, dass es mangels Kernseife nicht zu schaffen war, alles rein und sauber zu waschen, so befürchtete Loransya doch Schläge. Verzweifelt setzte sie all ihre Hoffnung auf Jocelyn.
Ich habe zu wenig Kernseife mitbekommen. Kann ich ein wenig von dir abhaben?
Nur einen kurzen Moment unterbrach Jocelyn ihr Geschwätz mit den anderen Mädchen und schüttelte den Kopf entschieden.
Das ist doch wohl dein Problem!
Damit war das Gespräch für sie beendet und sie wandte sich wieder den anderen zu.
Eine erste Träne kullerte über Loransyas Wange. Das kleine Mädchen legte die Wäsche zur Seite und griff instinktiv nach ihrer Puppe, die sie hervorholte und sich schützend vor die Augen presste. Was würde sie nur dafür geben, endlich wieder bei ihrer Mutter in der kleinen, beschützten Welt von Virol sein zu dürfen!
Ach, wie niedlich! Die Kleine heult nach ihrer Mama!, hörte Loransya durch ihren Tränenschleier eines der Mädchen spotten, die mit Jocelyn befreundet waren.
Auch die beiden Anderen amüsierten sich prächtig und lästerten weiter, als wäre Loransya gar nicht erst anwesend.
Trotzig drückte Loransya ihre Puppe noch fester an sich. Wenn die Mädchen mit ihrer Arbeit zufrieden waren, war das schön. Doch sie wollte lernen, um ihre eigene Familie durch bezahlte Arbeit über Wasser zu halten.
Hey Kleine!, rief die Größte der Mädchen und kniete sich neben Loransya. Steck die Puppe weg oder noch besser: Werfe sie auf einen Müllberg!
Am liebsten hätte ihr Loransya die Augen ausgekratzt. Wie konnte sie es wagen, so von dem Einzigen und Liebsten, was ihr noch geblieben war, zu sprechen!
Angetrieben von dem höhnischen Lachen der anderen Mädchen schoss sie noch einen weiteren Giftpfeil ab.
Deine Eltern haben dich weggeben! Verstoßen! Sie wollen dich nicht! Kapierst du das nicht?, höhnte sie in einer Lautstärke weiter, die es beinahe allen Leuten, die sich am belebten Flussufer aufhielten, ermöglichte mitzuhören.
Loransya sprang auf, nahm ihre Puppe und rannte wie ein gehetztes Tier davon. Unterschlupf fand sie erst hinter einem kleinen Haus, das unweit des Bachlaufs gelegen war. Heulend bettelte sie verzweifelt nach ihrer Mutter und sank irgendwann bebend und zitternd auf die Knie.
Warum nur Mama? Lieber wäre ich in Virol verhungert, als das hier alles erleben zu müssen! Wann darf ich wieder zu dir?
Im nächsten Moment zuckte sie zusammen. Eine Hand hatte sich von hinten auf ihre Schulter gelegt. Erschrocken wandte sich das Mädchen um. Hinter ihr stand eine alte Frau, die sie verständnisvoll anlächelte und wortlos in ihre Arme zog.
Man wirft keine Steine auf unreife Mangos, flüsterte sie leise und Loransya verstand nicht genau, was sie damit sagen wollte. Trotzdem wirkte der Trost der alten Frau ungeheuer beruhigend auf sie. Langsam richtete sie sich auf und wischte die Tränen aus dem Gesicht.
Komm mit, du musst essen!
Damit zog die alte Frau Loransya hinter sich her in das Innere des Hauses. Staunend blickte sich das Mädchen um. Sie war noch nie in einem Haus gewesen, das aus richtigen Steinen gebaut worden war. Sogar die Einrichtung war geschmackvoll ausgewählt und an der Wand hingen selbst gemalte Bilder, die die Schönheit der karibischen Strände darstellten. Das Mädchen fühlte sich wie in einer anderen Welt und kam aus dem Staunen nicht mehr heraus. Statt einer Feuerstelle gab es hier sogar einen richtigen Ofen. Die Frau musste wohl unheimlich reich sein, das stand für Loransya fest. Ihr Blick blieb schließlich an einem Ölgemälde hängen, auf dem ein kleiner Junge abgebildet war, der an einem lang gezogenen Strandabschnitt glücklich im Sand buddelte.
Das war mein Sohn Olrich vor 20 Jahren.
Die alte Frau stockte einen kurzen Augenblick.
Leider lebt er nicht mehr. Sie atmete tief durch und fügte mit zittriger Stimme hinzu: Er ist kurz nach diesem Ausflug gestorben.
Voller Mitgefühl strich Loransya über die alte, faltige Hand, doch da fand die Frau ihre Fassung bereits wieder und lächelte tapfer.
Magst du Huhn in Orangensauce? Ich war gerade am Kochen, als ich dich weinen hörte.
Dankbar nickte das Mädchen und machte sich bereits wenig später über das leckere Essen her. Mitten unter dem Kauen hielt sie plötzlich wie vom Donner gerührt inne und sprang auf.
Meine Wäsche, oh Gott, ich habe die Wäsche am Fluss liegen lassen!, stotterte sie und wurde im selben Moment kreidebleich. In Haiti, einem bettelarmen Land, konnte man sein Hab und Gut doch keinen Moment aus den Augen lassen, ohne dass sich nicht irgendjemand fand, der es gebrauchen konnte.
Geh und hole die Wäsche einfach her, beruhigte sie die gutmütige Alte.
Ich komme sofort wieder!, schrie Loransya und rannte wie von der Tarantel gestochen die wenigen Meter bis zum Bachlauf. Noch immer saßen Jocelyn und die anderen Mädchen am Ufer und blickten überrascht von ihrer Arbeit auf, als sich Loransya näherte.
Du solltest wissen, dass es sich kein Réstavek leisten kann, seine Zeit mit sinnloser Heulerei zu vergeuden!, belehrte sie Jocelyn sofort, verstummte aber in dem Augenblick, als Loransya die Wäsche zusammen sammelte und wortlos wieder verschwand. Kopfschüttelnd blickten ihr die Mädchen hinterher. Das Réstavek aus den Bergen würde noch viel zu lernen haben, darüber waren sie sich einig!
Die alte Frau hatte ihr lächelnd hinterher gesehen und wartete an den Türrahmen gelehnt. Sie mochte das kleine Mädchen auf Anhieb, obwohl sie sich sonst nicht sonderlich viel aus dem Leid der Réstaveks und Straßenkindern machte, die es zu unzähligen in der Hauptstadt gab. Um in Haiti überleben zu können, musste man abstumpfen - der Prozess war bei ihr spätestens seit dem grausamen Tod ihres Jungen eingetreten. Trotzdem gefiel ihr die naive Art des Mädchens, das sie vor wenigen Minuten weinend vor ihrer Haustüre aufgefunden hatte, ihren ganzen Schmerz in die Welt hinauszubrüllen. Im Grunde verkörperte die kleine Loransya einen gefühlsmäßigen Vulkanausbruch. Eine Regung, die sie so gerne selbst in sich spüren wollte, auch wenn sie erkennen musste, dass es mit ihren 62 Jahren wohl zu spät dafür war, Zugang zu ihrer abgestumpften Seele zu finden.
Gib mir die Wäsche, ich kümmere mich darum!, lächelte sie und deutete auf den dampfenden Teller. In der Mitte des Raumes hatte sie bereits einen Waschzuber mit einer Kernseifenlauge befüllt. Dankbar nickte Loransya, obwohl sie es ein wenig beschämte, der alten Frau dabei zuzusehen wie sie mit geschickten Händen die Wäsche schrubbte, während sie selbst gemütlich am Tisch saß und sich das leckere Essen schmecken ließ.
Die alte Frau beobachtete sie und dachte bei sich, dass das Mädchen wohl schon lange nichts mehr zu essen bekommen hatte. Auch die prall gefüllten Brandblasen an den Händen des kleinen Gastes entgingen ihr nicht und das erste Mal seit sie in Port-au-Prince lebte fragte sie sich, wie viel Leid sich vor der eigenen Haustüre abspielte.
Was ist mit deinen Händen?
Loransya merkte wie ihr das Blut in den Kopf schoss.
Heißes Wasser, stotterte sie etwas verlegen und schob eine Gabel Hühnchen in den Mund.
Die alte Frau nickte nachdenklich, zog das letzte gewaschene Hemd aus dem Zuber und setzte sich neben Loransya.
Deine Familie?, flüsterte sie leise.
Tränen schossen dem Mädchen in die Augen, die sie versuchte zu verbergen, indem sie ihren Kopf etwas zur Seite trete.
Meine Familie lebt in den Bergen, stieß sie trotzig hervor.
Das ist mir durchaus klar, erwiderte die alte Frau, ich wollte damit auch sagen, die Familie, bei der du jetzt lebst.
Die vielen Jahren der Einsamkeit machen sich im zwischenmenschlichen Umgang bemerkbar, man wird immer sonderbarer, dachte sie im Stillen und erinnerte sich daran, dass sie in ihrem frühen Erwachsenenleben durchaus stolz darauf war, als einfühlsamer Mensch zu gelten.
Das kleine Mädchen holte eine etwas mitgenommene, schmutzige Puppe aus der Tasche hervor, die sie vor ihr auf den Tisch legte. Vorsichtig griff die alte Frau danach und erkannte sofort, welchen Wert das Püppchen für das Kind haben musste.
Das ist eine wunderschöne Puppe.
Loransya nickte traurig.
Denkst du, sie will auch gebadet werden?
Die alte Frau deutete mit dem Kinn auf den Wäschezuber, der noch immer mitten im Raum stand. Die Puppe sah nach den wenigen Tagen in der Hauptstadt wirklich schon ziemlich verdreckt aus. Loransya erinnerte sich daran, wie sie mit ihrer Mutter zuhause stets einen Tag vor Weihnachten die Puppe in einer alten Teigschüssel gebadet hatte.
Ja!
Die Augen des kleinen Mädchens leuchteten begeistert auf. Gemeinsam knieten sie sich vor den Zuber.
Da fällt mir ein: Ich habe etwas ganz Besonderes für die Haare deiner schönen Puppe!
Die alte Frau stand auf und ging zu einer Kommode, die neben dem Esstisch stand. Sie öffnete die oberste Schublade und holte ein kleines Fläschchen hervor.
Echtes Shampoo aus Amerika, flüsterte sie verschwörerisch und öffnete das Fläschchen, um Loransya daran riechen zu lassen. Ein wunderbar zarter Rosenduft entfaltete sich im Raum.
Ich gebe dir etwas auf die Hand, dann kannst du ihr die wunderschönen Haare waschen.
Wieder füllten sich die Augen des kleinen Mädchens mit Tränen - diesmal allerdings aus Dankbarkeit - denn sie war sich durchaus dessen bewusst, was für ein großes Opfer es für die alte Frau war, etwas von dem wertvollen Shampoo für ihre Puppe abzugeben.
***
Die Zeit war wie im Flug vergangen. Weder Loransya noch die alte Frau hatten bemerkt, wie lange sie schon zu Besuch in ihrem Haus war. Jetzt konnte das kleine Mädchen nur hoffen, dass der Familie ihr Fernbleiben noch nicht aufgefallen war.
Die Augen auf den Boden gesenkt klopfte sie wenig später verängstigt an die Tür der Wellblechhütte. Zu ihrer Überraschung öffnete der älteste Sohn Wilton. Der Rest der Familie war ausgeflogen. Sein musternder Blick lag lange und durchdringend auf ihr.
Es wird langsam Zeit, dass wir uns näher kennen lernen!
Damit griff er nach ihrer Hand und zog sie unsanft hinter sich her.
Setz dich!, befahl er.
Der Klang seiner Stimme ließ keinen Zweifel daran, dass er keinen Widerspruch duldete und es blieb ihr nichts anderes übrig, als sich neben ihm auf dem durchgesessenen Sofa niederzulassen.
Hattest du schon einen Mann?
Die Frage fand Loransya außerordentlich merkwürdig. Sie fragte sich, warum er sie dazu zwang, über Themen zu sprechen, die so beschämend und peinlich waren und für die sie die späteren Tage ihres zukünftigen Erwachsenenlebens reserviert hatte - soweit die Planung ihres Lebens überhaupt in ihren eigenen Händen lag.
Nein, antwortete sie leise und rutschte ein Stück weiter weg.
Das kleine Herz schlug ihr bis zum Hals, als der beinahe erwachsene Junge seine kräftige Hand auf ihr Knie legte. In Loransya schrillten alle Alarmglocken auf.
Ich muss Wasser holen!, stieß sie hervor und wollte aufstehen.
Du bleibst hier!, brüllte der Älteste der Familie, von dem Loransya glaubte zu wissen, dass er auf Namen Wilton hörte, und riss sie grob zurück.
Dem Mädchen drehte sich der Magen um, ihr war auf einmal speiübel.
Seine Hand strich jetzt immer fordernder ihre Oberschenkel entlang, die sie panisch zusammenkniff. Im Gesichtsausdruck des jungen Mannes lagen animalische Züge, die nicht verbergen konnten, was er im Schilde führte
Nein, bitte lass mich!
Unvermittelt schlug er ihr derart hart ins Gesicht, dass Loransya für einen Moment Sternchen sah. Diesen kurzen Augenblick nutzte er aus und machte sich an ihrem Slip zu schaffen, den er ihr grob vom Leib riss. Das Mädchen wagte nicht mehr zu widersprechen. Tränen rannen ihre Wangen hinunter und sie betete zu Gott, dass er endlich von ihr ablassen würde. Die Hoffnung zerschlug sich, als plötzlich ein stechender Schmerz ihren Unterleib durchzuckte und Wilton seine Finger gierig in ihre Körpermitte einführte.
Ich will das nicht! Hör auf!
Sie nahm noch einmal ihren ganzen Mut und all ihre Kraft zusammen und stieß ihn energisch von sich. Einen Augenblick lang war er etwas verwundert, dann aber wurde er sehr wütend, packte sie an den Haaren und versetzte ihr Fußtritte in Bauch und Oberkörper.
Du verdammte Hure, wir haben dich gekauft, la-pou-sa-a !
Heulend und schluchzend rollte sich Loransya zusammen und hoffte, dass sie ihren Peiniger wenigstens für den Moment losgeworden war. ´
Verdammt, warum beschützt ihr mich nicht vor diesem Monster?, dachte sie und verfluchte insgeheim die eigene Familie, der sie diese auswegslose Situation zu verdanken hatte, und die sie diesen brutalen Ungeheuern schutzlos ausgeliefert hatte. Wimmernd lag sie auf dem Boden. Die körperlichen Schmerzen der unzähligen Misshandlungen spürte sie schon fast nicht mehr, aber die seelischen Qualen waren kaum mehr auszuhalten.
Doch Wilton war noch lange nicht bereit dazu, von ihr abzulassen. Plötzlich schlang er ein dickes Tau um sie und schleifte sie wie ein Schlachtvieh hinter sich her zum Bett, wo er sie an Armen und Beinen am Bettgestell fesselte. Jetzt war sie ihm ausgeliefert, es gab keine Chance mehr vor ihm zu fliehen! Loransyas Herz schlug bis zum Hals und sie wünschte sich, doch endlich sterben zu dürfen und all das Leid und die Schmerzen hinter sich zu lassen. Mit schreckerfüllten Augen beobachtete sie den jungen Mann wie er sich vollständig vor ihr entblößte. Sein erigiertes Glied von erschreckender Größe ließ keinen Zweifel daran, was er nun mit ihr vorhatte. Nackt legte er sich neben Loransya auf das Bett und strich ihr über die noch nicht entwickelte Brust und weiter hinunter zwischen ihre Schenkel.
Bitte, lass mich gehen, ich bitte dich, flüsterte sie leise und hoffte inständig, dass er ihr Betteln erhören würde.
Mit spöttischem Gelächter quittierte der Sohn die Bitten des kleinen Mädchens und legte sich auf sie. Das Gewicht seines Körpers brach ihr beinahe die Rippen. Schweratmend schnappte Loransya nach Luft, schrie aber im nächsten Moment vor Schmerz auf, als er seinen Penis brutal und allem Widerstand zum Trotz in sie einführte. Jede seiner schnellen Stöße fühlte sich an, als würde jemand dem kleinen Mädchen einen Dolch in den Unterleib rammen.
Bitte, hör auf!, jammerte Loransya, bitte, lass mich gehen!
Wilton wollte nichts mehr hören, presste ihr die Hand fest auf den Mund und bewegte sich immer heftiger in ihr, bis er plötzlich stöhnend und schwitzend auf dem kleinen Körper seines Opfers zusammensackte. Einen kurzen Augenblick verharrte er so.
Nun kannst du Wasser holen gehen!
Damit sprang er auf, löste die Fesseln und zog sich T-Shirt und Hose über als wäre nichts geschehen. Loransya blieb benommen von dem Unrecht, das ihr gerade widerfahren war, liegen und starrte apathisch in den Raum. Sie fühlte sich leer und ausgebrannt. In ihrem Unterleib pochte es schmerzhaft. Sie spürte das warme Blut, das langsam und pulsierend über ihre Schenkel floss und sich als tiefroter Fleck in das helle Laken fraß.
Steh auf!, forderte Wilton grimmig und versetzte ihr einen kräftigen Tritt in den Oberschenkel. Daran wirst du dich wohl gewöhnen müssen!
Schwerfällig rappelte sich Loransya hoch und griff zitternd nach ihren auf dem Boden verstreuten Kleidungsstücken. Nur sehr mühsam gelang es ihr, in den Slip zu schlüpfen und das Kleid wieder überzuziehen. Sie hatte das dringende Bedürfnis sich zu waschen und all den Scham und Ekel von ihrem Körper zu schrubben. Also ging sie, um sich den Wasserbehälter zu holen, in den hinteren Teil der Hütte. Wilton stellte sich ihr in den Weg und packte sie mit beiden Händen am Hals.
Du wirst niemanden davon erzählen, drohte er ihr mit funkelnden Augen, Sonst werde ich dich auf dem Müllberg vergraben!
Loransya nickte nur, dachte aber bei sich, lieber auf dem Müllberg zu verwesen, als dieses Martyrium noch einmal über sich ergehen zu lassen.
Mit einem Mal wurde die Türe der Hütte schwungvoll geöffnet. Der Vater betrat den Raum und mit ihm zog ein erfrischender Luftzug durch die Behausung. In seinem Blick lag etwas Kummervolles - offenbar quälten ihn große Sorgen.
Der Hurrikane wird nicht mehr lange auf sich warten lassen!, brummte er in die unangenehme Stille hinein.
Wilton trat hinaus und beobachtete eine Weile die dunkle Wolkenwand, die sich über den Straßen von Port-au-Prince immer mehr aufbaute. Die Menschen hier hatten gelernt, dass sie die übermächtige Gewalt der Natur nicht beugen konnten und sich im Laufe der Zeit damit abgefunden, dass immer wieder ein tropischer Wirbelsturm gnadenlos über ihr Land fegte und eine Flut der Zerstörung und manchmal auch des Todes zurückließ. Bis jetzt allerdings gehörte die Familie Filles zu den wenigen, glücklichen Verschonten der Insel, die bis auf ein zerstörtes Dach, noch keine größeren Opfer zu beklagen hatten.
Die Regenzeit beginnt langsam, wir haben Anfang April!, urteilte Wilton und belächelte im Stillen die alljährlichen Sorgen, die den alten Herren quälten, sobald eine Wetterwand vom Meer her hochzog.
Bisher hatte Loransya der Unterhaltung zwischen Vater und Sohn schweigend beigewohnt, nun aber drängte es sie, die beklemmende Enge der Behausung zu verlassen.
Ich gehe dann Wasser holen, murmelte sie leise und griff nach dem Wasserbehälter.
Nirgendwo gehst du hin, stieß Raoul barsch hervor, Erst werden wir hier zu arbeiten haben, dann kannst du noch zum Markt laufen! Wir brauchen Vorräte!
Wilton lachte spöttisch auf, erntete aber von seinem Vater einen derart strengen Blick, dass er sofort wieder schwieg.
Wir müssen das Haus auf das Unwetter vorbereiten! Wilton, du kletterst auf das Dach und überprüfst, ob alles niet-und nagelfest ist! Und du, damit wandte er sich wieder an Loransya, wirst alles reinholen, was draußen noch rumsteht!
Das kleine Mädchen war ehrlich überrascht. In den wenigen Tagen, die sie hier bei der Familie Filles lebte, hatte keiner der Sprösslinge auch nur einen Finger im Haus krumm gemacht, sondern sich die Zeit mit Schule, Fernsehen und Kartenspielen vertrieben oder sich überlegt, wie sie ihr Réstavek am besten peinigen und erniedrigen könnten. Mit einem befriedigenden Lächeln auf den Lippen ging Loransya nach draußen und sammelte die wenigen Habseeligkeiten der Familie ein. Über die Staubpiste des Armenviertels wehte schon jetzt jede Menge unbrauchbarer Müll und die Plastikverpackungen tanzten im Sturm auf und ab. Der Wind hatte bereits ziemlich aufgefrischt, als Wilton dem Befehl seines Vaters gehorchte und auf das Dach der bescheidenen Hütte kletterte. Im Augenwinkel beobachtete das Mädchen jede Bewegung ihres Peinigers und wunderte sich noch darüber, wie unvorsichtig er auf dem Dach zu Werke ging. Doch bereits die nächste starke Windböe erfasste seinen Körper. Er geriet ins Straucheln und ruderte mit den Armen, doch gegen die Gewalt der Natur kam er nicht an. Unsanft stürzte er nach hinten um und prallte direkt vor Loransyas Füssen auf den Boden. Voller Genugtuung beobachtete sie erst das schmerzverzerrte Gesicht des jungen Mannes und dankte dann Gott, für die besondere Art der Gerechtigkeit, für die zweifellos seine höhere Macht zuständig war. Betont langsam wandte sie sich ab und schlenderte nach drinnen.