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3

»Können Sie diesen Plan entwerfen?«

Nicolas Eichborn

Es gab Dinge, die besprach man nicht am Telefon. Auch Mails waren ungeeignet. Man konnte niemals wissen, wer alles mithörte oder -las.

Deshalb machten Patrick und ich uns umgehend in einer Linienmaschine der Fluglinie Emirates auf den Weg nach Thailand. Unser Ziel war die Insel Ko Nang Yuan, auf der Hagedorn, der Architekt, lebte und wohl auch arbeitete.

Wir hatten ihn bei unserem letzten Treffen dazu genötigt, in Zukunft mit uns zusammenzuarbeiten, nachdem er für eine Terrorgruppe einen Plan entworfen hatte, wie diese an das Ebola-Virus herankommen konnte. Der Plan hatte funktioniert und das Virus wurde im Bundestag freigesetzt.

Gott sei Dank war der Anschlag jedoch nicht in dem von den Terroristen erhofften Umfang erfolgreich gewesen. Unter anderem deshalb, weil Hagedorn uns behilflich gewesen war.

Die Kooperation zwischen ihm und uns beschränkte sich darauf, uns zu verständigen, falls jemand mit dem Wunsch an ihn herantreten sollte, zum Beispiel an waffenfähiges Uran heranzukommen.

Nun aber wollten wir etwas vollkommen anderes von ihm.

Und ich war wirklich gespannt, wie er auf unseren Wunsch reagieren würde.

Als wir uns Stunden später gegenübersaßen, kam ich sofort zur Sache.

»Ich möchte, dass Sie einen Plan entwerfen, wie man die aktuelle Bundesregierung stürzen kann. Und zwar so, dass es nicht nach einem absichtlich herbeigeführten Sturz aussieht. Darüber hinaus möchten wir, dass die Bevölkerung dem Sturz der amtierenden Regierung und den Änderungen des bestehenden Systems begeistert zustimmt.«

Er sah mich ausdruckslos an. »Und wie genau würde diese Änderung des Systems aussehen?«

»Eine gute Frage. Auf jeden Fall gäbe es einen Wechsel von Demokratie zur Autokratie. Ob nun ein Politiker oder ein Militär die Führung übernimmt, kann ich nicht sagen.«

Hagedorn schwieg eine Weile. Schließlich sah er zuerst zu Patrick, dann zu mir. »Das ist kein Planspiel, oder? Da steckt eine tatsächliche Bedrohung dahinter.«

»Richtig.«

»Hat das vielleicht etwas mit dem Absturz des Kampfjets zu tun?«

Ich nickte. »Wieder richtig.«

»Was zum Teufel ist in Deutschland los?«

Wir erklärten ihm, was Schranz uns erzählt hatte. Als wir geendet hatten, schwiegen wir eine Weile.

Schließlich ergriff Hagedorn wieder das Wort. »Wie hoch geht das?«

»Wir vermuten, bis auf Ministerebene.«

Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »Das meinte ich nicht. Politiker spielen in diesem Szenario eine untergeordnete Rolle, glauben Sie mir. Viel mehr interessiert mich die Frage, wie es um Verfassungsschutz, MAD und andere Behörden bestellt ist.«

»Sie meinen …«

»Ich meine nicht, ich bin davon überzeugt, dass diese Behörden involviert sind.«

»Können Sie diesen Plan entwickeln?«

Er nickte. »Ja, das kann ich.«

»Gut, denn anschließend möchte ich, dass Sie einen Plan entwerfen, wie wir das alles verhindern können.«

4

»Es könnte funktionieren.«

Clemens Hagedorn

Die Insel Ko Nang Yuan lag vor der Südost-Küste von Thailand im Golf von Thailand und war der größeren Insel Koh Tao vorgelagert. Es gab auf der kleinen Insel ein Resort, das ausschließlich von Tauchern genutzt wurde. Es gehörte ihm, er hatte es vor einigen Jahren über einen Strohmann gekauft. Hagedorn hatte diesen Ort zu seinem Refugium gemacht und sich dorthin zurückgezogen.

Sein eigenes kleines Reich lag versteckt im Inneren der Insel.

Dort saß er auf der Holzterrasse und dachte nach.

Wie würde er es anstellen, die herrschenden Mächte der Bundesrepublik zu stürzen?

Und das, ohne dass es zu Aufständen kam.

Die Bevölkerung musste auf Seiten derer stehen, die den Umsturz durchführten.

Im Idealfall würden sie die Putschisten sogar aktiv unterstützen.

Das würde nur dann gelingen, wenn die Deutschen ihr Vertrauen in die Regierung verloren.

Nicht nur in die Regierung, dachte Hagedorn, vielmehr in das komplette Konstrukt der Bundesrepublik.

In die Demokratie.

Hagedorn spürte, wie sehr ihn diese Aufgabe faszinierte.

Dieser Plan war mit keinem anderen vergleichbar, den er in der Vergangenheit entwickelt hatte.

Zunächst müsste man das Vertrauen in die amtierende Regierung in seinen Grundfesten erschüttern.

Und zwar nachhaltig.

Das gelang am besten, wenn es offensichtlich wurde, dass die Regierung nicht in der Lage war, die Bevölkerung zu schützen. Dies wiederum hieß, dass eine stete Abfolge von Anschlägen das Land erschüttern müsste. Immer und immer wieder über einen längeren Zeitraum – Hagedorn veranschlagte hierfür mindestens zwölf Monate – müsste das Land von Terroranschlägen mit vielen Opfern unter der Zivilbevölkerung heimgesucht werden.

Das alleine war schon eine Herausforderung, da durch die seit Jahren herrschende islamistische Bedrohung die Sicherheitskräfte sehr viel aufmerksamer waren als zuvor. Auch die elektronische Überwachung war weiter fortgeschritten.

Aber für jedes Problem gab es eine Lösung.

Kameras konnten abgeschaltet werden.

Einsatzkräfte konnte man ablenken.

Während die Anschläge das Land verunsicherten und zermürbten, musste es eine Stimme geben, die immer lauter wurde. Diese Stimme, das war Hagedorn klar, gehörte zu der Person, die oben an der Spitze der Verschwörung stehen musste. Nicht ganz oben, aber dicht dran.

Plötzlich fiel ihm der Anschlag mit Ebola ein.

Es war den Behörden gelungen, den Anschlag weitestgehend unter den Teppich zu kehren. Natürlich war es der Öffentlichkeit nicht entgangen, dass etwas geschehen war.

Aber wie ernst die Lage gewesen war, erfuhr niemand, der nicht daran beteiligt gewesen war.

Hagedorn war sich sicher; dieser versuchte Anschlag passte exakt ins Schema.

Er machte sich eine Notiz.

Diesen Punkt würde er mit Eichborn besprechen müssen.

Zurück zu der Stimme, die immer lauter wurde.

Diese Person, Hagedorn schloss nicht aus, dass es sich dabei auch um eine Frau handeln konnte, musste eine in der breiten Öffentlichkeit bekannte Persönlichkeit sein.

Auf keinen Fall ein Politiker.

Schon gar nicht jemand, der mit der rechten Szene in Verbindung gebracht werden konnte.

Ein Geschäftsmann vielleicht.

Oder ein Schauspieler.

Auf jeden Fall aber eine Person, die keine Leichen im Keller hatte. Nichts, was sie in Misskredit bringen könnte.

Diese Person würde die Stimme der Menschen werden.

Hagedorn machte sich erneut eine Notiz. Vielleicht war der- oder diejenige schon in Erscheinung getreten.

Um diese Person herum müssten sich weitere Prominente sammeln.

Der Mensch war ein Herdentier und je größer diese Gruppe werden würde, je mehr bekannte Persönlichkeiten sich ihr anschließen würden, desto eher entstand daraus eine Bewegung.

Man brauchte nur an den arabischen Frühling denken.

Natürlich würden auch die Medien eine große Rolle spielen.

Hagedorn notierte sich diesen Punkt und unterstrich ihn zweimal.

Die öffentlich-rechtlichen Sender stellten ein Problem dar. Von ihnen wäre eine wohlwollende Berichterstattung eher nicht zu erwarten. Sie müssten vielleicht nicht gänzlich ausgeschaltet, zumindest aber unter Kontrolle gebracht werden. Idealerweise erlitten sie schon vorher einen enormen Imageschaden. In gewissen Kreisen nannte man sie schon Lügenpresse. Diesen negativen Trend galt es zu forcieren, sodass ihr Wort immer weniger Gewicht hatte und immer mehr angezweifelt wurde.

Anders die sozialen Medien.

Hier gab es weitaus weniger Zensur. Auf ihnen konnte man seine Botschaft in die Welt hinausposaunen, ohne Gefahr laufen zu müssen, sofort zensiert zu werden. Hier konnte man mit gefälschten Profilen virtuelle Gruppen mit hunderttausenden Sympathisanten aufbauen.

Eine schlagkräftige virtuelle Armee.

Mit Sicherheit gab es auf Facebook und Twitter schon entsprechende Anstrengungen.

Der Druck auf die Regierung würde immer größer werden, die Anschläge würden nicht nachlassen.

Jetzt müsste man den Menschen einen weiteren Schlag versetzen.

Ihre Sicherheit war schon nicht mehr gewährleistet, aber der zweite Schritt würde ihr Vermögen in Gefahr bringen. Schwierig, aber nicht unmöglich.

Demonstrationen würden die Folge sein.

Und genau hier gäbe es die nächste Eskalation, die das Fass zum Überlaufen bringen würde.

Einsatzkräfte würden damit beginnen, auf Demonstranten zu schießen.

Es würde viele Tote und Verletzte geben.

Dann müssten gewisse Personen gezielt ausgeschaltet werden.

Vor allem Personen, die dazu in der Lage wären, das Ruder im letzten Moment noch herumzureißen. Die es schaffen könnten, die drohende Katastrophe aufzuhalten.

Jetzt würde das Stadium eintreten, in dem die Menschen keine Freiheit mehr wollten, sondern nur noch Sicherheit.

Die Initialzündung für Neuwahlen.

Natürlich dürfte der Kandidat nicht wirken, als wäre er die deutsche Version eines Diktators. Nach außen müsste Deutschland immer noch wirken wie eine Demokratie. Alleine schon deshalb, um die verbündeten Staaten weltweit nicht zu beunruhigen. Immerhin war die Bundesrepublik noch immer die drittgrößte Wirtschaftsmacht der Welt. Viele Länder waren abhängig von Deutschland. Und Deutschland war natürlich auch auf andere Staaten angewiesen. Sanktionen jeder Art galt es zu vermeiden.

Der Rest wäre reine Formsache.

Hagedorn lehnte sich zurück und schüttelte langsam den Kopf.

Der Plan könnte tatsächlich funktionieren.

Die Einsatzkräfte, die das Feuer auf die Demonstranten eröffnen würden, wären natürlich keine richtigen Polizisten. Sie würden nur so aussehen.

Nur wer würde das bei dem Chaos bemerken?

Niemand.

So würde er es machen.

Und genau so würde es funktionieren.

Es gab bei diesem Plan nur ein einziges Problem: die Zeitfrage.

Hagedorn schloss die Augen und erstellte in seinen Gedanken einen Ablaufplan, der aus fünf Phasen bestand. Schließlich öffnete er sie wieder und begann damit, alles niederzuschreiben.

Phase 1: Das Netzwerk. Einer musste den Anfang gemacht haben. Und der hatte als Erstes damit begonnen, ein Netzwerk aufzubauen. Möglicherweise verfügte diese Person bereits über eines und musste es nur bereinigen und ausbauen. Dauer mindestens drei Jahre.

Phase 2: Rekrutierung. Anwerben und Aufbau der Truppen. Dauer mindestens drei Jahre.

Phase 3: Infiltrieren von wichtigen Institutionen wie Ministerien, Unternehmen und Medien. Dauer mindestens vier Jahre.

Phase 4: Installation einer bekannten Persönlichkeit als Sprachrohr der Verschwörung. Dauer unbekannt, da Hagedorn keinerlei Informationen über die Person besaß, die alles eingeleitet hatte. Je größer das bereits am Anfang existierende Netzwerk gewesen war, desto schneller wäre der Ablauf der nächsten Phasen. Er konnte hier nur spekulieren.

Phase 5: Umsetzung. In dieser Phase waren sie noch nicht, das war sicher.

Hagedorn stand auf, ging ins Haus und wählte die Nummer von Eichborn.

»Ja?«

»Ich bin fertig. Sie müssten ein paar Sachen überprüfen, von denen ich denke, dass sie schon angefangen haben. Wenn das so ist, haben wir ein echtes Problem. Es könnte funktionieren. Aber mir ist gerade klar geworden, dass das schon seit vielen Jahren vorbereitet wird.«

5

»Wissen Sie, was er damit gemeint hat?«

Saskia Kleinert

Nachdem Hagedorn uns den Plan sowie einen ausführlichen Bericht zugesandt hatte, mussten wir uns erst einmal von dem Schock erholen, den uns Hagedorns Erkenntnisse verpasst hatten.

Eigentlich war es ja logisch, dass man eine Verschwörung solchen Ausmaßes nicht über Nacht aus dem Boden stampfte. Aber erst wenn einem schließlich bewusst wurde, was alles im Vorweg organisiert werden musste, wie viel Energie und Geld jemand investiert hatte, wurde einem so richtig klar, um was es hier eigentlich ging.

Patrick sah mich an. »Ich sehe es wie Hagedorn: Wir befinden uns heute zwischen Phase drei und vier.«

»Aber wie passen da der Anschlag mit dem Virus vor drei Monaten und der Absturz des Jets hinein? Würde das nicht eher in die fünfte Phase gehören?«, wollte Helen wissen.

Patrick schüttelte den Kopf. »Nein. Wenn du erst in der fünften Phase damit beginnst, die Bevölkerung zu ängstigen, hast du einfach zu viel Zeit vergeudet. Diese Nadelstiche setzt du schon früher. Und dann holst du zu den richtig großen Schlägen aus.«

Helen schüttelte sich. »Furchtbarer Gedanke …«

Schließlich machten Helen, Patrick, Günter Maria Helmes und ich uns an die Arbeit.

Herauszufinden, ob der Ebola-Anschlag von Bruno Sander zu einer weitaus gewaltigeren Verschwörung gehört hatte, war dabei mit Sicherheit die größte Herausforderung.

Bruno Sander, der sich selbst als Anführer des Fürstentums Germania ansah und eine stattliche Anzahl von Jüngern um sich geschart hatte, war der führende Kopf des Anschlages mit dem tödlichen Virus gewesen.

Hagedorn, den man auch den Architekten nannte, weil er todsichere Pläne für Verbrechen geplant hatte, war auch für die Planung des Diebstahls von Ebola-Erregern verantwortlich gewesen.

Später, als Hagedorn erfahren hatte, dass das Virus in Deutschland freigesetzt werden sollte, hatte er uns nützliche Tipps gegeben, die dazu geführt hatten, dass wir Schlimmeres verhindern konnten.

Sander war erst vor ein paar Wochen zu einer langjährigen Haftstrafe verurteilt worden, die er in der JVA Moabit absitzen würde. Es war mehr als fraglich, ob er unsere Fragen beantworten würde.

Wir teilten die Aufgaben untereinander auf.

Patrick würde sich auf die Suche nach einer berühmten und beliebten Person machen, die in das Anforderungsprofil des Menschen passte, von der der Architekt der Meinung war, sie würde die Stimme des Volkes werden.

Helmes übernahm die Recherche in den sozialen Medien.

Er sollte versuchen, die Gruppen zu finden, die sich möglicherweise schon formiert hatten.

Helen und ich würden uns um Bruno Sander kümmern.

Aber bevor wir das taten, wollten wir mit der Person sprechen, die ihn verraten hatte.

Saskia Kleinert war Ärztin und hatte dem inneren Kreis von Bruno Sander angehört.

Bis sie erfuhr, dass ihr Chef das Ebola-Virus in Deutschland einsetzen wollte.

Es war Patrick gelungen, sie umzudrehen, sodass sie Sander und den Rest des engsten Kreises verraten hatte. Sie selbst kam straffrei davon.

Da Sanders Anwalt Berufung gegen das Urteil eingelegt hatte, musste Saskia Kleinert noch ein bisschen länger warten, bis sie ihr neues Leben im Ausland starten konnte.

Sie wohnte immer noch in einem sicheren Haus und hatte rund um die Uhr Polizeischutz.

Wir verständigten Kerni davon, dass wir mit ihr sprechen mussten, und er veranlasste das Nötige, damit wir zu ihr vorgelassen wurden.

Wir fuhren sofort los und erreichten das Haus eine halbe Stunde später. Nachdem wir dem Beamten, der vor dem Tor Wache hielt, unsere Ausweise gezeigt hatten, durften wir bis vor das Haus fahren.

Wir betraten es und ein weiterer Beamter brachte uns in das Wohnzimmer, wo Saskia Kleinert schon auf uns wartete. Sie hatte etwas an Gewicht verloren, aber es schien ihr gut zu gehen.

Sie lächelte uns zur Begrüßung an. »Ich hätte nicht gedacht, dass wir uns noch einmal sehen«, sagte sie.

Wir gaben uns die Hand und nahmen Platz.

»Es gibt natürlich einen Grund, weshalb wir Sie sprechen wollten«, sagte Helen. »Es sind Dinge geschehen, die möglicherweise in direktem Zusammenhang mit dem Ebola-Anschlag stehen.«

Saskia Kleinert sah Helen aufmerksam an. »Was für Dinge?«

»Zum Beispiel der Absturz des Jets vor drei Tagen«, antwortete ich.

Sie blinzelte irritiert. »Das verstehe ich nicht«, sagte sie. »Wie kann es da einen Zusammenhang geben?«

Helen beugte sich vor. »Saskia, hat Bruno Sander irgendwann vor dem Anschlag mal darüber gesprochen, dass bald etwas sehr Großes passieren würde?«

Man konnte förmlich hören, wie sie sich konzentrierte und versuchte, die vergangenen Jahre vor ihrem geistigen Auge zu rekapitulieren.

Schließlich nickte sie langsam.

»Bruno hat sich in den letzten Jahren verändert«, begann sie mit leiser, stockender Stimme zu erzählen. »Früher war er … mitteilsamer gewesen; hat uns, also seinen inneren Kreis, viel mehr mit einbezogen. Aber irgendwann hörte das auf. Und er war immer öfter auf Reisen. Wir wussten nie, wann er wieder einmal verschwinden würde, oder wo er hinwollte. Das war schon komisch.«

Sie schwieg eine Weile und schien ganz weit weg zu sein. Helen und ich sagten nichts, da wir sie bei ihrer kleinen Zeitreise nicht stören wollten.

Plötzlich riss sie die Augen auf. »Torben hat ihn vor vielleicht ein- oder eineinhalb Jahren mal damit konfrontiert. Also damit, dass er ständig verschwand und niemand wusste, wohin. Schließlich war Torben ja für seine Sicherheit verantwortlich. Und die konnte er nicht sicherstellen, wenn Bruno wiederholt ohne das Wissen von uns anderen abtauchte. Und da hat Bruno etwas gesagt …«

Helen und ich hingen an ihren Lippen. Sehnsüchtig darauf wartend, dass sie weitersprach.

Gott sei Dank tat sie das auch.

»Er sagte sinngemäß: Eines Tages, und der ist nicht mehr weit weg, werdet ihr verstehen, um was es hier wirklich geht. Und dann würde sich alles ändern.«

Helen und ich wechselten einen beunruhigten Blick.

Aber Kleinert war noch nicht fertig. »Und er hat noch etwas gesagt; wir alle werden dann unseren Platz in den Geschichtsbüchern bekommen.« Sie schüttelte den Kopf. »Wissen Sie, was er damit gemeint hat?«

Oh ja, das wussten wir.

6

»Wir brauchen eine Komm-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte.«

Nicolas Eichborn

»Es birgt ein ungemeines Risiko, mit Sander zu sprechen«, meinte Patrick, als Helen und ich mit ihm beim Abendessen zusammensaßen.

»Warum?«, wollte Helen wissen.

»Wenn wir mit ihm reden, dann doch wohl, um an Informationen heranzukommen, was die Drahtzieher der Verschwörung betrifft. Tun wir das, verraten wir ihm damit, dass wir von dieser Verschwörung wissen. Ich gehe davon aus, dass Sander trotz seiner Haft auch im Gefängnis Kontakte nach draußen hat. Es wäre ein Leichtes für ihn, diese Personen, die wir finden müssen, zu warnen. Wenn das geschieht, haben wir nichts gewonnen, aber eine Menge verloren.«

»Verdammt«, sagte ich leise.

»Welche Optionen haben wir?«, wollte Helen wissen.

»Der Innenminister weiß natürlich ganz genau, warum er uns an den Ermittlungen teilhaben lässt. Wir sind nicht an Dienstvorschriften gebunden. Allerdings dürfte es auch für uns Konsequenzen haben, wenn wir gegen die Rechte Bruno Sanders verstoßen. Wir könnten wohl dafür sorgen, dass man Sander an einen besonderen Ort bringt, wo wir ihn in Ruhe verhören können. Und wo er keinen Kontakt zur Außenwelt hätte. Aber wenn Sanders Anwalt davon erfährt, macht der uns die Hölle heiß. Die Staatsanwaltschaft müsste dann ein Ermittlungsverfahren gegen uns einleiten. Da kann auch der Innenminister nichts machen.«

»Wenn der Anwalt davon erfährt …«, sagte ich nachdenklich.

Helen sah mich prüfend an. »Was brütest du aus?«

»Alles in mir sträubt sich gegen diesen Gedanken, aber was wäre, wenn wir Sander Straffreiheit versprechen können. Er müsste ins Ausland gehen und dürfte niemals nach Deutschland zurückkehren. Irgendetwas in der Art. Natürlich nur dann, wenn er uns hilft.«

»Puh«, sagte Helen. »Das gefällt mir überhaupt nicht. Ich traue diesem Scheißkerl nicht weiter, als ich ihn schmeißen könnte.«

»Geht mir genauso«, gab ich zu.

»Darüber hinaus glaube ich kaum, dass die Staatsanwaltschaft da mitmachen würde«, warf Patrick ein.

»Da wäre ich mir nicht so sicher. Bei dem, was uns hier droht, würden die wahrscheinlich noch ganz andere Sachen tun«, sagte ich.

Helen blickte zu Patrick. »Aber trotzdem gehst du davon aus, dass sie uns schlachten würden, wenn wir Sanders Grundrechte missachten?«

»Vielleicht sollten wir einfach fragen«, schlug ich vor.

»Eine schriftliche Erklärung sollte es schon sein«, meinte Helen.

Ich nickte. »Wir brauchen eine Komm-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte.«

»Wer, wenn nicht der Innenminister, könnte uns die ausstellen?«, sagte Helen.

»Dann rufe ich ihn doch einfach an, oder?«, wollte ich von den beiden wissen.

Sie nickte und ich wählte Schranz’ Handynummer.

Eine Stunde später saßen wir in Kernis Büro. Mit dabei waren Innenminister Schranz, Kerni und der Generalbundesanwalt, Harald Trenkel.

Der erklärte uns als Erstes, warum er da war. »Nach Paragraph 120 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3a GVG kann ich die Verfolgung von Straftätern an mich ziehen, wenn die Tat nach den Umständen geeignet ist, die innere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland zu beeinträchtigen, und dem Fall eine besondere Bedeutung zukommt. Und das scheint hier eindeutig zuzutreffen.«

»Unbedingt«, versicherte ich.

»Der Innenminister hat mich in einem Briefing vollumfänglich über die Bedrohung in Kenntnis gesetzt und ich bin gespannt, was Sie alle zur Lösung des Problems beitragen können«, sagte Trenkel und nickte mir aufmunternd zu.

Wo lernen diese Leute nur, so zu reden …?

»Wir haben herausgefunden, dass Bruno Sander möglicherweise über Informationen verfügen könnte, die uns auf die Spur der Drahtzieher dieser Verschwörung bringen könnten«, sagte ich in der Hoffnung, dass er mit meinem einfachen Deutsch zurechtkommen würde.

Es schien, als würde er auf meinen Worten herumkauen, um zu testen, ob sie genießbar waren.

»Möglicherweise und könnten sind keine Begriffe, die mich in Ekstase versetzen«, sagte er müde lächelnd.

»Es ist ja auch nicht mein Job, Sie in Ekstase zu versetzen, Herr Trenkel«, sagte ich und bekam dafür von Helen einen Fußtritt unterm Tisch. »Ich sage das so zurückhaltend, weil ich keine falschen Hoffnungen wecken will. Wir sind davon überzeugt, dass Sander über diese Informationen verfügt. Wir denken aber auch, dass er trotz Inhaftierung Kontakt zur Außenwelt hat. Vor allem über seinen Anwalt, der ihn regelmäßig besucht. Deshalb raten wir davon ab, ihn in Moabit zu befragen. Merkt er, dass wir über die Verschwörung Bescheid wissen, erfahren das die Drahtzieher umgehend.«

»Und dann?«, fragte Trenkel nach.

Helen antwortete. »Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder sie ziehen sich zurück, oder aber Phase fünf wird vorgezogen. Und dann bricht hier Chaos aus.«

»Ich verstehe …«, murmelte Trenkel.

»Was schlagt ihr vor?«, wollte Schranz wissen.

»Wir sind uns ehrlich gesagt uneins. Fakt ist: Sander weiß etwas. Aber wird er mit uns reden? Das ist die große Frage. Und hier steht es zwei zu eins dagegen.«

»Wie würde die Befragung denn stattfinden?«, erkundigte sich Schranz.

Ich sah von Schranz zu Trenkel. »Wir müssten Sander zunächst aus dem Gefängnis holen und an einen anderen Ort bringen. Nur so können wir sicherstellen, dass er nach unserer Besprechung mit niemandem außerhalb der Gefängnismauern Kontakt aufnimmt. Na ja, und dann müssten wir es ihm schmackhaft machen, uns seine Geheimnisse zu verraten.«

»Ich nehme an, mit schmackhaft machen meinen Sie Straffreiheit«, stellte Trenkel fest.

»Ja. Und möglicherweise eine neue Identität sowie eine Starthilfe für einen Neuanfang im Ausland.«

Trenkel zog die Augenbrauen zusammen. »Und wer garantiert uns, dass das, was er sagt, auch der Wahrheit entspricht? Es ist doch auch möglich, dass er davon überzeugt ist, ohnehin in absehbarer Zeit entlassen zu werden. Nämlich dann, wenn seine Kameraden die Macht übernommen haben.«

Oh, daran hatten wir gar nicht gedacht. Ganz schön schlau, dieser Trenkel.

Dass keiner von uns eine spontane und kluge Antwort parat hatte, war ihm Antwort genug.

»Vergessen Sie Sander. Zu viel Unabwägbarkeiten. Darüber hinaus würden die Begleitumstände einer Befragung dieses Subjektes eine enorme Rechtsbeugung bedeuten.« Er lehnte sich zurück und sah Schranz an. »Und das kann und will ich nicht zulassen.«

Wir machten uns auf den Weg zurück ins Büro. Helen fuhr, ich saß auf dem Beifahrersitz und Patrick hatte es sich hinten bequem gemacht.

»Eigentlich bin ich froh, dass Trenkel uns das mit dem Verhör von Sander verboten hat«, sagte ich und blickte dabei aus dem Seitenfenster.

Helen starrte geradeaus und nickte. »Zumal wir nicht bedacht haben, dass Sander darauf spekuliert, ohnehin demnächst frei zu kommen.«

»Ja«, sagte ich und malte Muster in die beschlagene Seitenscheibe. »Das war peinlich.«

»Ihr seid auch nur Menschen«, meinte Patrick.

Ich drehte mich zu ihm um. »Ach, und du nicht, oder was?«

Er hob erstaunt die Augenbrauen. »Doch, natürlich. Warum fragst du das?«

»Weil du auch nicht darauf gekommen bist.«

Er dachte kurz darüber nach. »Stimmt.«

»Na dann.« Ich sah wieder aus dem Seitenfenster und malte weiter.

»Und jetzt?«, wollte Helen wissen.

»Jetzt warten wir auf den Gegenplan von Hagedorn.«

»Du bist bereit zu warten?«, kam es aus dem Fond des Wagens.

»Bereit? Eher nicht. Ich hasse es zu warten. Aber was bleibt uns denn anderes übrig?«

Patrick schwieg. Aber als ich mich zu ihm umdrehte, wirkte er auf mich, als würde er an einer Idee arbeiten.

Ich hoffte, dass das so war, denn wir hatten keine Ahnung, wie viel Zeit wir noch hatten.

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