Kitabı oku: «Im goldenen Käfig», sayfa 4
Freunde
Wenn Freunde von Bilal zu uns nach Hause kamen, wurde die Luft erfüllt von einer Mischung aus Haschisch- und Zigarettenrauch. Sie rauchten und tranken Bier und vergnügten sich, mir jedoch gefielen diese Abende überhaupt nicht. Ich konnte mittlerweile den ganzen Lärm und den Rauch nicht mehr ertragen, daher musste ich oft das Haus verlassen. Ich konnte ihren Atem, getränkt von Rauch und Alkohol, nicht mehr ertragen, genauso wenig wie ihre Blicke, verloren in der Leere, als stünden sie unter Schock. Ihr Sprechen wurde schleppend und ihre Augen rot und glänzend, als hätte sie hohes Fieber. Ihre blasse Haut wurde noch blasser und war von Müdigkeit gezeichnet. Geistig schienen sie auf einem ganz anderen Planeten zu sein. Wenn sie sich in diesem Zustand befanden, lachten sie hemmungslos und am Tag danach waren sie völlig antriebslos. Die Freude der vergangenen Nacht war am nächsten Morgen verschwunden. Aber sie wiederholten alles am nächsten Abend. Sie forderten mich auf zu trinken und mit ihnen Joints zu rauchen, doch ich dachte noch nicht einmal daran. Das war gegen meine Moral und gegen meine Kultur. Wenn wir uns in der Bar trafen, blieb ich abseits sitzen und trank Tee, litt unter dem Rauch und der lauten Musik und dem deutschen Geschwätz, das ich nicht verstand. Es wurde oft spät und wegen der Schwangerschaft war ich oft müde. Ich bat Bilal, mit mir nach Hause zu gehen, doch er zog es vor, sich mit seinen Freunden zu amüsieren. Oft war ich gezwungen, um zwölf oder ein Uhr nachts zu Fuß nach Hause zu gehen. Gott sei Dank ist mir auf diesem Weg niemals etwas zugestoßen. Nur einmal wurde ich von einem Betrunkenen belästigt. Ich saß vor der Bar, um etwas frische Luft zu schnappen, in der Hoffnung, dass Bilal herauskäme und mich nach Hause brachte. Ein Mann kam torkelnd auf mich zu, blieb stehen und sah mich an. Er sagte etwas zu mir, das ich nicht verstand. Er kam auf mich zu, zog mich fest in seine Richtung und gab mir einen Kuss. Ich war erschrocken, da mich dies vollkommen überraschte. Ich stieß ihn voller Entsetzen weg, spuckte auf den Boden und wischte mir über den Mund. Ich begann, ihn auf Berberisch zu beschimpfen, ich war so wütend und schämte mich. Ich zitterte und brach in Tränen aus. Ich fühlte mich von diesem Schwein beschmutzt. Ich sagte nichts zu Bilal, aus Angst, er würde mir die Schuld geben. Von da an beschloss ich, ihn nicht mehr in diese Lokale zu begleiten, nur noch in die normalen Restaurants und nicht mehr bis spät in die Nacht. So ging er mit seinen Freunden aus, während ich oft mir selbst überlassen zu Hause blieb. Nicht alle Freunde von Bilal übertrieben den Konsum von Alkohol oder nahmen diese Substanzen, die ihre Persönlichkeit beeinflussten. In ihrer Gesellschaft fühlte ich mich gut. Ich entschied mich, an mein Baby zu denken, das bald zur Welt kommen sollte. Deswegen wollte ich mich nur mit Leuten abgeben, die ein etwas ruhigeres Leben führten. Dieser Entschluss führte dazu, dass ich Bilals Freunde zum Rauchen nach draußen schickte, was nicht allen gefiel. Zum Glück hatte Bilal verstanden, dass es um die Gesundheit unseres Kindes ging und so rauchte er nicht mehr im Haus oder später in Gegenwart unserer Kinder, sondern nur noch draußen oder auf dem Balkon. Von da an war der Trubel in unserem Haus deutlich weniger. Ich hatte begonnen, einen Platz in meinem Leben zu finden und entschied mehr und mehr, was für mich und für meinen Sohn, der bald geboren werden würde, richtig war und was nicht. Ich wünschte unseren Freunden nur das Beste, da sie eigentlich nette, liebenswerte und rücksichtsvolle Menschen waren, doch wir hatten einfach eine ganz andere Einstellung zum Leben. Im Laufe der Zeit, als ich die Freunde besser kennenlernte, verstand ich, dass sie viel Mitgefühl für die soziale Situation und die Lage in der Welt hatten. Sie waren gegen bestimmte politische Entscheidungen, gegen Waffen und Krieg, gegen die Industrialisierung, die Umweltverschmutzung verursachte, sie waren gegen Ungerechtigkeit und Armut, gegen den Stress, der in der Arbeitswelt herrschte und so weiter. Ich denke, um all die Ungerechtigkeit, die in der Welt herrscht und in der sie zu leben gezwungen waren, ertragen zu können, haben sie sich der hypnotisierenden Wirkung dieser Substanzen hingegeben. Doch ohne es zu merken, hat diese Wirkung den Zustand und die Qualität ihres Lebens weiter verschlechtert. Wenn man keinen klaren Kopf und keinen wachen Verstand mehr hat, kann man weder das eigene Leben meistern noch Besserung in der Welt erzielen. Vielleicht irre ich mich, aber so sehe ich das.
Trotz der kleinen Schritte, die ich gemachte hatte, um meine Lebenssituation zu ändern und mich zu integrieren, fühlte ich mich nach wie vor in allem vom Bilal abhängig, sogar in Bezug darauf, wie ich mich kleiden sollte, wohin ich ging und was ich einkaufte. Bereits am Abend zuvor fragte ich immer, was ich am nächsten Tag einkaufen und kochen sollte. Wenn ich Kleidung kaufte, wählte ich nur die Farben aus, die ihm gefielen und am Ende hatte ich vor allem Klamotten in Beige oder Khaki, seine Lieblingsfarben, anstatt in den Farben Orange, Gelb, Grün und Braun, meine Lieblingsfarben. Ich fragte ihn bei allem um seine Meinung, da ich Angst hatte, einen Fehler zu machen. Ich glaubte immer noch, ich sei dumm und alle anderen wären besser als ich. Geistig war ich weiterhin in der der Rolle der Sklavin, in der mir immer andere Anordnungen gaben, was ich zu tun oder zu lassen hätte. Ohne es zu merken, sah ich Bilal als meinen Herrn an, der mir Befehle erteilte. Ihm hingegen gefiel es keineswegs, dass ich ihm bei jeder Kleinigkeit um Rat fragte. Er ließ mir meine Freiheit und ermutigte mich, meine Entscheidungen eigenständig zu treffen. Bis zu diesem Moment jedoch hatte ich noch niemals eine Entscheidung ganz auf mich allein gestellt getroffen und war noch niemals an einen Ort gegangen, ohne jemanden um Erlaubnis zu bitten. Im ersten Moment fühlte ich mich verloren, wie ein Fisch an Land. Ich musste mich an diese neue Situation gewöhnen, doch das war einfacher gesagt als getan. Ich musste schnell lernen, dass mir Bilal die Verantwortung für alles überließ, was mit unserem Zuhause zu tun hatte und, infolgedessen, auch die Erziehung unseres Sohnes. Ich erledigte alles so gut ich konnte.
Carla und Pina kamen auch weiterhin vorbei. Neben Schreiben und Lesen hatten sie mir beigebracht zu nähen, zu häkeln und zu stricken. Tätigkeiten, von denen ich schon als kleines Kind geträumt hatte, doch als Sklavin hatte ich keine Möglichkeit gehabt, solche Fertigkeiten zu erlernen. Pina war von Beruf Schneiderin und zeigte mir, wie ich meine eigenen Kleidungsstücke nach Maß nähen konnte. Bald lernte ich, mir Kleider, Röcke, Jacken und Blusen zu nähen. Später nähte ich auch die Kleidung für die Kinder und lange Röcke, die ich meinen Schwestern und meiner Mutter nach Marokko schickte. Ich hatte mir eine günstige Nähmaschine gekauft, ein altes Modell, das man mit Fußpedalen betrieb. Ich kaufte Scheren, Stoff, Faden, Knöpfe, Reißverschlüsse und dann konnte es losgehen. Ich hatte solche Freude, wenn ich meine eigenen Kreationen zwischen meinen Händen entstehen ließ und ich sie auch tragen konnte. Pina kontrollierte, dass die Nähte gerade und sauber waren und ob der Stoff perfekt geschnitten war. Sie war sehr genau und alles musste perfekt sein. Ich gehorchte ihr und korrigierte die Fehler, die nicht akzeptabel waren. Carla hingegen war meine Lehrerin für das Häkeln und Stricken, aber auch für die mediterrane Küche. Endlich hatte ich genug zu tun und langweilte mich nicht mehr. Ich war begierig danach, Neues zu lernen und war wie ein Schwamm, der alles aufsaugte. Ich lernte soviel ich nur konnte und war diesen meinen Freunden und Gott so wahnsinnig dankbar dafür, dass ich jemanden hatte, der mich lehrte.
Die Geburt
Am 20. 9. 1984 gegen drei Uhr am Nachmittag verspürte ich Schmerzen im Unterleib, während Carla und Pina bei mir waren. Als ich es ihnen gesagt hatte, rieten sie mir, meinen Koffer zu packen, da vielleicht der Zeitpunkt der Geburt gekommen wäre. Ich packte meinen Koffer mit ihrer Hilfe, weil ich keine Ahnung hatte, was man in ein Krankenhaus mitnehmen sollte. Die Schmerzen waren nicht allzu stark und so wartete ich, bis Bilal nach Hause kam. Sobald er kam, stellte ich sein Essen auf den Tisch und setzte mich ihm gegenüber. »Isst du nichts? Was hast du, geht es dir nicht gut?« »Doch, doch, mir geht es gut, ich habe nur etwas Bauchschmerzen.« »Bauchschmerzen, sagst du?« Er sprang auf und rannte die Treppe hinunter. Zwei Minuten später kam er rufend zurück: »Komm runter, los, wir gehen! Tobias fährt uns mit seinem Auto!« Er nahm mich an der Hand und lief los. »Moment! Der Koffer!« Beim Anblick des Krankenhauses blieb ich staunend mit offenem Mund stehen. Ich hätte nicht gedacht, dass es solche Krankenhäuser gab. Alles war schön und neu und glänzte vor Sauberkeit und Ordnung. Ich war besonders von den bequemen Betten mit Decken und Kissen aus flauschigen Federn beeindruckt. Das Bett, das man durch einfaches Drücken auf einen Knopf bewegen konnte, faszinierte mich, man konnte es nach oben und unten fahren oder nach vorn oder hinten kippen. Nichtsdestotrotz hatte ich Angst und war starr vor Schreck. Niemand hatte mich auf die Geburt vorbereitet und ich hatte nicht die geringste Ahnung davon, was mich erwartete. Die Schmerzen wurden stärker und beinahe unerträglich. Ich hatte die Nacht mit Schmerzen verbracht, aber mein Baby kam nicht auf die Welt, es hatte den Kopf noch an meiner rechten Seite und sich noch nicht nach unten gedreht. Bilal war nach Hause gegangen, kam aber am Morgen mit einem Fotoapparat zurück und begann, mich in der Lage, in der ich mich befand, zu fotografieren. Am Mittag entschieden die Ärzte, Instrumente einzuführen, um meinen Uterus zu weiten, während zwei Frauen mir auf den Bauch drückten, um die Geburt einzuleiten, doch nichts geschah. Ich war noch verkrampfter als sowieso schon, da die Ärzte Männer waren, die ständig wiederkamen, um ihre Hände zwischen meine Beine zu legen und die Öffnung meiner Gebärmutter abzutasten. In der Zwischenzeit war Bilal für zwei Stunden verschwunden und kam anschließend torkelnd zurück. Er hatte zu viel Bier getrunken, vielleicht wusste er nicht, wie er mit seiner Freude als werdender Vater umgehen sollte. Als ich ihn so sah, verspürte ich Wut und fühlte mich von ihm im Stich gelassen. Er machte ein paar Bilder und verschwand erneut, und ließ mich in meiner Verzweiflung zurück. Ich verstand das Krankenhauspersonal nicht, das mir Fragen auf Deutsch stellte, noch konnte ich meine Bedürfnisse äußern, was meine Situation noch verschlimmerte. Wir versuchten uns mit Händen und Füßen zu verständigen und mit dem bisschen Italienisch, das einige sprachen. Die Pfleger und Ärzte streichelten meinen Kopf, um mich zu trösten und mir zu sagen, wie tapfer ich sei. Trotz der starken Schmerzen schrie ich nicht, nur die Tränen liefen mir lautlos über die Wangen. Ich sah zu dem großen Fenster hinaus, das auf eine grüne Wiese blickte und das das Sonnenlicht hereinließ, das den ganzen Raum erhellte. Um ein Uhr am Nachmittag beschlossen die Ärzte, einen Kaiserschnitt vorzunehmen. Es kam ein Arzt mit schwarzem Bart und mit einer Nadel in der Hand, die er langsam in meine Wirbelsäule einführte. Zu Beginn schmerzte dies sehr, doch dann spürte ich nichts mehr. Die Hälfte meines Körpers, ab dem Bauch abwärts, war wie tot. Sie wollten gerade den Schnitt setzen, als sich mein Baby wie durch ein Wunder in letzter Minute drehte und nun mit dem Kopf nach unten lag. Zwei Frauen drückten auf meinen Bauch und schließlich kam der Kleine ohne Kaiserschnitt auf die Welt. Bilal war glücklicherweise rechtzeitig zurückgekommen, um bei der Geburt seines Sohnes dabei zu sein, und fotografierte die gesamte Geburt. Ich verspürte eine große Scham, wenn ich daran dachte, dass diese Bilder in einem Fotolabor von fremden Menschen entwickelt werden würden. Obwohl ich körperlich am Ende war, spürte ich eine immense Freude, als man mir mein Kind an die Brust legte und mir sagte dass es ein Junge war. Ich habe nie zuvor eine solche Freude erlebt. Endlich hatte ich ein Lebewesen, das Teil von mir und Teil meines Lebens sein würde. Während ich sein kleines Köpfchen streichelte und ihm ins Ohr flüsterte, wie schön er war und wie glücklich ich über seine Geburt war, dachte ich an meinen Vater. Es war, als wollte ich diese Freude mit ihm teilen.
Ich blickte gen Himmel und dankte Gott für dieses kostbare Geschenk. Ich sah auf mein Baby und tief in meinem Herzen wusste ich, jetzt war ich komplett, mein kleiner Youns wäre von heute an all das, was mir immer gefehlt hatte. Er würde meine Familie und die Freude meines Lebens sein. Von heute an wäre ich nie wieder allein. Ich genoss es gerade, meinen kleinen Jungen auf dem Arm zu haben, als ich sah, dass sich der Arzt mit dem Bart auf einem Hocker vor meinen noch immer gespreizten Beinen, die mit einem Laken bedeckt waren, zurechtrückte. Ich frage mich, was er wohl tat, als ich sah, wie er ein Stück Faden in eine Nadel fädelte und begann, den Schnitt in meinem Intimbereich zu nähen, den sie mir gesetzt hatten, um meinem Baby auf die Welt zu helfen. Er saß da und nähte ruhig vor sich hin, als wäre es ein Stück Stoff. Ich wäre vor Scham am liebsten im Boden versunken. Doch trotz alledem war ich den Pflegern und den Ärzten unendlich für ihre liebevolle Fürsorge und Aufmerksamkeit dankbar. Niemals hätte ich geglaubt, dass mich Menschen einmal auf solche Weise behandeln würden. Bilal strahlte vor Freude, während er sein Baby unsicher auf den Arm nahm. Zu meinem Glück war der Film beschädigt worden: Offensichtlich hatte Bilal die Fotokamera im Licht geöffnet. So gab es keine Bilder und Bilal war über alle Maßen enttäuscht. Nach wenigen Minuten fiel ich in einen tiefen Schlaf, aus dem ich erst am Abend auf der Suche nach meinem Baby erwachte. Er lag neben mir, in eine himmelblaue Decke eingewickelt und schlief in seinem Bettchen wie ein Engel. Am nächsten Tag kamen Pina und Carla vorbei und nahmen Youns glücklich auf den Arm. Sie küssten ihn und betrachteten ihn so voller Zärtlichkeit, als wäre er ihr Neffe. Auch Bilal kam mich besuchen, beschränkte sich aber darauf, mich zu begrüßen. Er blieb mit verschränkten Armen und verärgertem Gesichtsausdruck stehen. Nach fünf Minuten ging er bereits wieder. Er sagte, er hasse Krankenhäuser. Sobald er auch nur einen Fuß hineinsetze, bekäme er keine Luft mehr. Er hatte eine Art Krankenhausphobie. Ich versuchte ihn zu verstehen, doch es machte mich traurig, dass er nicht bei mir war und ich die Freude über unseren Sohn nicht mit ihm teilen konnte, wie es meine Zimmergenossinnen mit ihren Ehemännern taten. Am Morgen des Tages nach der Geburt kam eine Krankenschwester und brachte mich in ein anderes Zimmer, das voller kleiner Bettchen war, in dem die Säuglinge lagen. Sie nahm Youns aus einem der Bettchen und ging in Richtung eines großen Waschbeckens. Sie wollte mir zeigen, wie ich das Baby waschen und umziehen könnte. Auch wenn ich die Worte nicht verstand, wiederholte ich alles, was sie tat. Schon beim ersten Versuch hatte ich die Prüfung bestanden und wurde zu einer frisch gebackenen Mutter. Dies gab mir die Krankenschwester durch ihre Art, wie sie lächelte und mich lobte, zu verstehen. Für mich sind Arbeiten von Hand kein Problem, auch als Sklavin hatte ich mich immer um die Kinder gekümmert. Das Problem lag allerdings woanders. Ich folgte der Schwester zurück in das Zimmer, dort stand eine Waage auf einem Tisch. Sie forderte mich auf, das Baby zu wiegen und das Gewicht und die Uhrzeit auf einen Block zu schreiben, um den Kleinen später nach dem Stillen wieder zu wiegen. Ich war sehr verwirrt, da mir derartiges völlig neu war. Bei uns werden die Leute nicht gewogen. Nur Hühner und Kaninchen, bevor sie zum Verkauf auf den Markt in unserem Dorf gebracht wurden. Ich war sehr unbeholfen und starrte die Krankenschwester an, während meine drei Zimmergenossinnen mich beobachteten, um zu sehen, ob ich sie verstanden hätte. Ich gehorchte und tat, wie mir aufgetragen war. Unter ihrem aufmerksamen Blick und dem meiner Zimmerkolleginnen legte ich den Kleinen auf die Waage, sah auf die Zahlen, die ich weder entziffern noch zählen noch auf Deutsch schreiben konnte. Ich fühlte mich, als würde ich ohnmächtige werden vor Scham und der Angst, zu scheitern. Ich schwitzte und konnte den Bleistift nicht halten, da ich so sehr zitterte. Ich begann etwas auf den Block zu kritzeln, was selbst für mich unleserlich war, geschweige denn für die Frau, die mich erstaunt beobachtete. Sie bemerkte schnell, dass ich Analphabetin war. Ich fühlte mich minderwertig, wie ein Nichts. Niemals war mir stärker bewusst, was für eine Einschränkung es war, wenn man sich nicht mittels Schreiben und Lesen ausdrücken konnte. Ich erkannte auch, dass in der Schweiz, im Gegensatz zu meinem Land, alles über Lesen und Schreiben funktionierte. Am Tag darauf versuchte es eine andere Schwester erneut, aber es war nichts zu machen. Ich begann vor Demütigung und Scham zu weinen. Als mich Bilal am Abend besuchen kam, flehte ich ihn an, mich mit nach Hause zu nehmen. Der diensthabende Arzt hingegen riet mir, noch ein paar Tage zu bleiben, aber ich glaubte, ersticken zu müssen und wollte keine weitere Nacht mehr dort verbringen. Ich ging am selben Abend mit nach Hause, auch wenn mich die genähten Stellen noch sehr schmerzten und ich weder laufen noch sitzen konnte.
Zuhause fand ich das totale Chaos vor. Berge von schmutzigem Geschirr türmten sich im Spülbecken. Aber ich war so glücklich, mit meinem Youns im Arm zu Hause zu sein. Sanft legte ich ihn in seine Wiege, in der er wie ein Engel weiter schlief. Bilal entschuldigte sich für die Unordnung: »Ich wollte noch sauber machen und einkaufen, bevor du kommst, aber nun hast du mich kalt erwischt. Es tut mir leid.« »Mach dir keine Sorgen, ich wasche das Geschirr ab, während du das Essen machst.« Aber er war außer sich vor Freude und lief immer wieder auf und ab, um Youns beim Schlafen zu betrachten.
Am nächsten Tag ging ich in die Stadt, um mit meinem Kleinen einkaufen zu gehen. Ich trug ihn in einer Art Tasche, die ich mir um die Schultern band. Es war ein wunderbares Gefühl, meinen Kleinen so nah an mir zu tragen. Ich schützte sein Köpfchen mit der einen Hand und in der anderen trug ich die Einkaufstasche und lief fröhlich nach Hause, als wäre ich der glücklichste Mensch der Welt. Auch wenn ich bei jeder Bewegung Schmerzen hatte, es störte mich nicht, ich war viel zu glücklich, um den körperlichen Schmerz zu spüren. Drei Tage später bekam ich 41 Grad Fieber. Ich hatte so viel Milch, dass ich zwei oder drei Kinder hätte versorgen können, und dieser Überschuss an Milch verursachte eine Entzündung in der Brust. Ich phantasierte die ganze Nacht und doch machte ich mir nicht allzu große Sorgen. Nicht einmal Bilal hatte daran gedacht, einen Arzt zu rufen. Er ging arbeiten und ich blieb im Bett, mein Baby neben mir. Ich schlief und wachte im Delirium wieder auf, schweißgebadet. Ich stand nur auf, um Youns zu stillen, seine Windeln zu wechseln, Wasser oder Tee zu trinken, und legte mich dann wieder schlafen. Am zweiten Tag kam eine Freundin von Bilal, Gabriela, zu Besuch, um mir zu gratulieren. Gabriela war sehr nett und sprach mit mir italienisch. Sie machte mir Wadenwickel mit Wasser und Essig und legte mir Kompressen auf die Stirn, dir mir sofort Linderung verschafften. Sie sagte, ich solle sofort zum Arzt gehen. Zum Arzt gehen, nur wegen ein bisschen Fieber und einer schmerzenden Brust, dachte ich im Stillen. Ich war nicht daran gewohnt, zum Arzt zu gehen. Bei meinen früheren Herrschaften wurde ich nicht versorgt, wenn ich krank war, im Gegenteil, ich musste in diesem Zustand weiterarbeiten. Immerhin war ich jetzt sicher in meinem Bett und in der Nähe meines kleinen Jungen, der mich so glücklich machte, wie ich es nie zuvor gewesen war. Auch meine Familie war nicht daran gewöhnt, zu einem Arzt zu gehen, wenn jemand krank war. Abgesehen von der Tatsache, dass es bei uns auf dem Land zur damaligen Zeit weder Ärzte noch Krankenhäuser gab. Meine Mutter hatte mir einmal erzählt, dass auch sie einmal eine Brustinfektion gehabt hatte, während sie stillte. Sie sagte, ein roter und stark pulsierender Fleck hätte sich auf ihrer Brust gebildet. Als sie die Schmerzen und das hohe Fieber nicht mehr aushielt, nahm sie ein Messer, hielt es übers Feuer, bis es glühte und schnitt sich dann in die Brust, dort wo der rote und harte Fleck war. Natürlich ohne Betäubung oder Schmerzmittel. Gelber Eiter spritzte aus dem Schnitt in der Brust. Während sie vor Schmerzen schrie, drückte sie weiter auf ihre Brust, um alles herauszulassen. Nach einigen Tagen erholte sie sich vom Fieber und die Wunde schloss sich. Glücklicherweise hatte sie von ihrer Mutter überliefert bekommen, wie diese traditionelle Behandlungsmethode funktionierte, die zwar sehr schmerzhaft war aber Leben rettete.
Obwohl Gabriela darauf bestanden hatte, ging ich nicht zum Arzt. Mir genügte der Gedanke an all die Ärzte, die mich bei der Geburt umgeben hatten, wenn auch in der guten Absicht, mir zu helfen. Das Fieber nahm seinen Lauf und die Infektion klang ohne medizinische Versorgung ab. Ich massierte meine Brust regelmäßig und pumpte die Milch ab und stillte Youns mit der gesunden Brust. Schließlich kehrte auch mein Appetit zurück, den ich seit meiner Ankunft in der Schweiz nicht mehr verspürt hatte. Ich aß ein wenig von allem, insbesondere Fleisch, das ich seit mehreren Monaten nicht mehr gegessen hatte, und sogar ein wenig Käse, der mir bis dahin nicht geschmeckt hatte. Ich gewann an körperlicher Kraft und verbrachte die schönsten Tage meines Lebens zusammen mit meinem Kind. Auch Bilal konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen und unseren Sohn auf den Arm zu nehmen. Bilal hatte begonnen, regelmäßig mit mir zu Abend zu essen. Auch die kleine Miriam war glücklich und stolz auf ihren kleinen Bruder. Youns brachte große Freude in unser Leben, die mich aus der Einsamkeit riss, die ich mein ganzes Leben lang verspürt hatte.
Eines Morgens stand eine Frau vor der Tür, doch als sie bemerkte, dass ich kein Deutsch sprach, ging sie wieder. Sie war eine Betreuerin, die junge Mütter kontrollierte und unterstütze. Sie brachte ihnen bei, wie sie ihre Babys zu versorgen hatten oder gaben Ratschläge und beantwortete Fragen. Ich hatte tausend Fragen, doch es war nichts zu machen. So musste ich mich selbst darum kümmern, meinen Kleinen ohne die Hilfe oder die Erfahrung eines Erwachsenen zu versorgen. Um ehrlich zu sein, ich war ganz froh, dass die Frau wieder weg war. Ich hätte mich geschämt, ihr das Kinderzimmer zu zeigen, das nicht so eingerichtet war, wie ich es bei anderen Schweizer Familien gesehen hatte. Im Zimmer stand das Bettchen von Youns, das wir von Freunden geschenkt bekommen hatten, ein Teppich lag am Boden, eine Matratze, ebenfalls am Boden, auf der Bilal und ich neben unserem Baby schliefen, im einzigen Zimmer, das mit einem Ölofen beheizt werden konnte, zusätzlich zu dem Holzofen im Wohnzimmer. Youns hatte kein schönes Zimmer, aber dafür bekam er all meine Liebe und die seines Vaters. Bilal besaß nicht viel, da er stets all sein Geld zu seiner Familie nach Marokko schickte. Ihm blieb nur das Notwendigste zum Leben, doch trotz alledem war ich glücklich und dankbar für das, was wir besaßen. Unsere Freunde schenkten uns gebrauchte Kleidung für mich und Youns. Doch manchmal hatte ich Angst, dass wir von den anderen wegen unserer wirtschaftlichen Lage verachtet und abgelehnt werden würden. Ich war von meiner Heimat gewöhnt, dass die Armen weniger wert waren als die Reichen. Zum Glück waren unsere Freunde sehr bescheidene Menschen. Sie liebten und respektierten uns für das, was wir waren und nicht für das, was wir besaßen. Viele sagten auch, dass unser Haus eine tolle Aura hätte. Tatsächlich wollten viele von ihnen gar nicht mehr gehen, weil sie sich bei uns sehr wohl fühlten. Eine weitere Sache, die mir in der Schweiz sehr gut gefallen hat, war, dass die Menschen alle gleich behandelt wurden, ob Frau oder Mann, arm oder reich. Alle hatten die gleichen Rechte, was die Gesundheit, das Recht auf Schulbildung und die Religionsfreiheit betraf. Selbst die Tiere wurden würdevoll und besser behandelt, als in manchen Ländern der Welt die Menschen.
Ich war überrascht, dass in der Schweiz die Menschen, die auf dem Land lebten, dieselben Rechte hatten wie die aus der Stadt. Zum Beispiel gab es in den Dörfern Schulen, Postämter, Geschäfte und Banken, Ärzte, Apotheken und Verkehrsmittel, es gab elektrischen Strom und Wasserleitungen. Im Haus eines Schweizer Bauern sah es, was den Komfort anbelangte, nicht anders aus als im Haus eines Städters. Die Schweizer Bauern waren außerdem sehr stolz darauf, Landwirte zu sein. Sie gingen erhobenen Hauptes, im Gegensatz zu den Bauern bei uns, die immer mit gesenktem Kopf herumliefen, da sie sich im Vergleich zu den reichen Stadtmenschen minderwertig fühlten. Doch glücklicherweise haben sich die Dinge auch in meinem Land zum Besseren gewendet. Mittlerweile gibt es in den meisten unserer Dörfer Strom und Trinkwasser, ein Postamt, eine Telefonzelle, Geschäfte, eine Schule und eine Apotheke, und in den größeren Dörfern sogar medizinische Versorgung.
Es war Oktober und das Wetter war noch recht mild. Ich packte meinen Kleinen in seine Tragetasche und unternahm lange Spaziergänge den Fluss entlang, der ein Paradies bot, mit all den Bäumen mit ihren orangen und hellbraunen Blättern. Ein schöner Kontrast zu den grünen Wiesen und dem glitzernden Wasser des Flusses, in dem sich der mit Wolken übersäte Himmel spiegelte. Gelinde gesagt, eine magische Natur. Die Natur bereitet sich auf ihren Winterschlaf vor, so wie ich sie bei meiner Ankunft in der Schweiz vorgefunden hatte, bedeckt von Schnee und Nebel. Ich war körperlich gestärkt und begann meine Arbeit an den Gewürzen wieder aufzunehmen, wenn Youns schlief. Youns wuchs zusehends und er war ein sehr hübsches Kind, mit großen schwarzen Augen und schwarzem, lockigem Haar. Er war glücklich, zufrieden und gesund. Er hatte ein wundervolles Lächeln, das alle Leute begeisterte. Er weinte und jammerte nie. All unsere Freunde und Nachbarn liebten ihn für sein bezauberndes Wesen. Ich verrichtete meine Arbeiten in Ruhe, während er in seiner Wiege lag, die ich überallhin mit hinnahm. Oft unterbrach ich meine Arbeit, streichelte ihn und küsste ihn am ganzen Körper, ich wechselte seine Windeln und stillte ihn, um ihn dann wieder in seine Wiege neben mich zu legen. Wenn ich von der Arbeit müde war, legte ich mich mit ihm auf die Matratze und wir schliefen umschlungen ein, wie zwei Kinder. Zwischen uns entwickelte sich eine Beziehung, die weit über die zwischen Mutter und Sohn hinausging. Seit seiner Geburt fühlte ich mich wie neu geboren und wuchs gemeinsam mit ihm Tag für Tag. Vor seiner Geburt hatte ich immer das Gefühl, dass mein inneres Wachsen, das kindliche Wachstum, im Laufe der Zeit stehen geblieben war, doch jetzt war es wiederbelebt, und ich entwickelte mich, gemeinsam mit Youns, weiter.