Kitabı oku: «Wie frei wir sind, ist unsere Sache», sayfa 6
4. Das Anerkennen eigener Urheberschaft eröffnet die Möglichkeit realer Erweiterung der personeigenen Freiheit
Das Bewusstsein, selbst der Urheber eigener Entscheidungen und Taten zu sein, ist eine wertvolle Einstellung zum eigenen Leben. Je stärker das Bewusstsein eigener Urheberschaft, desto deutlicher ist im allgemeinen auch in Entscheidungslagen das Bewusstsein der eigenen Freiheit, alle Handlungen zu tun, die der eigenen Person physisch möglich sind und auf die ihr Wollen sich richtet. Zu diesem Bewusstsein trägt die Unvoraussagbarkeit eigenen Entscheidens und Tuns, die bis zum Vollenden der Handlung besteht, nachdrücklich bei. Stellen wir uns diese Unvoraussagbarkeit und die damit verbundene Unabtretbarkeit unserer Wahl nur oft genug und deutlich genug vor Augen, so können wir eine Tendenz entwickeln, die Handlungs-Freiräume der eigenen Person in größerer Ausdehnung zu sehen. (Sie erstrecken sich meist viel weiter, als wir zu denken geneigt sind). Vor allem können wir eine Tendenz entwickeln, diese Freiräume durch bewusstes Tun auch tatsächlich zu nutzen, statt unser Handeln in den Bahnen einer gedankenlosen Routine dahinlaufen zu lassen. Je freier wir uns sehen, desto freier werden wir in der Wirklichkeit unseres Tuns. Das ist eine alte Erkenntnis, deren Wahrheitsgehalt jeder an sich selbst überprüfen kann. In größerem Maßstab lässt sie sich durch einen Blick auf diejenigen Phasen der europäischen Geschichte stützen, in denen ganze Generationen im Hochgefühl ihrer Freiheit Taten vollbrachten, an die andere Generationen nicht zu denken wagten. Die ersten Jahre der Französischen Revolution sind das sprechendste Beispiel hierfür, aber nur eines von vielen. Sehr eindrucksvoll stellt sich der reale Befreiungseffekt intensiven Freiheitsdenkens auch in den Künsten dar, speziell in der Kunst der Moderne: Künstler und Künstlergruppen, die bewusst das Sich-Befreien von den Zwängen des Herkommens anzielten, haben auf verschiedenen Gebieten mit Erfolg freiere Kunst geschaffen, freier, als man sie sich bis dahin auch nur vorstellen konnte. Nicht nur eine freiheitsorientierte Mentalität im Sinn des beherzten Ausgreifens auf den ganzen Raum eigener Handlungsmöglichkeiten wird durch das Bewusstsein eigener Urheberschaft gefördert. Auch für personeigene Freiheit im spezifischen Sinn der Übereinstimmung eigenen Für-richtig-Haltens und faktischen Tuns öffnet ein ausgeprägtes Freiheitsbewusstsein die Tür zu realer Freiheitserweiterung.
Nach getaner Tat stehen wir nicht mehr vor einer Mehrzahl von Alternativen, unter denen wir wählen müssen, sondern nur noch vor der einen, faktisch zustande gekommenen Handlung. Für sie gilt nicht die gleiche Erkenntnisbeschränkung, die vor ihrer Ausführung für uns bestand. Vielmehr können wir die Eigenschaften der Handlung, die wir getan haben, danach im Prinzip ähnlich gut erkennen wie ein äußerer Beobachter. Die folgenreiche Asymmetrie zwischen Beobachtersicht und Sicht des Handelnden, die vor der Handlung bestand, besteht nach dieser nicht mehr. Wir können dann auch Erkenntnisse eines eventuellen Beobachters über ursächliche Zusammenhänge, die zur Tat beitrugen, ohne epistemische Vorbehalte aufnehmen und auswerten. Wahl und Handlung sind geschehen; ihr Verlauf ist durch Informationen darüber nicht mehr beeinflussbar.
Nach fertiger Tat steht die Gewissheit, selbst gewählt zu haben, sehr klar der Tendenz entgegen, die Handlung von der eigenen Person wegzuschieben und anderen Instanzen anzulasten. Kandidaten für letztere sind oft Einflussgrößen wie Vererbung, die Eltern, die Jugendgeschichte, die eigene Lage zur Tatzeit usw. Neuerdings wird auch oft das eigene Gehirn zum einzigen Urheber erklärt. Dabei wird nicht berücksichtigt, dass Gehirn und Person eine bislang unverstandene Einheit bilden, aus der man schwerlich einen Teil abspalten und zum Täter erklären kann. Solches nachträgliche Wegschieben der Rechenschaftserwartung für ein geschehenes Tun, hin zu anderen Instanzen oder Einflüssen, ist in aller Regel eine Form von Selbstbetrug. Denn in der fraglichen Entscheidungslage waren wir selbst als ganzer Mensch das Wesen, aus dem unsere unabtretbare Wahl hervorging – gleichgültig, welche Einflüsse wir bei nachträglicher Analyse feststellen mögen. Schieben wir alles auf fremde Einflüsse, dann berauben wir uns eines unschätzbaren Vorteils, den das Anerkennen der eigenen Urheberschaft mit sich bringt: Bei den vielen Fehlern, auch moralisch tadelnswerten Handlungen, die wir im Lauf des Lebens begehen, ist das offene Eingeständnis, dass wir selbst sie begangen haben, der Türöffner für besser gelingendes Handeln in der Zukunft. Denn wenn wir einräumen, dass wir als ganze Person und nicht etwas längst Vergangenes, nicht unsere Erzieher, nicht äußere Impulse usw. die falsche Tat hervorbrachten, können wir uns die wichtige Frage stellen: Was in uns war es, das entscheidend zu der falschen Tat beitrug?
In der Rückschau, unbedrängt von den Wahrnehmungen und Affekten der Handlungssituation, können wir am besten sehen, wo wir einem Beweggrund oder Impuls nachgegeben haben, den wir bei distanzierter, beruhigter Überlegung nicht billigen können. Das heißt, wir können erkennen, wo wir im personeigenen Sinn bei der falschen Tat unfrei waren. Wir können versuchen, den relevanten Mangel unserer personeigenen Freiheit in rückblickender Selbstverständigung ausdrücklich zu benennen, ja zu diagnostizieren. Wir können ihn auf seine Ursachen hin befragen. Wir können schließlich versuchen, unser Leben künftig so zu führen, dass Taten der leider geschehenen Art möglichst nicht mehr vorkommen.
Indem wir nach einem schweren, aber eingesehenen und bewusst analysierten Fehler unser Leben anders führen, können wir uns als lebende Personen verändern. Es kann uns gelingen, die Gesamtheit unserer handlungsrelevanten Dispositionen so zu beeinflussen, dass wir in Zukunft dann, wenn wir versucht sind, in jenen Typ von Fehler zu verfallen, ihn gerade nicht begehen. Zur Gesamtheit unserer handlungsrelevanten Dispositionen gehört vor allem unser Wille, soweit er den Status solcher Dispositionen hat. Wenn wir nach einer Tat, die wir im Rückblick nicht billigen und lieber nicht getan hätten, uns im konkreten Lebensvollzug neu orientieren, nutzen wir eine einzigartige Möglichkeit unseres Personseins. Es ist die Möglichkeit zur absichtsvoll eingeleiteten, indirekten Neu-Orientierung unseres Willens.
Direkt, durch einen umweglosen Zugriff, der dem Zugriff auf unsere Körperglieder beim Handeln vergleichbar wäre, können wir unseren Willen nicht umformen. Wohl aber können wir uns über Handlungsweisen, die uns offen stehen, nachdenkend ins Bild setzen und sie bewerten. Dabei kann uns ein klarer, durch Argumente verdeutlichter Unterschied vor Augen treten zwischen Formen des Handelns, die wir für richtig halten sowie zu eigen haben möchten, und solchen, die wir für falsch halten und für das eigene Tun ablehnen.
Bei beruhigter Überlegung klar zu sehen, was unter Einbeziehen aller für uns erkennbaren Aspekte sich als das richtige Tun darstellt, kann dazu beitragen, dass sich unser dispositionaler Wille wie auch unser aktuelles Wollen in Richtung dieser Handlungsweise verändern. Ein solcher Einfluss gelingt nicht immer, aber er gelingt doch oft, wenn auch nie mit erkennbarer Notwendigkeit. Es widerfährt uns leider manchmal, dass wir unter Impulsdruck uns plötzlich mit einem unerwartet anders gerichteten Wollen finden, für das in diesem Augenblick auch scheinbar gute Gründe sprechen. Dann tun wir etwas, das wir nachträglich, wenn die bedrängende Situation vorbei ist, als falsch erkennen können und vielleicht bereuen. Das wiederum kann dazu führen, dass wir aufs Neue nachdenken und die Entstehung unseres Fehlverhaltens rückverfolgen. Wieder können wir dann zwei besonders wichtige Mittel indirekter Beeinflussung unseres Willens in Anschlag bringen. Diese Mittel sind das eigene Überlegen und, in langfristiger Perspektive, das dispositionsbildende eigene Handeln. Indem wir nach einem gravierenden Fehler unser Leben anders führen, das heißt, auch in kleinen Dingen unser Tun an einem neuen Handlungskonzept ausrichten, nehmen wir die Chance wahr, unsere Willensdisposition auf indirektem Weg zu ändern. Auch das kann misslingen, ebenso wie der Versuch, uns durch Überlegen zu einem neuen Wollen zu bringen. Aber im Ganzen bleibt der indirekte Weg, bei verschiedenen Möglichkeiten der Mittelwahl, der einzige, den wir gehen können. Über das enorme Gewicht des Überlegens wie des eigenen haltungsbildenden Handelns in Fragen personeigener Freiheit werden wir bald ausführlicher diskutieren.
III. Statt direkter Willensbestimmung: die Chance zur indirekten Willensorientierung
1. Der junge George Bernard Shaw
Erinnern wir uns an den Mann, der in einer öffentlichen Versammlung aufsteht, seine Stimme erhebt und zu seiner eigenen Überraschung einen Redebeitrag zustande bringt. Ähnlich, nur weniger erfolgreich, erging es dem jungen George Bernard Shaw. Es war ein markantes Ereignis in der Geschichte seiner personeigenen Freiheit. Er berichtet in Sixteen Self Sketches, wie er zum ersten Mal in eine der damals verbreiteten Debattiergesellschaften ging, und was dann folgte. »Ich wusste nichts über öffentliche Versammlungen oder ihre Regeln. Ich hatte ein selbstbewusstes Auftreten, war aber in Wirklichkeit unzweifelhaft ein Feigling, nervös und jämmerlich verlegen. Aber ich konnte mich nicht zurückhalten. Ich stand auf und sagte etwas in der Debatte. Dann, fühlend, dass ich mich lächerlich gemacht hatte, was in der Tat so war, schämte ich mich so sehr, dass ich gelobte, in die Gesellschaft einzutreten, jede Woche hinzugehen, in jeder Debatte zu sprechen, und ein Redner zu werden oder bei dem Versuch unterzugehen. Ich führte diesen Entschluss aus. Ich durchlitt Höllenqualen, die niemand vermutete. Während der Rede des Teilnehmers, nach dem zu sprechen ich beschlossen hatte, pflegte mein Herz so schmerzhaft zu schlagen wie das eines Rekruten, der zum ersten Mal ins Feuer kommt. Aufzeichnungen konnte ich nicht verwenden: Wenn ich auf das Papier in meiner Hand sah, konnte ich mich nicht so weit zusammennehmen, dass ich auch nur ein Wort zu entziffern fähig war. Und von den vier oder fünf Punkten, die mein Vorwand für diese grausige Übung waren, vergaß ich ausnahmslos die besten.«
Von nun an nahm Shaw möglichst viele Gelegenheiten zu öffentlicher Rede wahr, auch die lächerlichsten und absurdesten. »Ich verfolgte meine Absicht starrköpfig. Ich ging zu allen Zusammenkünften in London, wo Vorträge mit Diskussion stattfanden. Ich sprach auf den Straßen, in den Parks, auf Demonstrationen, wo auch immer es möglich war. Kurz: Ich drängte mich zu öffentlichen Versammlungen wie ein mit Feigheit geschlagener Offizier, der jede Gelegenheit wahrnimmt, ins Feuer zu kommen, um seine Feigheit zu überwinden und seinen Beruf zu lernen.«1 Der weitere Gang der Dinge ist bekannt: Im Lauf der Folgejahre wird Shaw aus dem jungen Mann, der sich als beschämend feige beschreibt und dessen Hände beim öffentlichen Sprechen unbeherrschbar zittern, zu einem der brillantesten Redner seiner Epoche.
Das Wesentliche, worüber Shaw berichtet, ist das schrittweise Sich-Befreien von einer bestimmten Furcht, der Furcht vor öffentlichem Sprechen. Er selbst deutet diese Furcht als Feigheit. Immerhin gelingt es ihm, wenigstens das Wort zu ergreifen, wenn auch unter Höllenqualen. Der junge Shaw möchte frei werden gegenüber dem Impuls zum Passivbleiben, dem Impuls, sich der Qual des Sprechens und Händezitterns gerade nicht auszusetzen und lieber zu schweigen. So verhalten sich viele Personen, wenn sie in Gegenwart zahlreicher anderer hören, wie eine Ansicht die Oberhand gewinnt, gegen die sie nach eigenem Urteil aufstehen und Protest einlegen müssten. Der Impuls zum Passivbleiben in Situationen, in denen man selbst erkennt, man müsse jetzt definitiv seine Stimme erheben, kann geradezu der »Impuls der zivilen Feigheit« heißen. Sich trotz gegenläufiger Erkenntnis nicht zum Wort zu melden, ist dann der Sieg dieses Impulses und eine Niederlage der personeigenen Freiheit. Dem Impuls der Feigheit tritt in Shaws Bericht nicht nur der junge Autor trotz jämmerlichen Zitterns entgegen, sondern auch der metaphorisch erwähnte Offizier. Er erkennt sich als feige und versucht systematisch, in reale Gefechte zu kommen, um von dieser Feigheit frei zu werden.
Shaws Entwicklung ist ein Beispiel indirekter Einflussnahme auf den eigenen Willen statt direkter Willensbestimmung, weil er nicht mit einem Schlag wie durch Umlegen eines inneren Hebels von seiner Feigheit frei wird. Vielmehr muss er in vielen kleinen Etappen vorgehen, das heißt, er muss viele Versammlungen besuchen, in denen er dann seinen Impuls zum Vermeiden der »Höllenqualen« jedes Mal überwindet, sich zum Wort meldet und spricht. Schließlich, nach einer längeren Geschichte der Selbstbefreiung durch vielfach wiederholtes Handeln in der für nötig gehaltenen Weise, ist sein dispositionaler Wille ein anderer geworden. Die indirekte Neuorientierung in Richtung einer anderen, relativ stabilen Willensdisposition ist gelungen. Wir wissen aus Shaws Biographie, dass er dann wie selbstverständlich in Debatten eingreift, ohne »Höllenqualen«, Händezittern und ständiges Vergessen wichtiger Punkte. Vielmehr spricht er konzentriert, wohlgeordnet, oft sehr witzig, ohne Aufzeichnungen. Schließlich hält er regelmäßig eigene längere Vorträge, fast immer in freier Rede ohne Manuskript.
Der Versuch der Willensbeeinflussung ist in aller Regel zugleich ein Versuch der Emotionsbeeinflussung. Für Shaw ist nach seinem Text überdeutlich, dass die zu erwerbende Willenshaltung mit einer neuen Emotionshaltung einhergehen soll, nämlich dem Freisein von der Furcht. Was der Autor als Feigheit und jämmerliche Verlegenheit beschreibt, sind Züge einer emotionalen Verfassung, die er loswerden und gegen ruhiges Selbstvertrauen eintauschen möchte. Schon die Antike wusste, dass Einflussnehmen auf die eigenen Handlungsneigungen am besten gelingt, wenn es mit einer Umorientierung eigener Emotionen zusammengeht. Sowohl das Erwerben neuer Willenshaltungen als auch das Stabilisieren der Handlungsweisen, die ihnen entsprechen, vollzieht sich leichter, wenn auch etwas wie Freude oder Spaß beteiligt sind. Die Freude an einem Tun, das die Person als richtig erkennt, und der Ärger über eigene nicht gebilligte Taten sind handlungsrelevante Faktoren von großem Gewicht. Wir werden bald am Beispiel des Aristoteles die markante Ausprägung einer antiken Vorstellung effizienter Einflussnahme auf eigene Emotionen und Handlungsweisen kennenlernen.
Ein emotionales Element, das den Versuch zum Analysieren eigener Fehlhaltungen und den Beginn konkreten Handelns in Richtung auf Veränderung oft auslöst, wird von Shaw ausdrücklich genannt: die Scham. Sie ist es, die uns besonders oft dazu bringt, uns auf begangene Fehler oder Untaten nachdenkend zurückzuwenden und zu fragen, wie es dazu kommen konnte. Wir können bei einem solchen Versuch zunächst unsere damaligen Gründe besser sehen und verstehen als in der Hitze der Handlungssituation. Mit dem Nachdenken über Gründe vergangenen Tuns können wir beginnen, eine neue Konstellation von Gründen zu formen. Das ist, wenn die neue Konstellation zu einer neuen realen Handlungsorientierung wird, ein Stück kognitiver Willensbeeinflussung in Richtung auf besseres tätiges Leben in der Zukunft. Zugleich können wir mit der Scham eigene Persönlichkeitszüge, wie Shaw sie beschreibt, in diesem Fall »Feigheit«, Nervosität, Irritierbarkeit, Verlegenheit, erkennend vor unsere Aufmerksamkeit bringen. Wie der Wille, so lassen sich auch diese Persönlichkeitszüge nicht durch einen inneren Schalthebel direkt verändern. Sie verschwinden auch nicht dadurch, dass wir sie nur erkennen. Das Erkennen kann jedoch, wie bei Shaw, systematisch wiederholtes Handeln im Sinn der Veränderung eigener Handlungsdispositionen auslösen. Das ist eigenes Tätigsein als Versuch zur Willens-Neuorientierung, wie auch zur Einflussnahme auf eigene Emotionen.
2. Indirekte Willensorientierung statt direkter Willensbestimmung: unvermeidliche Ungewissheit, emotionale Zutaten, und Glück
Bei den Emotionen leuchtet der Verzicht auf den Gedanken direkter Bestimmung unmittelbar ein. Denn es ist allgemein anerkannt, dass wir über unsere Emotionen nicht durch inneren Befehl verfügen. Es ist auch anerkannt, dass, wenn wir überhaupt Einfluss auf unsere Emotionen nehmen können, dieser Einfluss auf indirektem Weg stattfindet und mit der Ungewissheit über den Erfolg geschlagen ist. Wie kam es, dass viele Philosophen in der langen Geschichte dieses Faches so einseitig auf das Phantom einer direkten Willens-Bestimmung starrten, statt sich der indirekten Wege zu besinnen, auf die wir faktisch angewiesen sind? Die Ursachen für diese Fehlentwicklung sind gewiss vielfältig, aber ein prominenter ursächlicher Faktor lässt sich nach dem, was wir bisher besprochen haben, immerhin vermuten. Es ist das Empfinden eigenen Aktivseins beim Übergang von einer neutralen Einstellung gegenüber einer Handlungsmöglichkeit zu dem Entschluss, diese Möglichkeit zu ergreifen und die Handlung auszuführen. Wir haben dieses Empfinden als »Aktivitätsfärbung« beschrieben. Emotionen hingegen kommen typischer Weise ungerufen und werden von uns eher passiv erlebt. Bei dieser Verschiedenheit der Erlebnisweise kann man verstehen, dass Philosophen bis heute vielfach an ein direktes, aktives Bestimmen unseres Willens glauben, während das für Emotionen nicht gilt. Für sie ist weithin akzeptiert, dass wir allenfalls versuchen können, sie auf Umwegen und durch indirekte Mittel zu beeinflussen.
Sehen wir uns Shaws Geschichte etwas näher an, so stellt sie sich folgendermaßen dar: Nach dem Erleben von Furcht, Zittern, Zerstreutheit, Scham und Enttäuschung bei seinem ersten Auftritt bildet sich das aktuelle Wollen, solche Zustände bei öffentlicher Rede für die Zukunft zurückzudrängen und ein Redner zu werden. Der junge Mann ist hinreichend klug und im Umgang mit dem eigenen Willen schon hinreichend erfahren, um zu wissen, dass es dazu vielfacher Übung bedarf, die sich voraussichtlich über lange Zeit und viele einzelne Auftritte erstreckt. Auf der Basis dieses Wissens und jenes aktuellen Wollens formt sich der Entschluss, alle Gelegenheiten zu öffentlicher Rede wahrzunehmen, bis das Ziel, ein Redner zu werden, erreicht ist. Der Entschluss richtet sich faktisch, wenn auch für Shaw nicht in solchen Worten, auf eine schrittweise Veränderung seiner emotionalen Dispositionen und seines dispositionalen Willens. Auf beides kann Shaw nicht direkt zugreifen, es bleibt ihm nur der indirekte Einfluss. Und diesen Einfluss durch vielfaches konkretes Handeln auszuüben, ist der junge Mann entschlossen. Diesen Entschluss realisiert er und gelangt über Jahre hin zum Erfolg. Seine Willensdisposition formt sich schließlich so, dass er selbstverständlich das Wort ergreift, wo er es nötig findet, und gut überlegte Diskussionsbeiträge zustande bringt, bis hin zu viel beachteten politischen Reden. Ein dramatischer Zuwachs an emotionaler Sicherheit und personeigener Freiheit in Angelegenheiten öffentlicher Rede ist eingetreten.
Freilich kann er zum Zeitpunkt jenes frühen Entschlusses keineswegs wissen, ob er ihn über die lange Zeit, die es hier braucht, wirklich ausführen wird. Im Prinzip könnte es ihm ähnlich gehen wie Balaschow, nur in vielfacher Wiederholung. Es könnte ihm widerfahren, dass er regelmäßig in seine Debattiergesellschaft geht oder andere Gelegenheiten zu öffentlicher Rede sucht, sich aber dann, wenn er sich zum Wort melden müsste, in der Mehrzahl der Fälle anders entscheidet. Dies könnte geschehen, weil jedes Mal bei solchem Abweichen von der selbst entworfenen Linie irgendetwas, vielleicht ein »verworrenes Gefühl« à la Balaschow, dazu beiträgt, dass sein aktuelles, jetzt und hier handlungsführendes Wollen anders ausfällt als mit dem ursprünglichen Entschluss erhofft. Bei diesen Gelegenheiten würde der junge Mann still sitzen bleiben und das Wort nicht ergreifen, danach vielleicht von beißender Scham überfallen werden. Für sein Versagen könnte er auch oft einen rechtfertigenden Grund finden. Nur würde dieser Grund sich bei ruhiger Prüfung als typischer, unter unklaren kurzfristigen Einflüssen gebildeter Vorwand erweisen, als Teil eines momentanen Selbstbetrugs. Denken wir nicht an Shaw, sondern an viele andere Personen, die ihre für die Zukunft gefassten Entschlüsse nicht auszuführen imstande sind, dann kann uns dieses Bild sehr bekannt vorkommen. Es ist das geläufige Bild personeigener Unfreiheit.
Von Shaw dürfen wir im Rückblick – und darf er ebenfalls rückblickend – sagen, dass bei seinem Erfolg auch Glück beteiligt war. Er hatte die bona fortuna, mit guten Bedingungen an den Start gegangen zu sein, Bedingungen, die wenigstens zum Teil in der Frustrationstoleranz und Hartnäckigkeit seiner Person lagen. Er hat diese guten Bedingungen auch nicht auf seinem langen Weg verloren. Zum fraglichen Zeitpunkt, bei seinem ersten, kläglich endenden Auftritt, konnte er jene Bedingungen keineswegs genau kennen. Aber sie dürften durchaus zum Erfolg seines Unternehmens beigetragen haben. Dies Unternehmen war in der Sache ein wenig waghalsig: Der Entschluss, ein Redner zu werden, war wesentlich schwerer durchzuführen als etwa der Entschluss, ein Hochschulstudium zu absolvieren. Denn es gab für Shaw keine Anleitung, keine Vorlesungen und Seminare kundiger Lehrer, die bereit standen, um ihm Tipps zu geben, ihm Rückmeldung zu liefern, ihn bei Fehlern zu korrigieren und vor weiteren Fehlern zu warnen. Er war ganz auf sich allein gestellt. Trotzdem führte er seinen Plan überraschend konsequent durch und hatte dabei einen überraschend großen Erfolg.
Es zeigt sich daran, was wir bei gegebener Unerkennbarkeit der ganzen Bedingungsvielfalt und der ganzen Menge von Einflüssen, denen wir als Menschen unterliegen, eigentlich schon immer wissen mussten: Wie weit wir tatsächlich kommen werden beim Versuch, unsere personeigene Freiheit zu erweitern, können wir nicht im Voraus sagen. Das ist ein segensreicher Umstand, wie im Allgemeinen unser Nichtwissen über die Zukunft. Wir werden Sartres ermutigende These kennenlernen, dass wir zumindest immer fähig sind, uns gegen unsere Grenzen zu werfen. Wir sind zumindest immer frei, den Versuch zum Ausdehnen unserer personeigenen Freiheit zu unternehmen. So viel gewährt uns die triviale Freiheit des Handelns, die wir unter Normalbedingungen uns immer zuschreiben können und müssen. Nur wenn wir unter manifestem, klar erkennbarem, unüberwindlichem Zwang stehen (David Hume gleichnishaft: nur wenn wir in Fesseln liegen) oder manifeste, sicher erkennbare, unüberwindliche Hindernisse vor uns sehen, besitzen wir die Freiheit des Handelns nicht. Aber dann stehen wir auch nicht unter normalen Bedingungen alltäglichen Lebens.
Was Shaw nicht erwähnt, ist, dass mit dem schrittweisen Abbau der Unfreiheit, die sich in »Feigheit« und »Höllenqualen« äußerte, sich schrittweise auch ein gewisser Spaß am Sprechen in der Öffentlichkeit und Freude über das Gelingen entwickelt haben dürften. Das Zurücktreten der Furcht, das Nachlassen des beschämenden Zitterns, die zunehmende Sicherheit der Konzentration, das Gefühl von Erleichterung und Triumph nach gelungenen Auftritten werden wohl auch zu einer emotionalen Verschiebung geführt haben. Frühes emotionales Zurückschrecken vor der Situation des Auftritts dürfte sich zunächst abgeschwächt und später auch einer Lust am öffentlichen Sprechen Platz gemacht haben, und am Ausschöpfen des eigenen, neuen Freiheitsraums. Wieder werden wir an die antike Philosophie erinnert, der die Macht unserer emotionalen Regungen besser geläufig war als der heutigen. Leider hat in manchen Teilen der neueren Philosophiegeschichte die richtige Vorstellung des Menschen als rationales Wesen die falsche Vorstellung begünstigt, der Mensch sei nur ein rationales Wesen.
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