Kitabı oku: «Sie senden den Wandel», sayfa 3

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4.3 Zum Begriff »Kommunikation als Menschenrecht«

Ein zentraler Begriff dieser Studie ist der von der Kommunikation als einem Menschenrecht. Die in den USA und Lateinamerika übliche sprachliche Phrase »Kommunikation als Menschenrecht« ist im europäischen Raum bislang weitgehend unbekannt geblieben. Es bestehen auch große Unklarheiten hinsichtlich der Bedeutung des Begriffs.

Teleologisch mag sich zunächst nicht erschließen, warum die menschliche Kommunikation durch irgendein Recht geschützt oder gestärkt werden müsse. Denn die Kommunikation scheint dem Menschen als Bedürfnis inne zu liegen. Doch so steht es ganz ähnlich mit dem Bedürfnis nach Nahrung. Die Tatsache, dass Menschen regelmäßig Hunger verspüren, macht sie noch nicht satt. Aus diesem Grund gewähren viele nationale Rechtsordnungen und auch bereits die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Artikel 22) einen sozialen Schutz durch die Gesellschaft. Ein Recht auf Kommunikation hat teleologisch keine andere Funktion: Es würde einem menschlichen Bedürfnis zu einer (umfassenderen) Erfüllung verhelfen.

Juristisch-systematisch mag verwirren, dass einigen Rechten auch Pflichten gegenüber stehen. Wie müsste eine Pflicht zur Kommunikation aussehen? Allerdings sind die von Gesetzgeber, Rechtswissenschaft oder Gerichten ermittelten korrespondierenden Pflichten nur ganz selten exakte Spiegelbilder der Rechte.28 Selbstverständlich ist eine Pflicht zur Kommunikation ebenso abwegig wie die Pflicht, die eigene Meinung zu verkünden.

Juristisch-systematisch unklar erscheint weiterhin zunächst das Verhältnis zwischen dem in vielen nationalen Rechtsordnungen und den Menschenrechten historisch viel früher bereits anerkannten Recht der Meinungsäußerungsfreiheit sowie dem der Pressefreiheit29 einerseits und dem diskutierten Recht auf Kommunikation andererseits. Diese Verhältnis erhellt sich, wenn diese »älteren« Rechte als Teilmenge des neuen Rechtes eingeordnet werden, das insoweit weitgehender ist, als dass es das durchsetzbare Recht für eine wirksame Massenkommunikation für jeden Menschen beinhaltet und die Garantien der älteren Rechte beibehält. Das neue Recht wird dabei in kritischer Auseinandersetzung mit den realen Beschränkungen der alten Rechte diskutiert, wobei die Diskussion in inhaltlicher Hinsicht nicht erst seit kurzem stattfindet.

Der MacBride-Report30 problematisierte 1980 für diese Diskussion die relevanten Fragen: Wer hat die Meinungsmacht? Wer sendet wie für wen? Wer bleibt ungehört und wer wird gehört? Der Bericht rügte die Asymmetrie in der »öffentlichen« Kommunikation und regte ein »Recht auf Kommunikation« an, das auf symmetrische Kommunikation in allen Bereichen, in denen sie fehlt, zielte.

Die Pressefreiheit und das Recht auf freie Meinungsäußerung etablieren sich historisch mit dem Übergang des feudalistischen in das kapitalistische Zeitalter. Sie sind Geburtshelfer und Kinder des Kapitalismus zugleich. Geburtshelfer waren sie, weil die Ausübung dieser Rechte den Absolutismus als letzte Phase des Feudalismus zu erschüttern half. Kinder sind sie, weil erst die entwickelte Form des Kapitalismus eine umfangreiche Garantie dieser Rechte überhaupt leisten konnte. Nach der bürgerlichen Selbstwahrnehmung sind diese bürgerlichen Freiheitsrechte solche Rechte, die gleichermaßen jeden Bürger gegenüber dem Staat31 und gegenüber Privaten in mittelbarer Drittwirkung32 schützen.

Für die Ausübung der allgemeinen Meinungsfreiheit im privaten Bereich mag dies zutreffend sein. Mit Blick auf die die Meinungsfreiheit konkretisierende Pressefreiheit »genießt« die übergroße Zahl der Menschen dieses Recht nur als Empfänger*innen von Informationen, weil es ihnen an den materiellen Grundlagen für eine wirksame Massenkommunikation fehlt. Es ist nun nicht ungewöhnlich, dass in einer arbeitsteiligen Gesellschaft Wenige etwas Konkretes für Viele produzieren. Das stört für sich genommen auch nicht sonderlich, wenn es um Grünkohl, Taschenrechner oder Jeans geht. Der Medienbetrieb (re)produziert jedoch als Hegemonie die Informationen, die die kapitalistische Struktur der Gesellschaft betreffen.

Pressefreiheit ist das Recht von Wenigen, den Vielen die Welt zu erklären, und dies oft auch noch so, dass diese Vielen an dieser Welt besser nichts Entscheidendes ändern möchten. Was mögen sich dagegen wohl die Vielen zu erzählen beginnen, wenn sie sich gegenseitig zuhören könnten? Was würden sie dann verändern wollen? Es ist dieses Experiment eines symmetrischen Massen-Kommunizierens33, dem das Recht auf Kommunikation Vorschub leisten will.

1 Das Projekt umfasst Forscher*innen aus diesem Bereich, die aus allen Ländern des Kontinents Material und Ergebnisse beitragen.

2 Die genaue Anzahl an Stationen ist umstritten, weil man sehr unterschiedliche Kriterien an den Begriff »Community-Radio« anlegen kann, wobei strengere Kriterien zu eher 3000 Stationen führen und weichere Kriterien 6000 ergeben können.

3 Die Rechtsnatur des Eigentums und seine faktische Funktion müssen nicht übereinstimmen. Sind zum Beispiel alle Mieter eines Mietshauses zugleich Eigentümer desselben Hauses (wie etwa beim deutschen Miethäusersyndikatsmodell), so hat sich an der Rechtsnatur des Eigentums nach § 903 BGB nichts geändert, wohl aber an der faktischen Funktion. Es dient nun dem Interesse der Mieter*innen nach möglichst niedrigen Mieten, nicht mehr der Erzielung möglichst hoher Mieteinnahmen.

4 Im deutschsprachigen Raum hat mittlerweile eine Unterscheidung der Benennung der Methode als Grounded Theory sowie eine Bezeichnung ihrer Resultate als gegenstandsbezogene Theoriebildung ihren Platz gefunden. (Lampert, S. 2005: 516)

5 Glaser, B. G. und Strauss, A. (1967): The Discovery of Grounded Theory – Strategies of qualitative research.

6 In dieser Arbeit wird »The Discovery of Grounded Theory« aus dem Jahre 1967 in der deutschen Übersetzung von 1998 »Grounded Theory. Strategien qualitativer Forschung« herangezogen.

7 Legewie, Heiner und Schervier-Legewie, Barbara (2004): »Forschung ist harte Arbeit, es ist immer ein Stück Leiden damit verbunden. Deshalb muss es auf der anderen Seite Spaß machen«.

8 Zur Vertiefung der »Fremdheitsannahme« bzw. »Verfremdungshaltung« rekonstruktiver Sozialforschung, die überwiegend in der Ethnografie ausgearbeitet wurde, siehe: Hirschauer, S. und Amann, K. (1997).

9 Von Strauss eher betont als von Glaser.

10 Sie entstanden in Workshops entlang der partizipativen Dreharbeiten zu dem Dokumentarfilm »Sachamanta«.

11 Ein faszinierendes und praktisches Handbuch, das Schritt für Schritt Interviewtechniken darstellt.

12 Manche Interviewpartner*innen antworteten auf eine Frage etwa mit Bemerkungen wie: »Nun, das müsstest Du ja selbst wissen« oder »Du kennst das ja«. Meine Reaktionen lauteten dann durchweg: »Nein, ich kenne das nicht.« oder »Ich möchte es von dir und aus deiner Sicht wissen.«

13 Für eine weitere Vertiefung des Gegenstands und zum Umgang mit Leitfaden-Interviews empfehle ich Helfferich (2005).

14 Im Laufe der Differenzierung der Methode in verschiedene Methoden betonte Strauss stärker, dass die Forschenden notwendig theoretisch vorgeprägt sind. Glaser bestand darauf, dass sich die Theorienbildung allein aus den Daten zu ergeben habe. Bereits in ihrer gemeinsamen Arbeit war dieser Konflikt angelegt.

15 Aktionsforschung oder auch action research geht auf den Sozialpsychologen Kurt Lewin zurück. Der deutsch-jüdische Wissenschaftler floh vor dem Antisemitismus des deutschen Nazismus und entwickelte den Ansatz in den USA. Ein Teil seiner Arbeiten ist heute online abrufbar: http://gth.krammerbuch.at/sites/default/files/articles/Create%20Article/25_KL_F.pdf

Im deutschsprachigen Raum brauchte es fast 20 Jahre, bis nach dem Zusammenbruch Hitlerdeutschlands die Ansätze von Lewin wieder interdisziplinär diskutiert wurden. Weiterführende Lektüre bei: Unger, H. von (2014): Partizipative Ansätze. Einführung in die Forschungspraxis, Berlin.

16 Dick, B. (2007): »What Can Grounded Theorists and Action Researchers Learn from Each Other?«, in: Bryant, A. and Charmaz, K.: The SAGE Handbook of Grounded Theory, S. 398–416.

17 Pieper, R. (1972): »Aktionsforschung und Systemwissenschaften«, in: Haag, F. (Hg.): Aktionsforschung, München, S. 100–116.

18 Lewin, K. (1946): Action research and minority problems. In Resolving social conflicts: Selected papers on group dynamics. New York, 201–216.

19 Moser widmet dem Minimalkonsens ein ganzes Kapitel. (Moser, H. 1977b: 30–34)

20 Die Tabelle der density der Codes befindet sich im Anhang II: Codesbuch dieser Veröffentlichung.

21 Dewey, J. [1927] 1954: Neuauflage: John Dewey: The Public & its Problems. Athens, Ohio.

22 u.a. Charles Horton Cooley, Walter Lippmann und John Dewey.

23 Wenn das Selbstgespräch der Verdeutlichung von Handelsoptionen diente, ist es Kommunikation.

24 Dann wäre dieser Roman ein relativ erfolgloser kommunikativer Akt.

25 Vielleicht kommt es auf die Mimik an.

26 Selbstverständlich ist der Begriff selbst älter, aber unser Verständnis des Inhalts des Begriffs entstammt einer sehr viel jüngeren Epoche.

27 Was kein bewusstes Handeln erfordert, wie diese Studie später präziser ausführt.

28 Dem Recht der Eltern, ihre Kinder zu erziehen, entspricht spiegelbildlich die Pflicht, das auch zu tun. (Artikel 6, Absatz 2, Satz 1 Grundgesetz)

29 Pressefreiheit wird hier (nach der historischen Herkunft) synonym verwendet für alle Formen der Medienfreiheit. Das Grundgesetz erwähnt die Presse- und Rundfunkfreiheit. Im englischen Sprachgebrauch umfasst »Freedom of Press« grundsätzlich alle Bereiche der (Massen)Medien.

30 Der MacBride-Report aus dem Jahr 1980 ist Teil einer Untersuchung mit dem Titel »Many Voices, One World. Communication and Society Today and Tomorrow«. Er war ein wichtiger Versuch, das Verständnis von Kommunikation als Menschenrecht auf dem internationalen Parkett zu präsentieren und beinhaltet auch bereits den juristischen Term »Kommunikation als Menschenrecht« sowie dessen Herleitung aus der grundsätzlichen Funktion aller Menschenrechte, die den Menschen (in liberal-freiheitlicher, sozialer oder weiterer Weise) davor schützen soll, zum Objekt fremder Macht erniedrigt zu sein.

31 Der Staat darf unliebsame Meinungen oder Meinungen grundsätzlich nicht unterdrücken.

32 Der Staat darf im Verhältnis zwischen Privaten der Unterdrückung unliebsamer Meinungen oder Tatsachen grundsätzlich keinen Vorschub leisten.

33 Hier ließe sich naheliegend einwenden, dass zunächst kaum vorstellbar ist, wie für eine symmetrische Kommunikation die Vielzahl an Frequenzen, Stationen, Druckerpressen oder Servern bereit gestellt werden sollte. Doch das ist ein Scheinproblem. Diese Studie wird in den folgenden Kapiteln zeigen, dass es um die Ausübung von Kommunikationsrechten in Gruppen geht, denen die notwendigen Mittel an die Hand zu geben sind, um diese Rechte wahrzunehmen.

2. Motivation

»I'd sit alone and watch your light / my only friend through teenage nights / and everything I had to know / I heard it on my radio / You gave them all those old time stars / through wars of world invaded by Mars / you made 'em laugh you made 'em cry / you made us feel like we could fly radio / So don't become some background noise / a backdrop for the girls and boys / who just don't know or just don't care / and just complain when you're not there«

(Radio Gaga, Roger Taylor, Queen, The Works, 1984)

Ich gehör(t)e einer Generation und auch einer gesellschaftlichen Klasse in Argentinien an, bei der das Radio lange Zeit das einzige Medium war und noch längerer Zeit das wichtigste Medium blieb. Seit ich denken kann, war das Radio von frühmorgens, beim Aufstehen und Frühstücken, über das Nachmittagsprogramm bis spät in den Abend unser lautester bester Freund in der Familie. Das Radio erklärte uns die Welt und es war die politische Luft, die wir atmen konnten, atmen mussten, wenn wir nicht gleichsam politisch ersticken wollten.

Im Jahre 1983 verfügte meine Familie außerdem bereits über ein Fernsehgerät; doch als Argentinien in diesem Jahr den Falklandkrieg verlor, die Militärdiktatur bröckelte und aus der Geschichte verschwand, da verfolgten wir das Unvorstellbare täglich weiter im Radio, weil wir es den ganzen Tag hören konnten.

Das Bild von der geatmeten Luft trifft den Kern der Sache: Der Mensch muss den ganzen Tag, das ganze Leben lang ununterbrochen atmen – Radios gibt es auf Küchenanrichten, in Autos, in tragbarer Form im Bus, in der Schule und auf der Straße. Sie lassen sich am Abend auf dem Nachttisch einschalten und mischen sich in die Träume ein. Radios existieren an allen Orten und sie erlauben es unseren Beinen, Händen und Augen sich mit anderem zu beschäftigen, zu laufen, zu arbeiten, zu ruhen, während unsere Ohren dennoch weiter aufmerksam zuhören können. Das unterscheidet Radios von Fernsehern, Zeitungen oder Büchern. Diese gleichen – um im Bild des „Leben-müssens“ zu bleiben – dem zum Leben notwendigen Essen und Trinken, aber nicht der Atemluft.

Nicht nur für mich oder meine Familie, sondern für die argentinische Gesellschaft war das Radio das wichtigste Medium, um Informationen zu bekommen. Aber vor allem war es das wichtigste Medium, um analytisches und kritisches Denken zu erlernen und zu üben. Radio war ein Gleichmacher. Niemand musste lesen können, um es zu hören. Niemand musste reich sein, um es zu besitzen. Jeder musste gleichermaßen das eigene Vorstellungsvermögen trainieren, um dem Erzählten die passenden Bilder abzuringen, die Stimmen in Personen zu verwandeln, die Geräusche in Orte zu denken.

Das Radio war, besonders unmittelbar nach dem Ende der Diktatur, ein Labor der Medien und der Kritik der Medien. Viele Menschen, die heute in der argentinischen Medienlandschaft eine geachtete Rolle spielen, egal in welche politische Richtung sie sich mit den Jahren entwickelten, experimentierten und laborierten damals mit dem Radiomachen. Der Umbruch zur bürgerlichen Demokratie ließ eine zuvor nie geahnte Vielfalt politischer Sendungen entstehen, deren Grundlage und Grenzen natürlich in den materiellen Erfordernissen lagen, Technik, Sendeplatz und Personal bezahlen zu können. Auch das wissenschaftliche Nachdenken über das Medium Radio kam in Fahrt und hält bis heute an. Die Rolle des Radios in (insbesondere) der argentinischen Gesellschaft ist durch eine Vielfalt von Publikationen1 für weitere Generationen festgehalten worden. Sie falsifizieren das in Europa projektierte Bild der lateinamerikanischen TV-Familie2 und befassen sich mit der Entstehungsgeschichte und der Entwicklung des Mediums Radio von seinen Anfängen bis hin zum Ende der 1990er Jahre. Inhaltlich konzentrieren sie sich auf das Radio, das heute als etabliert verstanden wird, und zusammenfassend behandeln sie folgende naheliegende Schwerpunkte:

 Die Leidenschaft und Abenteuerlust der ersten Generation von Radiomachenden, die sich auf die Entwicklung des technischen Bereichs und des Radios als Gerät konzentrierten. (Los Locos de la Azotea3) (Ulanovsky, C. et al.: »Días de radio I« 2004: 13-28 und López Vigil, J. I. 2005: 11)

 Das Besondere der Live-Sendungen, entweder durch die Direktübertragung von Opernaufführungen oder durch die Vorbereitung von Radioabenden in großen Theatersälen.

 Die Rolle der Sendungssprecher*innen (Moderator*innen) und deren Verbindung mit der Hörerschaft, die sich zunächst durch Briefe und später über das Telefon an den Sender zu Wort meldeten.

 Das unmittelbare kollektive Gefühl einer Identifikation, bis heute können die meisten Argentinier*innen ohne Zögern auf die Frage antworten: »Welche Radiostation hören Sie gern?«

Die Antworten auf diese Frage fallen natürlich nach Region, Interessen, Musikgeschmack, politischer Verortung etc. ganz verschieden aus. In Argentinien wäre dies zunächst nicht anders als in der Bundesrepublik bzw. in Europa. Doch etwas wäre in Argentinien und in weiten Teilen Lateinamerikas ganz anders als hier in Europa. Viele antwortende Hörer*innen würden Sender nennen, die sich weder als öffentlich-rechtliche bzw. staatliche Sender noch als gewinnorientierte private Sender auffassen lassen. Es wären zahlreiche Sender unter den Nennungen, die einem bestimmten emanzipatorischen Projekt, einem selbstverwalteten Stadtteil, einer großen Fabrik in Arbeiter*innenhand oder einer sozialen Bewegung auf dem Land zugeordnet werden können. Menschen würden damit solche Sender nennen, deren Macher*innen sie häufig persönlich kennen, mit denen sie sich am Mittag oder Abend zum Essen treffen oder am Morgen in der Bürgerversammlung sitzen und die sie vermutlich schon mehrfach eingeladen haben, an der Programmgestaltung oder dem technischen Betrieb dieses Lieblingssenders mitzuwirken.

Einen Teil dieser Sender, die in der argentinischen und lateinamerikanischen Politik und Kultur eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen, sich aber in ihrer Funktion und Relevanz deutlich unterscheiden lassen von den im deutschen und europäischen Kontext (leider) weit weniger bedeutsamen »Freien Radios« fasse ich im Folgenden unter dem Begriff der »Community-Radios«4 zusammen. Ihre Absichten, ihre innere Aufstellung, ihr Selbstverständnis und ihre Funktion für antikapitalistische Transformation und dem Kampf gegen Entfremdung sind ebenso Gegenstände dieser Studie wie die zahlreichen Wechselwirkungen zwischen den Stationen und den sozialen Bewegungen5.

Als wichtiger Teil einer sehr agilen und wirksamen Gegenöffentlichkeit haben Community-Radios und ihre Aktivist*innen in Argentinien nicht nur den gesellschaftlichen Diskurs nach dem Ende der Militärdiktatur wesentlich mitbestimmt, waren Stimme und Zentrum für antikapitalistische und emanzipatorische Projekte, sondern sie haben auch eine wesentliche Rolle gespielt bei einer radikalen (und vorübergehend wieder gefährdeten) Umgestaltung der argentinischen Medienlandschaft.

Eine der europäischen und deutschen ähnlichen Diskussion über die (ungute) Dominanz der Massenmedien für den gesellschaftlichen Diskurs in der »Öffentlichkeit«6, die in Argentinien geführt wurde, endete im Dezember des Jahres 2009 für viele Beobachter*innen völlig überraschend mit einem Bundesgesetz, das nicht weniger als einen radikalen7 Umbruch der Medienlandschaft bedeutete. Staatliche Medien (öffentlich-rechtliche8) und gewinnorientierte (private) Medien sollten sich nun damit abfinden müssen, dass neben ihnen eine dritte Säule, eine dritte Art von Medien gleichberechtigt existieren würde und – das ist das Besondere – ein Drittel aller Sendeplätze und Frequenzen verlangen und zu ihrer Verwendung vom Staat die notwendigen materiellen Mittel fordern könnten. Diese dritte Medienart wird durch das neue Gesetz: private9 (aber) nicht gewinnorientierte Medien genannt.

Das Gesetz musste sich diese Gruppe der Medien nicht erst ausdenken. Diese Art der Medien existierte bereits. Ihre wirkmächtigste Form waren m.E. die Community-Radios. Aber auch andere Radios der dritten Art, erste Stadtteil- Fernsehsender und natürlich auch Zeitungen und Magazine10 dieser Art von Medien waren schon vor Inkrafttreten des Gesetzes zahlreich aktiv, engagierten sich seit Jahren für die Genese des neuen Gesetzes und erfuhren nun eine bis dahin unerhörte Aufwertung.

Die Gegenöffentlichkeit, die alternative Öffentlichkeit, die Gegenhegemonie wechselte aus dem Feld des gegen alle Widerstände dennoch möglich Gemachten hinüber in das Feld der vom Staat Gewollten und Geförderten. Die Kräfte der Veränderung und Überwindung der (kapitalistischen) Gesellschaft, der Entwicklung der Demokratie und der Humanität erhielten ein Drittel der medialen Potenz der Medienlandschaft des Landes als ihr Terrain und Schutzraum zugewiesen. Es war etwas geschehen, das in fast allen anderen Staaten der Welt derzeit vollkommen unmöglich erscheint. Wer es dort dennoch für sich wünscht, muss sich fragen: Wie wurde das Unmögliche möglich gemacht? Wie wurde es erkämpft? Was waren die gesellschaftlichen, sozialen und ökonomischen Momente, die für diesen Kampf hilfreich Pate standen? Was wurde bis heute in der Praxis aus diesem unmöglichen Gesetz umgesetzt? Auch diesen Fragen geht diese Studie umfassend nach.

Vor allen wissenschaftlichen Interessen, Neigungen und natürlich auch dem Streben nach persönlicher Entwicklung gab es ein überragendes Motiv für mich, diese Studie zu verfassen: Hoffnung. Ich habe die Hoffnung, dass linke und progressive Kräfte in Deutschland und Europa aus den jüngeren Entwicklungen in Lateinamerika lernen können, weil die Lust auf neues Wissen größer sein kann als die eurozentristische und westliche Arroganz, die dem Prozess des Lernens »vom Süden« einstweilen noch deutlich entgegensteht: Lateinamerika wird hierzulande mitunter beschaut, bestaunt oder bedauert, doch die dort real stattfindenden Hinwendungen zu einer postkapitalistischen Gesellschaft werden meist als ein für hiesige entwickelte Zustände kaum relevantes Aufbäumen der Unterdrückten der unterentwickelten Peripherie wahrgenommen. Eine Übertragung der dortigen Ideen, Analysen, Strategien und Taktiken ist aber nicht so sehr gehindert durch die Verschiedenheit der Verhältnisse, sondern eher durch die hiesige Hoffnungslosigkeit. Zu hart, zu verletzend, zu lähmend wiegen der ökonomische Untergang und die moralische (Selbst-)Entweihung des europäischen Sozialismus und zu offenbar, zu vernünftig, zu klar scheint die Erkenntnis, der Kapitalismus habe auf lange Zeit gesiegt. Es sind aber die Menschen, die ihre Geschichte machen, dies eben nicht nur unter den Umständen, die sie vorfinden, sondern die sie gestalten, die sie mit Mühe dem Vorgefundenen und sich selbst abringen müssen.11

Ohne Hoffnung hat diese Mühe keinen Anfang. Der deutsche Philosoph Ernst Bloch schrieb, es »kommt darauf an, das Hoffen zu lernen. Seine Arbeit entsagt nicht, sie ist ins Gelingen verliebt statt ins Scheitern.« (Bloch, E. [1959] 1985: 1) Wer das Gelingen sucht, wer Hoffnung lernen will, braucht hoffende und handelnde Vorbilder. Die gibt es. Sie finden sich auf der ganzen Welt, und sie finden sich auch in Argentinien und in Lateinamerika.

Ich danke den Menschen, die sich in den Community-Radios und in den sozialen Bewegungen in Argentinien für eine postkapitalistische Gesellschaft engagieren. Ich danke den Dozenten der Universität Buenos Aires José Seoane, Claudio Vivori, Damián Loreti, Guillermo Mastrini und Santiago Marino, die mir erneut gezeigt haben, dass eine andere Universität möglich ist. Ich danke meiner Mitstudentin Ligia Nicolai, die mir bei der Transkription der Interviews unter die Arme griff und mit ihren Anmerkungen und Ideen die Analyse beflügelt hat. Ich danke der Rosa-Luxemburg-Stiftung, deren Stipendiatin ich zeitweilig war. Ich danke El Caminante und Marcus Wagner für das sorgfältige Lektorat. Ich danke all den vielen Menschen, die mich bei diesem Promotionsprojekt unterstützt haben, indem sie es durch ihre Kritiken und ihre Anregungen bereicherten.

Viviana Uriona, Berlin, Oktober 2016

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