Kitabı oku: «Elfenzeit 4: Eislava», sayfa 4
»Wirklich ein süßes Kerlchen«, erklang Bandorchus Stimme. »Vielleicht ist er eine nette Abwechslung. Pflege ihn gesund, und vielleicht kannst du ihm ein paar Kunststückchen beibringen, die mich erfreuen.«
Blinzelnd sah Ainfar zu seiner Herrscherin, die als riesige weiße Äthergestalt über ihm aufragte. Sie sah auf ihn herunter, und die von Erschöpfung gezeichneten Züge wurden auf einmal weicher. Sie hob eine Hand, und die schlanken Finger näherten sich ihm.
Sie sieht mich an … sie mag mich …
Ainfar reckte seinen Rücken hoch, der Hand der Königin entgegen.
5.
Die Farbe der Nacht
»Zehn Tafeln Schokolade, fünf Pralinenmischungen, zwei Tüten Trüffelpralinen und zehn Tüten Chips – das macht zusammen 828 Kronen. Mir scheint, ihr bekommt Gäste!« Lächelnd sah die junge Kassiererin auf und pustete sich eine rotblonde Haarsträhne aus dem Gesicht.
Rian erwiderte ihr Lächeln und schüttelte den Kopf, während sie ihre Handtasche öffnete. »Das ist nur für mich und meinen Bruder. Na ja, die Chips sind für ihn. Der Rest ist für mich.«
»Beneidenswert.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Ich würde bei solchen Naschereien aufgehen wie Hefeteig …« Mit den Händen deutete sie über ihrem weißen Arbeitskittel an, was sie meinte.
»Das Problem wird die junge Dame hier nicht haben«, sagte der weißhaarige ältere Mann, der hinter Rian an der Kasse des kleinen Dorf-Supermarktes wartete. Seine Stimme hatte erstaunlich wenig von der üblichen Brüchigkeit des Alters. »Siehst du nicht, dass sie eine Andersweltliche ist?«
»Lass mal, Mats.« Die Frau winkte lachend ab. »Nicht jede schöne Frau ist gleich von drüben!«
»Die hier ist es«, wiederholte der Mann im Brustton der Überzeugung, und sein Lächeln ließ seine blauen Augen hell in dem von gutmütigen Falten gezeichneten Gesicht aufstrahlen. »Warte nur, Linda, du lernst auch noch, die Zeichen zu erkennen.«
Die Kassiererin zwinkerte dem alten Mats zu und wies dann abwehrend auf das Schild über ihrer Kasse, als Rian ihr Geldscheine reichen wollte.
»Kortkassa, nur Karte! – Also, Mats, wenn ich dafür so alt werden muss wie du … dann soll es mir recht sein! Du musst mir gelegentlich einmal erklären, ob du da drüben auch einen Jungbrunnen kennst, so gut wie du dich hältst.«
»Der einzige Jungbrunnen, den ich brauche, sind frische Luft, Bewegung und meine Sauna.«
Rian zog eine goldene Kreditkarte aus ihrem paillettenbesetzten Portemonnaie. »Entschuldigung, ich bin noch nicht so sehr damit vertraut, dass man in Schweden kaum noch mit Bargeld zahlt.«
»Ja, oder mit dem Handy …«
»Das erinnert mich an etwas«, murmelte Rian. Darum hatte sie sich gleich nach der Rückkehr in die Menschenwelt kümmern wollen. Dann musste sie eben einen weiteren Laden aufsuchen, in dem es Prepaid-Handys gab, um hier nicht noch mehr als bereits geschehen aufzufallen.
Linda gab ihr die Karte zurück, nachdem Rian die PIN eingegeben hatte. »Bleibt ihr länger hier, du und dein Bruder?« Immerhin war das Du weiterhin gang und gäbe in Schweden.
»Nein, wir sind nur auf der Durchreise«, antwortete Rian, während sie eine der Pralinentüten öffnete und den obersten Nougattrüffel herausfischte. »Unser Boot liegt ein Stück den Fluss runter an einem Anlegesteg.«
»Falls ihr über Nacht bleibt, solltet ihr euch ein paar von Mats’ Geschichten anhören. Er sitzt jeden Abend unten im Röda Thor, und da gibt es die einzigen Gästezimmer im Dorf. Bist du heute Abend da, Mats?«
»Heute ganz bestimmt, insbesondere wenn dieser bezaubernde Gast bleiben sollte. Allerdings fürchte ich, dass keine meiner Geschichten sie sonderlich beeindrucken könnte, denn für sie sind sie nichts als das normale Leben.«
»Oh, ich höre gern Geschichten, egal worüber«, entgegnete Rian. Selbst die von Alberich. »Und ich denke, wir werden diese Nacht hierbleiben.«
»Prima.« Mats hielt Linda seine Zeitschrift zum scannen hin. »Dann freue ich mich auf heute Abend. Willkommen in Svanby!«
»… und als sie die Blumen an seinem Mantel gesehen hat, da hat die Frau aufgestampft und geschrien: ›Tibast und Vandelrot sind unsrer Liebe Tod!‹ – Dass sie immer nur in Reimen gesprochen hat, hätte Großvater ja schon früher misstrauisch machen müssen, aber ihr wisst ja, wie Männer sind, wenn sie eine schöne Frau sehen …«
Leises Lachen klang auf, vor allem von der weiblichen Zuhörerschaft. Mats grinste und fuhr mit seiner sonoren Stimme fort: »Jedenfalls hat sie sich von ihm weggedreht, und da hat er sie zum ersten Mal von hinten gesehen – ja, damals ist man beim Liebesspiel noch nicht so vielseitig gewesen wie heute, die kannten noch kein Kamasutra! –, und da war sie doch tatsächlich hohl wie eine Backform! Wenn ihr so was von euren Frauen behaupten würdet, dann würden sie euch die Rüben einhauen, und mit Recht, aber bei dieser hier, da war es wahr wie die Tagesnachrichten, denn sie war in Wirklichkeit eine Skogsra. Da war ihr Geheimnis gelüftet, und vom Geruch der Blumen vertrieben hat sie sich dann, puff, in Luft aufgelöst.« Der Erzähler unterstrich die Wortmalerei mit einer Geste.
»Jetzt war es also vorbei mit den lustigen Nächten. Aber Großvater war’s grad recht, denn wie es ihm ergangen war, das wissen nur die von euch, die von ihren Frauen gezwungen werden, jeden Abend Viagra zu nehmen. Aber so was braucht ja keiner von euch, oder?«
Mats zwinkerte, und Gelächter und Beifall brandeten auf. Rian klatschte ebenfalls und sie lächelte dem alten Mann zu, der auf so amüsante Art Geschichten erzählte, die Rian durchaus wahrscheinlich vorkamen, den anderen hier aber als reine Erfindungen erschienen. Sie prägte sich die Namen der Wesen ein, die er nannte – die Skogsra aus dem Wald, die Sjöra der Flüsse, und natürlich die allgegenwärtigen Trolle, die in diesen Geschichten in allen Größen, Formen und Gesinnungen vorzukommen schienen. Die Wesen des Nordens waren allgemein scheuer als die anderer Regionen, und so hatte Rian kaum einmal jemanden von dort zu Gesicht bekommen, und früher hatte sie auch keine Veranlassung gesehen, sich allzu genau über sie zu informieren. Meist reichte es zu fragen, wenn man das Wissen brauchte – so wie jetzt.
Rian sah sich um, während sie darauf wartete, dass sich der Kreis auflöste, der sich um Mats’ bequemen Sessel am Kamin gebildet hatte. Die Holzverklinkerung der Außenfront des Röda Thor war zwar vor kurzem neu in kräftigem bordeauxrot mit weiß abgesetzten Fensterrahmen gestrichen worden, und sein Inneres war durchaus an modernere Zeiten angepasst, doch zugleich hatte es sich den Charakter bewahrt, den es vermutlich schon vor hundert Jahren und länger aufgewiesen hatte.
Zwischen dem hellen Holz der Trägerbalken waren Wände und Decke weiß gestrichen, wodurch das gedämpfte Licht der klassischen Kandelaber reflektiert und der Raum angenehm hell wurde. Hier und da, vor allem in der Nähe des Kamins, wies die Decke Rußflecken auf, denn der Kamin fand heute noch Anwendung, ein fröhliches Feuer flackerte in ihm.
Neben dem Kaminabzug hatte irgendwann jemand mit roter Farbe in groben Strichen einen markanten Wikinger an die Wand gemalt, der bedrohlich einen großen Hammer schwang. Mats saß genau unter diesem Bild, und sein schmaler, vom Alter gezeichneter Körper mit den lustig blitzenden Augen bildete eine krassen Gegensatz zu dem martialischen Kämpfer an der Wand. Er hatte eine fleckige Lederweste über sein kariertes Hemd und die Jeans gezogen, die er schon am Tag getragen hatte. Während seiner Erzählung war seine Hand gelegentlich über die ausgebeulte Westentasche geglitten, und Rian fragte sich, was darin war.
Ihr Blick wanderte weiter. Der Raum war ausgestattet mit einfachen Tischen und Stühlen aus hellem Holz, die an diesem Abend nahezu alle besetzt waren, mit Leuten aus jeder Altersklasse. Auf den Tischen standen auf rot bestickten Mitteldecken bunte Gläser mit Teelichten und kleine Topfblumen, die in der warmen Zimmerluft erstaunlich gut überlebten.
Eine Seite des Raums wurde dominiert von einem Tresen, an dessen Holz man noch die Äste und Verwachsungen des Baumes erkennen konnte, aus dessen Holz er gebaut war. David saß auf einem Barhocker und unterhielt sich angeregt mit einer schlanken Frau mit hochgestecktem dunkelblondem Haar. Sie war schön, stellte Rian fest, auf eine Art, die sie ein wenig an andere Elfen erinnerte. Dennoch beachteten die menschlichen Männer sie kaum, vielleicht aufgrund ihres schlichten, gedeckten Kostüms und der nur dezent aufgetragenen Schminke.
Ob David versuchen wird, sie zu verführen?, fragte sich Rian, während sie die beiden beobachtete. Früher wäre das völlig normal für ihn gewesen, aber jetzt … Müsste er so etwas im Moment eigentlich gar nicht wollen?
So war es zumindest in all den Liebesgeschichten, die Rian kannte. Frisch verliebte Männer sahen andere Frauen gar nicht mehr – außer sie wurden von böswilligen Rivalinnen der Geliebten durch Lügen verführt. Aber diese Frau hier würde ja wohl kaum Anlass haben, Nadja schaden zu wollen. War also Davids Liebe einfach noch nicht so tief?
Rian zuckte die Achseln. Sie würde das mit der Liebe vermutlich niemals wirklich begreifen, und dass David zu lieben begann, war ihr eher unheimlich. Wenn er sich wieder so benahm wie früher, empfand sie Erleichterung. Vielleicht würde er die Seele ja aufgeben, und alles konnte sein wie gewohnt. Aber das wiederum würde Nadja wehtun, und das wollte Rian ja gar nicht, denn Nadja war ihre beste Freundin.
Jetzt fängst du auch schon an, dir wegen der Liebe so dumme Gedanken und Probleme zu machen, schalt sie sich innerlich. Vergiss das. Die Dinge werden, wie sie werden, und du hältst dich am besten raus.
Entschlossen wandte sie sich von David ab und drängte sich zu Mats durch.
»Ah, die Elfendame!« Der alte Erzähler stand auf und zog einen Stuhl für sie heran. »Ich hoffe, du hast dich nicht nur gelangweilt bei meinen einfältigen Geschichten?«
»Ganz und gar nicht«, widersprach Rian, während sie sich setzte. »Ich finde deine Erzählweise faszinierend – und die anderen scheinen auch dieser Meinung zu sein. Machst du das oft?«
»Nicht mehr so oft wie früher. Die meisten älteren Leute hier kennen schon alle meine Geschichten, und die jungen … na ja, es gibt nicht mehr viel Jungvolk hier im Dorf, und das kommt nicht ins langweilige Röda Thor, sondern verbringt den Abend lieber in der nächsten Stadt. Die sehen nicht mehr, wie viele Abenteuer die Welt um sie herum ihnen bietet, wenn sie nur die Hände danach ausstrecken und glauben.« Er zuckte die Achseln. »So ist der Lauf der Zeit. Selbst von denen, die kommen, sind nur deshalb heute so viele hier, weil sie euch Fremde sehen wollen.«
»Meinst du? Aber es kommt mir gar nicht so vor, als wären die Leute übermäßig neugierig auf uns.«
Mats ließ seine weißen Zähne in einem Lächeln blitzen. »Es wäre auch unhöflich, wenn ihr das bemerken würdet, und wenn wir Schweden eines niemals sind, dann unhöflich. Oder zumindest nicht, solange man uns nicht reizt. Legen wir unsere Höflichkeit allerdings mal ab, dann …« Er wackelte mit der Hand, spitzte die Lippen und sog die Luft etwas ein.
»Was dann?«
»Dann setzen wir uns Helme mit Kuhhörnern auf, greifen nach Axt und Schild und gehen morden und brandschatzen.« Mats grinste.
Rian neigte den Kopf zur Seite und musterte Mats. »Warum glaubst du, dass wir nicht von hier sind? Also, nicht aus dieser Welt? Oder sagst du das nur so?«
»Ich sage es mit vollem Ernst, und ich glaube es nicht nur, ich weiß es.« Er stand auf, griff in die Tasche seiner Lederweste und zog eine Pfeife hervor. »Ich würde gern ein wenig rauchen und mir die Füße vertreten. Nach so einer Erzählrunde brauche ich das. Wenn du weitere Antworten willst, musst du mit rauskommen.«
»Gern!« Rian stand auf, während Mats sich eine Wollstrickjacke überwarf und eine Schirmmütze aus Jeansstoff aufsetzte, und folgte ihm zwischen den Tischen hindurch zur Tür. Niemand schien zu befürchten, dass Rian zechprellen würde. In einem Dorf wie diesem, das aus fünf oder sechs Straßen und einem Marktplatz sowie einigen im Umland verstreuten Höfen und einsamen Wohnhäusern bestand, gab es noch Vertrauen.
Vor der Tür zog Mats aus der anderen Westentasche ein Tabakbeutelchen und begann, in dem warmen Licht, das durch die Fenster fiel, seine Pfeife zu stopfen. Er machte eine Kopfbewegung auf eine der Seitenstraßen zu, die vom Markplatz wegführten. »Wenn man die Straße da runtergeht, am See vorbei, kommt man übrigens zu dem Wald, in dem mein Großvater der Skogsra begegnet ist.«
»Hat er wirklich all das erlebt?«, fragte Rian.
Schalkhaft blitzten die Augen des Schweden auf. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Ich glaube ihm, dass er eine Waldfrau kannte. Oft genug rausgegangen und erst am nächsten Morgen wiedergekommen ist er. Aber ob die Geschichte so verlaufen ist, wie er mir erzählt hat, das weiß ich nicht. Ich vermute eher, dass sie irgendwann das Interesse an ihm verloren hat, weil er zu alt wurde oder ihre Bedürfnisse nicht mehr stillen konnte. Aber so etwas lässt einen ja nicht gerade als Held dastehen. Also hat er eine alte Geschichte übernommen, die man an anderen Orten erzählt, und sich da rein gestrickt.«
»Aber du glaubst an die Skogsra?«
Mats zwinkerte. »Ich habe sie gesehen. Ich war noch ein kleiner Junge, und man könnte annehmen, dass ich mich habe täuschen lassen. Aber ich gehe mit offenen Sinnen durch unsere Welt, und ich habe über die Jahrzehnte so viele andere Dinge erlebt, dass ich inzwischen sicher bin, dass auch die Skogsra echt war.« Mit einem langen Streichholz zündete er seine Pfeife an. Angenehmer Duft nach Pflaumentabak durchwehte die Luft.
Mats wies die Seitenstraße hinunter, die er ihr vorher gezeigt hatte. »Lust auf einen kleinen Spaziergang?«
Rian nickte. »Gern.«
Schweigend schlenderten sie zwischen den Häusern hindurch, deren Farben in der Nacht zu Grautönen verblassten. Rian mochte das kräftige Bunt, mit dem die Schweden ihre Häuser schmückten. Jedes Dorf wirkte ein wenig wie eine Ansammlung vielfarbiger Würfel, auf denen die farbig abgesetzten Rahmen der Fenster und Türen wie Augen waren. Sie setzten sich deutlich gegen den grau-grünen Hintergrund ab, der um diese Jahreszeit mit einzelnen Schneeflecken aufwartete.
Wenn der Schnee hier alles bedeckt, muss es noch hübscher aussehen! Vielleicht kann ich ja einmal im Winter herkommen …
Sie hatten inzwischen die Häuser hinter sich gelassen und wanderten an einem kleinen See entlang. Mats nahm die Pfeife aus dem Mund und deutete mit dem Stiel auf die Umgebung, die kahlen Felder, die flachen Hügel dahinter und den Wald, der sich hinter dem See als dunkle Mauer erhob.
»Unser Land ist löchrig wie ein Schwamm«, sagte er. »Und damit meine ich nicht die von der Südküste bis hier hoch allgegenwärtigen Seen. Es gibt unzählige Löcher in die andere Welt, in eure Welt.« Er nickte Rian zu. »Du kannst es spüren, oder? Jeder große Baum, jeder Hügel, jeder See kann zum Durchgang werden. Und wir haben die Mondtore – Tore, die bei Vollmond oder Neumond von selbst aufgehen, oder wo die Grenze zumindest so dünn wird, dass ein Kundiger sie mühelos durchstoßen kann. Früher muss es auch anderswo so viele Portale gegeben haben, aber selbst in Irland habe ich sie nicht in dieser Dichte gefunden.«
Rian nickte. Fanmór hatte in Crain jedes ihm bekannte Tor dieser Art geschlossen, weil sich immer wieder Sterbliche in die Anderswelt verirrt hatten. Vor allem hatte er sichergehen wollen, dass kein Sterblicher sie während des Schlafes überraschen konnte.
Bis wir aufwachten und fanden, dass der Herbst Einzug gehalten hatte in unserem Land … Wie viele sind inzwischen wohl schon vergangen, für immer verloren, ohne die Möglichkeit der Rückkehr, die Annuyn manchen anbietet? Wie viele sind inzwischen dem früher unmöglichen Alterstod zum Opfer gefallen? Rian schüttelte die Gedanken ab und wandte sich wieder Mats zu.
»Wie kommt es, dass du diese Tore finden kannst?«
»Keine Ahnung.« Mats zuckte die Achseln und zog an seiner Pfeife. Langsam ließ er Rauchringe aus seinem Mund entweichen. »Vielleicht ist es einfach eine Frage des Glaubens«, fuhr er dann fort. »Ich war immer überzeugt, dass es die andere Welt gab. Darum konnte ich auch die Dinge sehen, die von den meisten rationalen Menschen heute nicht mehr gesehen werden, weil sie sie nicht sehen wollen. Dinge, die nicht zu ihrem Weltverständnis passen.«
»Gibt es noch mehr Leute hier, die das sehen?«
»Ein paar. Gerade auf dem Land und unter den älteren Leuten wirst du noch welche finden, die ihren Sinnen mehr glauben als den Büchern. Aber das ist vermutlich nur deshalb so, weil wir eben diese Dinge hier weiter erlebt haben, als in anderen Ländern die Tore zufielen.«
Rian staunte. Gerade die Völker, die innerhalb der Anderswelt als verschlossen und eigenbrötlerisch verschrien waren und von denen man kaum etwas sah, hatten anscheinend den engsten Kontakt zu den Sterblichen bewahrt. Vielleicht war gerade das der Grund für ihre Zurückgezogenheit, denn Fanmórs Gebot war diesbezüglich klar gewesen, und es galt für ganz Earrach: Es hatte keine Verbindungen mehr zu den Menschen zu geben.
»Und was lässt dich nun glauben, dass ich aus der Anderswelt bin?«, hakte sie bei der ursprünglichen Frage nach.
»Erstens einmal deine übermenschliche Schönheit«, stellte Mats fest und zwinkerte ihr zu. »Außerdem berühren deine Füße nicht den Boden. Und dein Schatten ist nicht echt. Ich sehe genau hin.«
Rian staunte. Bislang waren ihre Freunde Nadja und Robert die einzigen gewesen, denen das aufgefallen war, und auch nur, weil sie es auf digitalen Fotografien gesehen hatten.
»Und mit deinen Augen stimmt etwas nicht«, unterbrach Mats Rians Gedankengänge. »Ich vermute, du hast einen Zauber darüber gelegt, damit sie dich nicht verraten. Aber sei unbesorgt deswegen, ich werde es nicht weitertragen.« Mats wandte sich zum Dorf. »Gehen wir zurück. Meine alten diesweltlichen Knochen brauchen langsam wieder etwas Kaminfeuerwärme. Magst du mir erzählen, was euch hierher treibt? Zur hier üblichen Familie zählt ihr nicht, da bin ich sicher. Ihr müsst von weiter weg sein.«
»Wir sind von den Sidhe Crain«, erklärte Rian.
Mats nickte. »Sidhe, das klingt keltisch, Richtung Britische Inseln und Nordfrankreich, soweit man die Regionen eurer Welt überhaupt mit unseren Ländern in Verbindung bringen kann.«
»Unsere Welt ist eurer durchaus ähnlich. Wenn wir von irgendwo aus einfach nur ein Tor zu euch öffnen, ohne ein bestimmtes Ziel vorzugeben, kommen wir im entsprechenden Gebiet hier heraus.«
»Darf ich fragen, wo euer Ziel liegt?«
Rian zögerte. »Ich glaube, es ist besser, wenn du nicht zu viel weißt«, antwortete sie. »Wir werden sicher verfolgt, und wenn unser Gegner auf die Idee kommt, du könntest wissen, wo wir hingehen …« Sie dachte erneut an das Gebot ihres Vaters, keine Sterblichen zu Schaden kommen zu lassen. Immer wieder war der Getreue unvermutet in ihrer Nähe aufgetaucht, und dieser scherte sich nicht um das Gebot – er entführte sogar die Seelen der Menschen und brachte sie seiner Königin. Das konnte Mats blühen, nachdem der Getreue ihm alle Informationen entrissen hatte, die ihm dienlich waren. Und wenn nicht er selbst, so konnten seine Helfer ihnen auf den Fersen sein, die nicht minder mörderisch waren. Rian schüttelte es innerlich.
»So, so.« Mats zog an seiner Pfeife. »So ganz hilflos sind wir Menschen aber nicht. Möglicherweise kann ich etwas für dich tun.«
»Diese Gefahr ist anders«, sagte Rian bestimmt. »Aber du kannst mir auf trotzdem helfen. Erzähl mir mehr von den Völkern, auf die wir nordwärts treffen werden.«
»Auf dem Land werdet ihr von den Menschen offen aufgenommen, und es wird immer wieder welche geben, die euch erkennen, so wie ich. Was die Andersweltlichen betrifft …« Er deutete in die Richtung, in der sie zuvor die Hügel gesehen hatte. »Ihr werdet überall auf Trolle stoßen. Im Süden sind sie gesellig, leben in Gruppen oder großen Familien zusammen, aber im Norden, in Lappland und drüben in Norwegen, sind sie zunehmend unleidiger. Da trifft man sie fast nur noch einzeln, vielleicht mal zu zweit oder zu dritt, wenn sie jemanden zum Streiten brauchen. Freundlich sind sie aber alle nicht.«
Mats schmunzelte. »Manche treiben eher harmlose Scherze oder helfen einem sogar einmal gegen einen Preis, während die meisten bösartig und gefährlich sind. Am besten geht man ihnen aus dem Weg, und wenn es sich nicht vermeiden lässt, hält man in der einen Hand Geschenke bereit, um sie zu bestechen, und in der anderen eine durchgeladene Schrotflinte, um sie eine Weile aufzuhalten, bis sie sich wieder zusammengeflickt haben. Ein Flammenwerfer wäre natürlich noch besser, aber den gibt es nicht frei im Handel.«
»Aber Schrotflinten?«
Mats grinste. »Wer sollte sich hier draußen darum kümmern? Meine Knarre stammt ungefähr aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, und ich gehe nie ohne sie in die Hügel. Angeblich gibt es dort alte Gräber und wo es alte Gräber gibt, ist oft alte Magie am Werk. Da ich ein Mann bin, der an seinem Leben und seinem Verstand hängt, versuche ich, so etwas zu vermeiden.«
»Und die Trolle.«
Mats nickte. »Und die Trolle. Wobei man mit denen besser verhandeln kann als mit einem Draugr. Das sind Tote, die ihren Tod verpasst haben. Man sagt, sie hätten beachtliche magische Kräfte, aber zum Glück sind sie nicht die schnellsten – weder im Laufen noch im Denken. Trotzdem würde ich mich nicht mit einem anlegen wollen. Sie sollen sehr stark sein, nahezu unverwundbar, und sie verbreiten Leichengift. Sich von ihren Krallen verletzen zu lassen ist eine schlechte Idee. Mein Großvater hat erzählt, dass zu Zeiten seines Großvaters hier einer umging. Daher kamen die Gerüchte, dass es in den Hügeln ein Grab gäbe. Bisher hat sich niemand ernsthaft darum gekümmert, es zu finden.«
Rian fröstelte. Der wandelnde Tote erinnerte sie an den verirrten Schatten, den sie berührt hatte. Ein Draugr musste sich ähnlich fühlen wie dieser Geist – haltlos, verloren, immer auf der Suche nach Wärme und Leben, um es aufzusaugen. Vielleicht waren es ja sogar Annuyn-Schatten, die diese Körper belebten? Mats hatte gesagt, die Grenzen zwischen der Welt der Sterblichen und der Anderswelt seien hier schon immer dünner gewesen. Vielleicht galt das auch für Annuyn? Vielleicht war das, was sie erlebt hatte, gar nicht auf ein neues Aufweichen der Trennlinien zurückzuführen?
Aber es war ein Übergang von Annuyn nach Earrach, nicht in die Menschenwelt, stellte sie für sich fest.
Sie war erleichtert, als Mats die Tür zum Röda Thor aufstieß und ihnen Wärme, Licht und gedämpftes Stimmengewirr entgegenschlugen. Erstaunt blieb sie stehen. »Wo ist David?«
Birte nahm eine Hand vom Lenkrad und zeigte nach vorn.
»Da ist mein Haus, auf halber Höhe des Hügels.«
David spähte durch die Dunkelheit und erkannte ein großes zweistöckiges Haus, das von schlanken Bäumen flankiert wurde. Daneben glaubte er, ein kleineres Gebäude erkennen zu können. Birte bog auf eine mit hellem Kies bestreute Auffahrt ab, die zwischen Ziersträuchern den Hügel hinauf führte.
»Es ist ein altes Herrenhaus«, erklärte sie dabei. »Wobei ›Herrenhaus‹ hier im Zusammenhang mit dem Umfeld zu sehen ist – das hier war immer eine dünn besiedelte Gegend, in der man sich hauptsächlich von der Fischerei, dem Holzabbau und ein wenig Landwirtschaft ernährte. Entsprechend bescheiden lebten die Herren, im Vergleich zu anderen.«
»Es ist trotzdem nicht gerade klein, scheint mir.«
Birte seufzte, hielt vor der Eingangstür und stellte den Motor ab. »Es schluckt Unsummen an Heizkosten«, sagte sie. »Und wenn ich mir nicht eine Haushälterin und alle paar Wochen einen Gärtner leisten könnte, wäre es unmöglich, das alles hier in Schuss zu halten. Die Vorbesitzer haben ein Vermögen in die Modernisierung gesteckt und sind daran bankrott gegangen. Mein Glück, denn ich konnte es vergleichsweise günstig ersteigern.« Sie öffnete die Fahrertür und stieg aus. David folgte ihr.
Drei Stufen führten zur Eingangstür hinauf. Während er sie hochstieg, hielt David den Blick auf Birte gerichtet, die vor der Tür in ihrer Handtasche nach dem Schlüssel kramte. Der taillierte Mantel aus dünnem hellem Leder betonte jede Rundung ihrer schlanken Figur. Sie hatte den Kragen gegen die Kälte hochgestellt, sodass der weiche Schwung ihres Nackens verborgen war. Die langen dunkelblonden Haare hatte sie mit einem dunklen Samtband und einigen perlenbesetzten Haarnadeln hochgesteckt. Die hohen Bögen ihrer Augenbrauen verliehen ihr einen leicht fragenden Ausdruck, der durchaus arrogant hätte wirken können, wären nicht die warmen goldbraunen Augen darunter gewesen. Die gerade Nase und der ebenmäßige Mund mit den vollen roten Lippen erinnerten David an eine griechische Statue. Alles an ihr hatte diese perfekte, marmorne Schönheit. Doch er spürte, dass mehr darunter lag, und je länger er sich mit ihr im Gasthaus unterhalten hatte, umso mehr war das Verlangen in ihm gestiegen, dieses verborgene Feuer hervorzukitzeln.
Birte hatte inzwischen aufgeschlossen, stieß nun die Tür auf und ging voran. Scheppernd landete ihr Schlüsselbund auf einem Sideboard, noch ehe sie das Licht anschaltete, Kristallleuchter an den Wänden. Ihr Licht wurde von einem Spiegel zurückgeworfen, der über dem Sideboard hing und teilweise von einem schwarzen Seidentuch verhängt war. David trat hinter Birte, bewusst den Blick auf den Spiegel vermeidend, und half ihr aus dem Mantel. Leicht beugte er sich dabei vor und ließ seinen Atem über ihren Hals streifen, während seine Fingerspitzen ihre Schulter entlangstrichen und dabei ein dünnes Schimmern hinterließen. Unwillkürlich beugte sie den Kopf etwas zur Seite, als wolle sie ihm mehr Haut bieten.
»Aaah«, seufzte sie schließlich und rollte die Schultern, als David mit dem Mantel in der Hand von ihr wegtrat. »Endlich zu Hause in der Wärme.« Sie drehte den Kopf zu ihm, um ihm ein Lächeln zu schenken, und ließ dann den Blick an ihm abwärts gleiten. Als sähe sie ihn zum ersten Mal richtig weiteten sich ihre Augen ein wenig, und als ihr Blick zu seinem Gesicht zurückgekehrt war, senkte sie die Lider kokett, ehe sie den Kopf abwandte.
David hängte die Mäntel an die Garderobe, während Birte bereits den Gang hinunter bis zu dem Raum weiterging, in den er mündete. Auch dort flammte im nächsten Moment Licht auf.
»Möchtest du etwas trinken?«, drang ihre Stimme zu David, der kurz in routinemäßiger Gewohnheit nach dem verborgenen Dolch im Mantel tastete und zufrieden nickte, als er ihn unverändert fand.
»Gern.«
»Saft? Wasser? Leichtbier? Oder lieber etwas Stärkeres?«
»Wenn du etwas Stärkeres hast, nehme ich das«, antwortete David und folgte ihr in den Raum am Ende des Gangs. Es war ein geräumiges und dennoch gemütlich wirkendes Wohnzimmer, das vom indirekten Licht mehrerer Stehleuchter und Wandstrahler erhellt wurde. Eine cremefarbene Couchgarnitur lud dazu ein, in ihr zu versinken, während man das Panorama genoss, das sich am Tag jenseits der doppelflügligen Glastür bot. An der Wand daneben standen mehrere schlichte Regale eines bekannten schwedischen Möbelhauses, in denen mehr Bücher verstaut waren als hineinpassten.
Hinter der Couchgarnitur hing ein großes Ölbild an der Wand, das eine weite, von dunklen Wolken verhangene Landschaft zeigte. Es hatte mit seinem Wechselspiel von Licht und Schatten auf den Feldern, Hügeln und den dazwischen eingestreuten niedrigen Bauernhäusern eine beeindruckende Tiefenwirkung. Die Details, obwohl oft nur mit wenigen Pinselstrichen angedeutet, machten das Motiv zusätzlich plastisch und luden dazu ein, es genau zu studieren. David trat näher heran und beugte sich vor. Fast erschien es ihm, als würde das kleine Mädchen, das über einen Feldweg auf ein Haus zuging, sich tatsächlich bewegen. Ihr Kleid und das Band an ihrem Strohhut flatterten im Wind – nicht mehr als zwei Pinselstriche und ein gut gesetzter Schattenpunkt, mit einer dünnen Spitze in die Farbe hinübergezogen. Trotzdem strahlte das ganze Bild wegen dieser Details schon eine fast unheimlich wirkende Lebendigkeit aus. David fühlte sich an die Bilder des Arkadiers Antel erinnert, der eine Weile an Fanmórs Hof gewesen war. Manchmal hatten seine Motive Eigenleben entwickelt, und eines hatte sogar einmal zu sprechen begonnen.
»Gefällt es dir?«
David bemerkte erst jetzt, dass er noch immer vornübergebeugt vor dem Bild stand, die Nase fast an der Leinwand, und auf das winzige Mädchen starrte. Hastig richtete er sich wieder auf und lächelte Birte an, die mit zwei Flaschen in der Hand in der Tür zur Küche stand. »Es ist wunderschön. Eines deiner Werke?«
»Ja. Es ist das erste Bild, das ich hier erschaffen habe.« Ein feines Lächeln glitt über ihr Gesicht, als streife sie eine angenehme Erinnerung. Dann hob sie nacheinander die beiden Flaschen. »Whisky? Oder lieber Cognac? Ich hätte auch noch einige Liköre zu bieten. Oder ich mache dir einen kaffeegök, wenn du lieber etwas Anregenderes möchtest.«
»Was ist das?«
»Eine Mischung aus Kaffee und Branntwein. Der Kaffee hält wach, während der Alkohol die Kreativität erhöht.«
»Nein danke, ich nehme den Whisky. – Aber ist das alles hierzulande nicht sündhaft teuer?«
»Doch, ist es. Aber dank einer Erbschaft und meiner eigenen guten Einkünfte muss ich mich nicht so sehr einschränken, dass ich bei so etwas sparen müsste.« Sie verschwand wieder in der Küche und kehrte wenig später mit zwei Gläsern, dem Whisky und einer Likörflasche zurück. David ließ sich in die Couch sinken, und Birte setzte sich neben ihn und schenkte ein. Sie schob David das Glas mit dem Whisky zu und nahm das andere auf.
»Auf den Beginn eines sicherlich wunderbaren Abends.«
»Und vielleicht auch einer wunderbaren Nacht«, ergänzte David und sah in ihre goldleuchtenden Augen. Erneut lächelte sie fein. Etwas regte sich in David, etwas, das sich wunderte, was er eigentlich gerade tat. War er nicht ursprünglich wegen der Bilder gekommen, und um sich in Ruhe unterhalten zu können? Aber war es andererseits nicht normal für ihn, zu versuchen, mehr als nur freundliche Worte mit einer schönen Frau zu teilen? Nadjas Bild tauchte vor seinen Augen auf, und verschwamm in dem Moment, da Birte ihre Hand ausstreckte und eine Strähne aus seiner Stirn strich.