Kitabı oku: «Logotherapie und Existenzanalyse heute», sayfa 2
3. EINE STÄRKE DES MENSCHEN: ANDERE MENSCHEN
Batthyány: Das ist ein wertvoller Denkanstoß. Im Grunde geht er nämlich einen erheblichen Schritt weiter als Frankls Glücksbestimmung: Nicht nur ist Glück, was einem erspart geblieben ist. Es birgt auch zusätzlich einen „gesonderten“ Auftrag zur Selbsttranszendenz, also zum Blick über den Tellerrand des eben nicht nur bedürftigen, sondern auch dankbaren, großzügigen, wohlwollenden und zum Teilen bereiten Ichs.
Dazu fällt mir eine wissenschaftliche Arbeit ein, die in einem der von der American Psychological Association herausgegebenen Sammelbände zur sogenannten „Positiven Psychologie“ erschienen ist.7 In diesem Band wurde vermessen, welche Stärken und Möglichkeiten im Menschen brachliegen – das ist ja das Programm der „Positiven Psychologie“. Viele Autoren, darunter einige der heute bekannteren psychologischen Forscher, versuchten sich an dem Thema. Man kommt allerdings nicht umhin, kritisch anzumerken: So schön an und für sich das Projekt der Positiven Psychologie auch sein mag, so sehr waren viele der Autoren allzu forciert optimistisch und erlagen daher der Versuchung, die Psychologie in ein fortwährendes Selbstoptimierungsprojekt und in weiterer Folge menschliches Leben insgesamt in ein überaus ambitioniertes „Glücksprojekt“ abgleiten zu lassen, in dem das Bewusstsein von Leid und Mangel und die tragische Trias aus Leid, Schuld und Tod (und paradoxerweise daher auch die Dankbarkeit) – oder auch nur das Anerkennen und Gutseinlassen des eben auch einmal Nichtvollkommenen – keinen rechten Platz haben. Der Perfektionismus fortwährender Selbstverwirklichung und -verbesserung und des immer Positiven nimmt da manchmal durchaus beklemmende Dimensionen an und ist angesichts des globalen Leids auch moralisch fragwürdig und schlichtweg unrealistisch. Wir werden noch im Laufe dieser Gespräche darauf kommen, warum und in welcher Hinsicht es einer so einseitigen Gewichtung und Überbetonung des Positiven an einem vernünftigen, reifen und gesunden Realismus mangelt – und auch, wie kostspielig sie psychologisch sein kann, wenn es etwa um Leidbewältigung und Mitgefühl und Frustrationstoleranz geht.
Aber ein einzelner Artikel stach aus dem erwähnten Sammelband heraus. Die bedeutende amerikanische Sozialpsychologin Ellen Berscheid von der Universität Minnesota beschrieb darin mit beeindruckender Feinfühligkeit die „größte Stärke des Menschen: andere Menschen“8. Berscheid machte daran sogar einen der wesentlichen Faktoren kultureller und sozialer Entwicklung fest.
Was Sie eben über generalisierte Einstellungswerte und die „samariterhafte Einstellung“ gesagt haben, kann man somit auch ausdehnen nicht nur auf zu teilende Güter, sondern auch für Fähigkeiten in Stellung bringen, die sich einsetzen lassen, um einander zu helfen, um füreinander da zu sein, und sich einzubringen. Das setzt nämlich erstens die Anerkennung der Bedürftigkeit des Menschen voraus (verschließt also nicht mehr die Augen vor dem Leiden oder den Nöten der Menschen), zweitens behält es aber auch den Wert der gegenseitigen Hilfsbereitschaft im Blick.
Bildlich gesprochen: Der Blinde kann den Lahmen tragen und der Lahme den Blinden führen, und beide bezeugen damit ja viel mehr als nur die Fähigkeit des Menschen, ihre jeweiligen Schwächen zu kompensieren. Sie bezeugen damit eben auch, dass andere Menschen – und unsere Bereitschaft, unsere Fähigkeiten mit ihnen zu teilen und in den Dienst des anderen zu stellen – tatsächlich eine der größten Stärken des Menschen sind. Zweitens werden diese Fähigkeiten ja erst dann ihrer eigentlichen sinnvollen Bestimmung zugeführt – davor waren es ja bloß Möglichkeiten. Nun aber, im Einsatz für und mit etwas oder jemand, der oder das nicht wieder man selbst ist, werden sie sinnvoll genutzt und verwirklicht.
Aber dieser Zusammenhang zeigt auch etwas noch Grundsätzlicheres über die Natur selbst. Man kann das auch philosophisch deuten und dann entfalten sich sehr schöne und tröstliche Implikationen für unser Welt- und Menschenbild: dass nämlich mit der Person, vor allem ihrem Potential zur Selbsttranszendenz, etwas in die Welt getreten ist, in dessen Hand sogar die Schwäche noch Zeugnis von Stärke werden kann.
Um zum Blinden und dem Lahmen zurückzukommen: Wir kennen aus der Natur zwar zahlreiche Beispiele der Symbiose und des biologischen Gleichgewichts und des gegenseitig Angepasstseins von Wirtstieren etc. – das ist ja gleichsam das „Erfolgsrezept“ der Natur: Zusammenarbeit und Ineinanderwirken.
Aber das, was Sie mit der „samariterhaften Einstellung“ beschreiben, geht weit darüber hinaus. Es ist uns im Unterschied zum Tier stets nur als Möglichkeit, also im Freiraum, gegeben. Das Teilen und die Großzügigkeit ist beim Menschen eben nicht, wie beim Tier, triebhaft vorbestimmt. Nichts treibt uns zur Großzügigkeit an. Mit anderen Worten: Im Menschen ist Teilen nicht einfach ein biologisches Programm, das automatisch abläuft, sobald wir irgendwo ein Defizit erblicken. Es ist etwas viel Wertvolleres: nämlich Ausdruck genuinen Wohlwollens – also ein Akt in Freiheit und Verantwortung bzw. der Akt in der Freiheit, wohlwollend und Anteil nehmend zu leben – oder eben nicht.
4. REAKTIVES GLÜCK UND UNGLÜCK
Batthyány: Wir können ja beides: am Leid vorbeigehen oder im Rahmen unserer Möglichkeiten zu helfen versuchen. Denn das Gegenbild zu dem, was Sie „samariterhafte Haltung“ nennen, wenn ich Ihren Gedanken nochmals aufgreifen und weiterspinnen darf, ist auf der anderen Seite, dass Undankbarkeit und geringes Wohlwollen in sehr unmittelbarer Weise miteinander zusammenhängen: dass man in einer innerlich unreifen Anspruchshaltung für das eigene Glück ebenso erblindet („es steht mir ja zu!“) wie für die Not in der Welt („was geht mich das an?“). Ersteres wird als selbstverständlich hingenommen und Letztes geht einen dann scheinbar nichts an. Frankls Satz vom Glück als das, was einem erspart bleibt, und Ihre Worte über generalisierte Einstellungswerte und die samariterhafte Einstellung decken so gesehen beide Seiten der Medaille ab: Das eigene Glück ist ebenso wenig selbstverständlich wie die Not des anderen, an der man nicht schulterzuckend vorübergehen soll, sofern man Ressourcen hat, diese Not zu lindern oder zu beheben.
Wobei wir es nebenbei gesagt dem Realismus schulden, dass wir nicht vergessen sollten, dass wir ja tatsächlich nie wissen, wann wir uns auf welcher Seite befinden werden: ob und wann und für wie lange wir also das Glück haben, teilen zu können, oder ob und wann wir darauf angewiesen sein werden, dass sich ein anderer unserer annimmt und uns aufrichtet.
Lukas: Gut, dass Sie bei Ihren Überlegungen zum sinnorientierten Miteinander den Aspekt der Freiheit betont haben. In der Psychopathologie basieren viele Probleme auf falschen bzw. sinnwidrigen Reaktionen auf gewisse Lebensvorgaben. Frankl hat in seiner „Theorie und Therapie der Neurosen“9 ein ausführliches Kapitel den „reaktiven Neurosen“ gewidmet. Solche wurden sonst nirgendwo diagnostiziert und sind heute von der Begrifflichkeit her veraltet. Trotzdem ist das reaktive Element bei einer Menge an seelischen Störungen ausschlaggebend.
Der eine wird am Schulweg von einem Hund angesprungen und entwickelt eine Hundephobie – der andere wird am Schulweg von einem Hund angesprungen und lernt, mit Hunden geschickt umzugehen. Die eine entdeckt, dass sie durch Vorgabe von Halsschmerzen oder Magengrimmen die zärtliche Fürsorge ihrer Mutter herbeirufen kann, und übt sich daraufhin im histrionischen Manipulieren ihrer Mitwelt ein. Die andere macht dieselbe Entdeckung, verzichtet aber auf weiteres „Theaterspielen“. Zahlreiche psychologische Krankheitsbilder sind von ihrer Entstehungsgeschichte her Kombipakete: nicht nur die psychosomatischen Krankheiten mit ihrer typischen Kombination von körperlicher Vorschädigung plus Auslösestressor, sondern auch viele Abhängigkeitsprobleme, bei denen auf kurzfristig erzeugbaren Emotionalgewinn mit „Mehr desselben“ statt mit vorsichtiger Zurückhaltung reagiert wird, oder iatrogene (also durch ärztliche Einwirkung erst entstandene) Störungsformen, bei denen unbedachte Äußerungen von Ärzten und sonstigen Autoritätspersonen zu ernst genommen bzw. als drohendes Unheil ausgelegt werden.
In diese Aufzählung passt, was wir soeben diskutiert haben, nämlich die inadäquate (statt adäquate) Reaktion auf eigenes Glück und auf fremdes Leid.
5. EINE FÜNFTE PATHOLOGIE DES ZEITGEISTS?
Batthyány: Zugleich ist das, was wir gerade besprechen, nicht nur individuell, sondern auch kollektiv zu beobachten und berührt damit unmittelbar auch jenen Bereich, den Frankl „die Pathologie des Zeitgeistes“ genannt hat, als er vor allem in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg vier gesellschaftlich weit verbreitete kritische Haltungen ausmachte: die provisorische, fatalistische, kollektivistische und fanatische Daseinshaltung.10
Allerdings hat Frankl diese vier Daseinshaltungen vor mehr als 70 Jahren beobachtet und beschrieben; daher stellt sich die naheliegende Frage, ob der heutige Zeitgeist tatsächlich noch ganz deckungsgleich ist mit dem damaligen Zeitgeist, der ja unter ganz anderen historischen und sozialen Bedingungen gewachsen und in Erscheinung getreten ist.
Mit Blick auf die Gegenwart untersuchen daher Studenten in der Forschungsabteilung des großen Moskauer Instituts unter meiner Leitung seit einigen Jahren, ob sich zu diesen vier Fehlhaltungen im Laufe der Zeit vielleicht noch andere hinzugesellt haben. Und tatsächlich kommt da – sowohl in Einzelgesprächen als auch in Gruppenerhebungen – immer wieder ein neues kollektivneurotisches Syndrom zum Vorschein, das die Vermutung, die Pathologie des Zeitgeists habe sich angesichts des geänderten sozioökonomischen Klimas entwickelt, bestätigt: nämlich eine Vermengung überragend vieler Möglichkeiten bei gleichzeitigem Schwinden des Verantwortungsbewusstseins. Anders ausgedrückt: Freiheit und Verantwortung sind in ein gehöriges Ungleichgewicht geraten.
Wir beobachten insbesondere bei Menschen, die finanziell und auch sonst gut abgesichert sind, eine enorme Anspruchshaltung dem Leben und anderen Menschen gegenüber, zugleich aber auch eine mangelnde Anerkennung des Guten und parallel dazu einen Mangel an Bereitschaft, sich den unvermeidlichen Schattenseiten des Daseins zuzuwenden, ja, diese überhaupt zu akzeptieren. Mit anderen Worten: Diesen Menschen mangelt es an vernünftiger Ehrfurcht vor dem, was sie haben und ihnen eben erspart bleibt – und auch vor dem, was sie dem Leben oder anderen schuldig sind.
Wenn man dieses neue Syndrom mit Frankls Pathologie des Zeitgeists vergleicht, dann fällt zunächst einmal auf, dass die vier von Frankl beschriebenen kritischen Daseinshaltungen allesamt durch ein Element der Angst gekennzeichnet sind: In der provisorischen Geisteshaltung etwa herrscht eine grundlegende Angst vor der Zukunft vor. Es wird der Zukunft so stark misstraut, dass die Betroffenen gar nicht erst einen Sinn darin erblicken können, etwas aufzubauen, von dem sie aufgrund ihrer Zukunftsängste befürchten, dass es ohnedies nicht von Bestand und Dauer sein wird. In dieser entmutigten Geisteshaltung scheint es den Betroffenen fraglich, ob und weshalb sie sich überhaupt noch für etwas oder jemanden engagieren sollten, wenn doch ohnedies nicht gewährleistet ist, dass das, wofür sie sich einsetzen, nicht schon im nächsten Augenblick wieder bedroht oder tatsächlich vernichtet wird. Daher richten sie sich im Provisorium ein – ängstlich und mutlos auf den nächsten Schicksalsschlag wartend. Das Angstmotiv hier lautet: Angst vor der Zukunft und Angst vor Bedrohung.
In der fatalistischen Daseinshaltung hingegen überragt die Angst vor vermuteten und unerkannten Schicksalsmächten und unterminiert jegliche Initiative und freie und verantwortliche Lebensführung. Der Glaube an die Übermacht des Schicksals, das dem Einzelnen, so glaubt er, gar nicht erst die Möglichkeit der Entscheidungsfreiheit und Gestaltungsfähigkeit einräumt, ihn vielmehr zu einem hilf- und bedeutungslosen Rädchen im großen Schicksalswerk reduziert, untergräbt seine Gestaltungsmotivation:
Bei näherem Hinsehen ergibt sich, dass sich der Fatalist auf den Standpunkt stellt: Es ist nicht möglich, zu handeln, sein Schicksal in die Hand zu nehmen; denn dieses Schicksal ist übermächtig. Während der Fatalist fortwährend vorsagt, ein Handeln sei nicht möglich, denkt sich der provisorisch Eingestellte: Ein Handeln ist auch ganz und gar nicht nötig; denn wir wissen nicht, was morgen los sein wird.11
Das Angstmotiv des Fatalisten ist somit die Übermacht des Schicksals, nicht selten gepaart mit abergläubischer Furcht vor verborgenen Schicksalszusammenhängen (Unglückssymbolen, Horoskopen, schlechten Omen etc.).
Beim Kollektivismus dagegen ist das vereinfachende, oft stereotypisierende Gruppendenken meist nicht nur mit dem „Untergehen der Person in der Masse“ (Frankl) verbunden, sondern auch mit dem gleichzeitigen Aufbau eines Feindbilds – nämlich eines anderen Kollektivs (Out-Group): Tatsächlich bestätigt ja auch die sozialpsychologische Forschung, dass das sogenannte In-Group/Out-Group-Denken nur in dem Maße funktioniert, wie ein abzulehnendes und meist als feindlich wahrgenommenes Gegenkollektiv konstruiert wird: wir gegen die anderen bzw. die anderen gegen uns.12 Das Angstmotiv richtet sich hier also auf ein Feindbild, also alle jene, die gegen das eigene Kollektiv einstehen, weil sie andere Ideale oder Identifikationsmerkmale (in der Regel die eigenen) höher schätzen.
Im Fanatismus dagegen – auch das bestätigt die sozial- und einstellungspsychologische Forschung – herrschen andere Ängste vor: erstens die Angst vor den eigenen Zweifeln, die umso radikaler kompensiert werden müssen durch Loyalitätsbeteuerungen gegenüber der fanatisch verteidigten Meinung oder Einstellung13; zweitens aber auch die Angst vor der Gültigkeit oder Wahrhaftigkeit anderer, den eigenen Ansichten widersprechenden Überzeugungen. Denn deren Wahrhaftigkeit würde wiederum (in diesem Fall berechtigte) Zweifel an den eigenen Ansichten wecken, was seinerseits wieder als beängstigend erlebt wird.
Kurz: So unterschiedlich die vier von Frankl beschriebenen krisenträchtigen Daseinshaltungen auch geartet sein mögen, sie alle haben einen gemeinsamen Nenner im Faktor der Angst: Angst vor der Zukunft (provisorische Lebenshaltung), Angst vor dem Schicksal (fatalistische Lebenshaltung), Angst vor anderen Gruppen (kollektivistische Lebenshaltung) und Angst vor anderen Deutungen der Welt oder bestimmter Weltzusammenhänge bzw. Angst vor den eigenen Zweifeln (fanatische Lebenshaltung). Und allen gemein ist zudem, wie Frankl betonte, das Kernmerkmal der Scheu vor der eigenen Verantwortung.
Bei der von uns in unseren Forschungen gefundenen fünften Pathologie – also der übertriebenen Anspruchshaltung und der damit meist einhergehenden mangelnden Ehrfurcht vor der eigenen Freiheit und Verantwortung und dem Leben insgesamt – scheint es dagegen überraschenderweise so, als spiele Angst eine eher untergeordnete Rolle. Im Gegenteil gewinnt man bei dieser Daseinshaltung viel eher den Eindruck, es fehle diesen Menschen ein wenig an Angst oder zumindest Sorge – und vor allem auch an Realismus etwa mit Blick auf die Tatsache, dass wir in Wirklichkeit erstens gar keinen Anspruch darauf haben, dass das Leben uns jeden nur denkbaren Wunsch erfüllt und uns alle Herausforderung und Bewährungsproben und Leiden „erspart“ und zweitens – wie Frankl es formulierte – dass nicht wir das Leben fragen, sondern wir im Gegenteil die vom Leben Befragten sind. Um es mit den Worten von Frankls seinerzeitigem Assistenten an der Wiener Poliklinik Paul Polak zu sagen: Wir können dem Leben keine Bedingungen stellen. Aber eben dies scheint in dieser Daseinshaltung eines der Kernmerkmale zu sein.
Je mehr unsere Erhebungsdaten in diese Richtung weisen und zeigen, dass die von uns beobachtete kritische Daseinshaltung sich von den von Frankl beschriebenen kollektiven pathologischen Geisteshaltungen abhebt, desto deutlicher wird, dass wir es hier tatsächlich mit einer neuen, fünften pathologischen Geisteshaltung zu tun haben, die man am ehesten wie folgt beschreiben könnte: Das Gute und Angenehme wird wie selbstverständlich hingenommen („es steht mir zu“), zugleich werden die Herausforderungen des Daseins – sei es das eigene Leid oder das Leid der anderen, und überhaupt alles, was in irgendeiner Weise nach Bewährung und Aufforderung zu konstruktiver Teilnahme am Leben aussieht, aus der eigenen Vorstellungsund Lebenswelt verdrängt.
Interessanterweise hat Rudolf Allers, seinerzeit einer der frühen Mentoren Viktor Frankls aus dem ehemaligen Umfeld der Individualpsychologischen Vereinigung um Alfred Adler, in seiner Phänomenologie der Psychiatrie bereits einige dieser Merkmale im Amerika der 1960er Jahre beobachtet und sehr treffend wie folgt beschrieben:
Konflikte, Schwierigkeiten aller Art, die man früher in Kauf nahm und als unvermeidlich anerkannte, erscheinen heute vielen als ungebührliche Störungen ihres Behagens. Sie sind überzeugt davon, dass sie ein Anrecht auf ein leichtes Leben haben, und sehen daher im Konflikt nicht ein unausweichliches Moment der menschlichen Wirklichkeit, sondern ein Symptom. Überdies scheuen sie die Verantwortung, die jeder, auch nur einigermaßen folgenschweren, Entscheidung anhaftet. Daher sind sie nur allzu bereit, die Entscheidung anderen aufzubürden. Es ist nicht leicht zu sagen, ob man diese Menschen nun wirklich als Neurotiker ansehen soll (…) oder als Menschen, die in der Diagnose eine gültige Entschuldigung für ihre oft genug selbstverschuldete Lebensunfähigkeit finden und in der Behandlung einen Kompromiss zwischen ihrer Begierlichkeit und ihrer Feigheit.14
In der heutigen Erscheinungsform dieser Geisteshaltung kommen allerdings wie erwähnt unseren Erhebungen zufolge noch einige weitere Merkmale hinzu: Es mangelt in Folge der eben beschriebenen Anspruchshaltung erstens an Dankbarkeit, zweitens an Leidensfähigkeit angesichts des unabänderlichen Schicksals, drittens an Mitgefühl und viertens an Verantwortungsbereitschaft – wobei das letzte Kriterium diese Geisteshaltung wiederum eindeutig in die ursprünglich von Frankl ausgemachten Pathologien des Zeitgeists eingliedert. Ein Mangel an Verantwortungsbereitschaft ist ja gemeinsamer Nenner und Bindeglied zwischen allen bisher beschriebenen kritischen Daseinshaltungen.
Somit scheinen wir hier einem verhältnismäßig neuen psychologischen Phänomen zu begegnen, das in der Regelmäßigkeit seines Auftretens nahelegt, dass wir es tatsächlich mit einer fünften kollektiven Neurose zu tun haben.
Allerdings habe ich dies, gewissermaßen aus Respekt vor der Tatsache, dass Frankls „Pathologie des Zeitgeistes“ so harmonisch in sich abgeschlossen ist, noch nie publiziert oder als Ergänzung zur bekannten „Pathologie des Zeitgeistes“ vorgeschlagen.
6. CYBERPATHOLOGIE (INTERNET UND PSYCHE)
Lukas: Im Gegensatz zu Ihnen, der – wie Sie andeuten – sich aus „Pietätgründen“ scheut, Frankls Zusammenstellung um eine fünfte kritische Zeitgeistströmung anzureichern, habe ich dies längst getan. Ich bin mir ziemlich sicher, Professor Frankl hätte es ebenfalls getan, hätte er die gegenwärtige Verfasstheit unserer Gesellschaft noch miterlebt. Ich habe diese fünfte „kollektive Neurose“ mit der grassierenden Cyberpathologie unserer Tage gleichgesetzt.15
Natürlich gibt es viele verschiedene Lebenshaltungen, die philosophisch und ethisch fragwürdig sind und krisenträchtige Auswirkungen für die Betreffenden und ihr Umfeld haben. Nicht umsonst hat die Logotherapie in ihrer Methodik der „Einstellungsmodulation“ ein therapeutisches Gegenmittel zu einem ganzen Katalog von Fehlhaltungen geschaffen. Um aber von einer Zeitgeistströmung sprechen zu können, müssen ihr sehr große Bevölkerungsteile huldigen. Und das ist mit der Cyberpathologie der Fall. Wir schlagen mit ihr nicht nur ein Kapitel kollektiver Sucht auf, die wie ein Moloch insbesondere die Jugend in ihren Bann zieht. Wir betreten mit ihr auch just jenes Areal, zu dem die von Ihnen genannten Beobachtungen fugenlos passen. Denn bei Süchtigen finden wir immer
1. eine hohe Anspruchshaltung: „Ich brauche das“… „Das steht mir zu …“, „Ich kann das Leben ohne das (Suchtmittel) nicht aushalten …“,
2. eine geringe Dankbarkeit, weil sämtliche Werte am Wahrnehmungshorizont allmählich verblassen und nur noch das Suchtmittel zählt,
3. ein herabgesetztes Verantwortungsbewusstsein, das parallel mit dem Toleranz-16 und Kontrollverlust der Süchtigen einhergeht,
4. eine Überspielung und Vertuschung der Abhängigkeit und Schwierigkeiten mittels erheblicher Lügen- und Selbstbetrugsenergie.
Ich gebe Ihnen absolut recht, dass die beiden Basiselemente „zu wenig angemessene Furcht“ und „zu wenig Ehrfurcht (vor dem verpflichtenden Guten, will heißen: dem Guten, das zu dessen Wertschätzung und zu dessen Weitergabe im Rahmen eigenen Vermögens verpflichtet)“ die Stützpfeiler der Malaise sind. Obwohl der Süchtige eine ausgedehnte Phase des Hineinschlitterns lang genau weiß, dass er menschlich, physisch, sozial, pekuniär bergab rutscht, ist nicht genug Furcht vor dem Abgrund da, um ihn mit aller Kraft und gebündelter „Trotzmacht des Geistes“ (Frankl) zur Handbremse greifen zu lassen. Gleichzeitig ist zu wenig Ehrfurcht da, Ehrfurcht vor der Kostbarkeit seines Lebens, vor den ihm gewährten Freiräumen und Ressourcen, vor dem Willkommensein in der Welt und Gerufensein durch die Welt, vor der Einladung, sie liebevoll und verantwortlich mitzugestalten … Kaum dringt etwas davon mehr zu seinem betörten Gehirn und seiner umnebelten Seele vor – einzig die Gereiztheit und Ruhelosigkeit leise raunender und immer lauter pochender Entzugsqual dominieren und motivieren den Süchtigen …
Nun hat es Suchterkrankungen von jeher gegeben. Wie konnte es aber zu einem solchen „Massenbefall“ wie der Cyberpathologie kommen? Daran dürften mehrere Faktoren beteiligt sein. Einerseits ist beständiger Fortschritt, kultureller, technischer wie wissenschaftlicher Fortschritt, geistesnotwendig.
In der – nach Maßstäben der Evolution – kurzen Zeit, seit das Menschengeschlecht das Licht der Welt erblickt hat, sind ungeheuerliche Fortschritte erzielt worden. Dass wir inzwischen fähig sind, Atome zu spalten, Informationen drahtlos rund um den Erdball zu schicken oder uns ins All aufzuschwingen, grenzt an Wunder. Tatsächlich sind es Ausstrahlungen des „wundersamen“ Geistes, mit dem wir begabt wurden, und der danach strebt, alles Vorfindliche zu handhaben, seine eigene Intelligenz genauso wie die Früchte der ihn tragenden Erde. Geistiges kennt keine Stagnation, Geistiges ist ununterbrochen in Bewegung, ja, wie Frankl formuliert hat: „Geist ist reine Dynamis“ – Bewegung (nicht im Raum, sondern) im Sein. Fortschritt ist das Fort- und Voranschreiten des Geistes.
Andererseits sind wir Wesen aus Fleisch und Blut, mit einer anfälligen und hinfälligen Physis und einer bunt zusammengewürfelten Psyche, in der die Emotionen und Kognitionen, Lust und Verstand, in einem kuriosen Gerangel miteinander liegen. Dieses „allzu Menschliche“ bremst das „spezifisch Menschliche“ immer wieder ein und umwölkt es mit Irrungen und Wirrungen und nicht zuletzt auch mit Unmenschlichkeit und Grausamkeit. Folglich kommt alles darauf an, dass beim zügigen Fortschritt der verantwortliche Umgang mit den Neuerungen, die der Fortschritt mit sich bringt, ebenso zügig mithält. Dieser Wettlauf zwischen den Erfindungen des Geistes und der Sensibilität des menschlichen Gewissens rollt seit Jahrtausenden ab; bislang ohne eindeutige Gewinner und Verlierer. Dass jedoch die Erfindungen des Geistes in diesem Wettlauf einen bedenklichen Vorsprung haben, hat bereits Frankl Sorgen bereitet, als er anmerkte, dass weder die althergebrachten Traditionen noch die angeborenen Instinkte den Menschen der Gegenwart mehr (sittliche) Orientierung zu spenden vermögen, und gefährliche Auswüchse („wollen, was andere tun“ bzw. „tun, was andere wollen“) in das entstandene Orientierungsvakuum hineinwuchern.
Ich selbst habe die Erfindungen des Fernsehens, später des Computers, und mittlerweile des Smartphones miterlebt. Die Bildschirmfaszination, das Ergriffensein (im wahrsten Sinne des Wortes) von virtuellen Welten, das Unbedingt-dabei-sein-Wollen in der digitalen Moderne, die stürmische Begeisterung über ungeahnte und nie dagewesene Möglichkeiten … Das alles ist viel zu schnell über uns hereingebrochen, als dass sich irgendwelche Korrekturmechanismen hätten ausbilden können, zumal das bereits vorhandene Orientierungsvakuum solche erschwerte.
Erfindungen sind an und für sich wertneutral. Dass Physiker Mechanismen errungen haben, mit denen Atome gespaltet werden können, impliziert keinen Atombombenabwurf. Dass Raketen die Anziehungskraft der Erde überwinden können, impliziert keinen Vernichtungsschlag „von oben“. Dass beliebige Fotos für jedermann zugänglich ins Internet gestellt werden können, impliziert keine Kinderpornographie im großen Stil. Solange das Gewissen die Technik an der Leine führt, kann und wird sie uns zum Segen gereichen. Nur wenn es die Leine loslässt – dann bewahre uns Gott!
Der Cyberspace verlockt zum partiellen Ausstieg aus dem Zuständigkeitsbereich des Gewissens. So vieles darin ist bloß „Kino“, ist „Geflunker“, ist unecht. So vieles darin kann fantasiert, einfach behauptet, zu gemeinen Zwecken vorgegaukelt werden. Man kann zum Beispiel Folterszenen zur perversen Ergötzung der Betrachter nachstellen, ohne jemandem ein Haar zu krümmen. Mogelt man ein paar Videos von echt gepeinigten Personen darunter, fällt dies kaum auf. Der Ergötzungseffekt mag derselbe sein … Es ist brandgefährlich, wenn die Schranke zwischen Fantasie und Wirklichkeit wankt. Wenn die Überprüfbarkeit von Nachrichten schrumpft. Wenn User absichtlich auf falsche Fährten geleitet werden. Wenn unentwegt nichtige Botschaften von Wichtigem ablenken. Wenn kursierende Meinungen die Sachlichkeit verdrängen. Wenn der Glaube wächst, im Netz und nur dort stehe einem die ganze Welt offen … Wie soll sich das Gewissen des Einzelnen in diesem Getümmel von Realem, Irrealem, Surrealem auskennen? Das Gewisper im Äther lullt das Gewissen geradezu in den Schlaf.
Batthyány: … und doch ist es, wie bei jedem Instrument, auch eine Frage, wie und wozu man es verwendet …
Lukas: Freilich gibt es auch das dicke Plus des Fortschrittes. Das elektronische Gedächtnis speichert alles, was sich Menschen niemals merken könnten. Blitzschnell liegen auf jedwede Anfrage Antworten aus dem Erfahrungspool von Generationen auf dem Tisch. Blitzschnell kann mit weit entfernten bekannten oder unbekannten Personen kommuniziert werden, was ein gigantisches Gedankenaustauschprogramm ermöglicht. Es entstehen neue Transparenzen: Was hinter den Stirnen vorgeht, pulsiert plötzlich in einem öffentlich zugänglichen Datennetz. Und es entstehen neue Assistenten in Form von künstlicher Intelligenz und Robotik; Hausdiener, die beträchtlich weniger schwächeln als ihre Hausherren. Unser gesamtes Wirtschafts- und Zivilisationssystem wäre ohne sie bereits dem Chaos preisgegeben. Dass man von einer Hilfe abhängig wird, sobald man sie längere Zeit benützt, ist nicht zu verhindern. Autofahrer, die es gewohnt sind, von einem „Navi“ dirigiert zu werden, verlernen es, selbständig ihre Wege zu finden, u. Ä.
Leider gilt dasselbe auch für die sozialen Kontakte. Es besteht kein Zweifel daran, dass sich die realen Beziehungen zwischen Freunden und in den Familien bei einem krankhaften Medienkonsum deutlich verschlechtern. Experten beziffern die Schwelle zum krankhaften Medienkonsum mit ca. vier Stunden täglichem Smartphone-Starren – was eindeutig eine „untere“ Grenze darstellt, die zunehmend überschritten wird. Die Betreffenden wähnen sich zwar im Facebook-Universum mit anderen dialogisch verbunden, verlernen es aber, in direkter Nähe anderen verständnisvoll und konstruktiv zu begegnen. Es kommt noch schlimmer: Die „digital natives“ erlernen Empathie und gegenseitige Achtung gar nicht mehr richtig, wie Hirnforscher und Psychologen belegen.17 Laut Mehrfachstudien hegen viele dieser Sprösslinge einer heraufdämmernden Ära 1. die illusorische Erwartung, dass ständig auf sie eingegangen wird, wissen aber 2. Freundlichkeit und Interesse an ihrer Person nicht zu würdigen, sind sich 3. über die Folgen ihrer eigenen Aussendungen und Mails nicht im Klaren und halten 4. keinerlei „Belohnungsaufschub“ aus, weil alles uneingeschränkt sofort verfügbar sein muss. Voilà! Da sind sie: Ihre vier klugen Beobachtungen: Überzogene Ansprüche, kein Gefühl der Dankbarkeit, reduziertes Verantwortungsbewusstsein und die Abneigung, irgendeine Frustration durchzuhalten, und sei es nur das „Warten“ auf etwas Positives (vom Ertragen des Negativen gar nicht zu reden). Da ist sie: die fünfte „kollektive Neurose“ in der Pathologie des aktuellen Zeitgeistes!