Kitabı oku: «Logotherapie und Existenzanalyse heute», sayfa 3

Yazı tipi:

7. NOT UND EHRFURCHT

Batthyány: Wenn wir nun den Weg von der Diagnose zur Therapie gehen wollten: Wie könnte ein solcher Ihrer Meinung nach aussehen?

Lukas: Schwer zu sagen. Ich weiß, in unserem Beruf gibt man sich mit diagnostischen Erwägungen nicht zufrieden. Man fragt sich sofort: Was wären denn Richtlinien für eine Therapie von Cyberkranken? Alle Logotherapeuten sind gut beraten, sich künftig intensiv mit dieser Frage zu beschäftigen. Überlegen wir: Gibt es einen Hinweis, den uns Frankl dazu hinterlassen hat? Er schrieb:

So ist die Zielsetzung der kollektiven Neurose dieselbe wie die der individuellen: Sie gipfelt und mündet aus in den Appell an das Verantwortungsbewusstsein … Wollen wir also unsere Patienten zum Bewusstsein ihres Verantwortlichseins bringen … dann müssen wir versuchen, uns den geschichtlichen Charakter des Lebens und damit die menschliche Verantwortung im Leben zu vergegenwärtigen … Dem Menschen … empfehle man zum Beispiel, einmal so zu tun, als ob er an seinem Lebensabend in seiner Biographie blätterte …18

Frankl führte an dieser Stelle aus, dass alle Details unverrückbar in den Abschnitten der eigenen Lebensvergangenheit festgeschrieben sind. Könnte man rückblickend eines davon ausradieren und verbessern, würde man das wohl oft gerne tun. Doch dieser Wunsch bleibt uns auf ewig versagt. Wie wäre es darum, schon während des Schreibens sorgsam darauf zu achten, dass die Details, die sich da verewigen, uns am Ende unseres Lebens nicht leidtun?19

Batthyány: Darf ich hier kurz einhaken – ich berichtete davon auch andernorts20, aber es passt so gut hierher, dass ich kurz davon erzählen möchte, wie mir eine ältere Deutschlehrerin in einem Hospiz eben diese Einsicht schilderte, obgleich sie Frankls Werk kaum kannte (außer sein Buch … trotzdem Ja zum Leben sagen). Wir trafen uns im Garten des Hospizes, in dem sie nun, schwerst herzkrank, ihre letzten Lebenstage verbrachte. Da saßen wir also unter einem schönen alten Apfelbaum und sie erzählte von ihrem Leben und war alles in allem recht versöhnt mit sich, ihrem Leben und auch ihrem baldigen Sterben. Dann fielen die Worte, die direkt anknüpfen an das, was Sie gerade zitiert haben. Sie sagte nämlich, dass ihre Lebensgeschichte nun zu Ende ginge, dass ich aber, als vergleichsweise junger Mensch, gut an mein Werk gehen solle – dass ich heute die Verantwortung tragen würde für das, was einmal in meiner Lebensgeschichte stehen werde. Es ist nicht leicht, die dichte und zugleich ungemein friedliche Atmosphäre dieses Gesprächs an einem Frühsommermorgen im Hospiz einzufangen. Aber ich muss sagen: Dieses Gespräch ist nun schon einige Jahre her, aber es ist seither eigentlich kaum ein Tag vergangen, an dem ich nicht an diese Worte denken musste.

Das Interessante aber ist: Frankl hat – und das schließt wieder an das Zitat an, das Sie soeben brachten – diesen Blick auf die eigene Endlichkeit und das Verdichten der eigenen Entscheidungen und Handlungen zur jeweils individuellen Lebensgeschichte ja auch therapeutisch als Weg der Vermittlung von Lebensverantwortung wie folgt vorgestellt:

Wir weisen den Kranken an, sich vorzustellen, sein Lebensablauf wäre ein Roman und er selbst eine entsprechende Hauptfigur; es läge dann aber ganz in seiner Hand, den Fortgang des Geschehens von sich aus zu lenken, sozusagen zu bestimmen, was im nächsten Kapitel zu folgen hat. Dann wird er statt der scheinbaren Last der Verantwortung, die er scheut und vor der er flüchtet, seine wesenhafte Verantwortlichkeit im Dasein als Freiheit der Entscheidung gegenüber seiner Unzahl von Möglichkeiten des Handelns erleben.

Noch intensiver können wir schließlich an den persönlichen Einsatz seiner Aktivität appellieren, wenn wir ihn dazu auffordern, sich vorzustellen, er sei an einem Endpunkt seines Lebens angelangt und im Begriffe, seine eigene Biographie zu verfassen; und eben jetzt halte er gerade bei jenem Kapitel, das von der Gegenwart handelt; und es liege nun, wie durch ein Wunder, ganz in seiner Hand, Korrekturen vorzunehmen; er dürfe gerade noch das, was unmittelbar darauf geschehen solle, ganz frei bestimmen … Auch das Vehikel dieses Gleichnisses wird ihn zwingen, aus dem Vollen seiner Verantwortlichkeit heraus zu leben und zu handeln.21

Nun, dass jemand, der so kurz vor dem eigenen Ende steht wie die oben erwähnte ältere Dame, diese Einsicht gewinnt, lebt und weitergibt, ist eine Sache. Eine andere ist es, mitten im Leben im Blick auf die eigene Endlichkeit einen Anstoß zur Verantwortung zu entdecken. Das hat etwas durchaus Drastisches an sich …

Lukas: Ja, Frankl fuhr schweres Geschütz auf. Er schlug vor, die Patienten mit ihrer Endlichkeit zu konfrontieren und ihnen ihre Lebensverantwortung von der Warte des Todes aus ans Herz zu legen. In seiner Genialität hat er wieder einmal exakt den Punkt getroffen. Ich gebe zu: Ich habe immer Widerwillen verspürt, wenn die Suchtprofis erklärten, „es müsse den Süchtigen erst miserabel genug gehen“, bevor sie sich zur Therapie aufraffen. Aber es stimmt, so traurig es ist. Wenn die Wahrnehmung des „Sinndrucks“ schwindet, hat der „Leidensdruck“ noch eine allerletzte Chance. Ähnlich operierte Frankl angesichts der Problematik pathologischer Zeitströmungen. Vom Faktum des Todes aus beleuchtet, ändern sich die Präferenzen. Deswegen möchte ich, was Präventiv- und Therapiemöglichkeiten betrifft, die Reihenfolge der aufgelisteten Beobachtungen umdrehen. Man wird damit beginnen müssen, die Auseinandersetzung mit den Schattenseiten des Lebens (inkl. Leiden und Sterben) voranzutreiben (4). Das wird – wie Frankl propagiert hat – das Verantwortungsbewusstsein für die Lebensnutzung schärfen (3). Daraufhin wird sich eine Dankbarkeit für vorhandene Sonnenseiten des Lebens einstellen (2) und der absurde Anspruch auf puren Lebensgenuss verlieren (1).

Tatsächlich zeichnen sich inzwischen derartige „Umkehrtrends“ vage ab. Deshalb möchte ich Sie gleichsam trösten: Ich sehe Grund zum „tragischen Optimismus“ (Frankl). Der Tod tastet sich mit seinen Fangarmen langsam durch die Fortschrittseuphorie hindurch. Die Autoabgase verpesten die Städte, die Klimaerhitzung verdorrt die Felder, der Plastikmüll besudelt die Meere, Viren breiten sich aus, die Schere zwischen Arm und Reich explodiert … Das von rasanten technischen und gesellschaftlichen Entwicklungen überrumpelte menschliche Gewissen regt sich in den Weltbevölkerungen und müht sich, im Wettlauf aufzuholen. Es flüstert von globalen Megaaufgaben, die nur im friedlichen und konsensualen Miteinander bewältigt werden können. Mit steigender, bedrohlicher Not wird sein Flüstern eindringlicher werden und das Cybergesumme übertünchen.

Not lehrt Furcht und Ehrfurcht, was sich im (zu Unrecht spöttisch gebrauchten) Wort „Not lehrt beten“ niederschlägt. Not lehrt uns, dass uns alles nur „auf Zeit“ gehört, aber auch, dass uns dieses „auf Zeit Gehörige“ in einem Gnadenakt anvertraut ist. Und Beten nährt unsere Hoffnung, dass die Gnade immer noch waltet …

1Frankl, V. E. (2005). … trotzdem Ja zum Leben sagen. Bd. 1 der Edition der Gesammelten Werke. Hrsg. von Batthyány, A., Biller, K. und Fizzotti, E. Wien: Böhlau, 79. Genau genommen handelt es sich bei Frankls Formulierung um eine semantische Verkürzung des Satzes: „Glück ist das Nicht-Eintreten von dem, was einem erspart bleibt.“

2Lukas, E. In: Frankl, V. E. (1982). Der Wille zum Sinn. Ausgewählte Vorträge über Logotherapie. Bern: Hans Huber (3. Auflage), 290

3Lukas, E. (1971). Logotherapie als Persönlichkeitstheorie. Dissertation. Universität Wien

4Crumbaugh, J. C. & Maholick, L. T. (1964). An experimental study in existentialism: The psychometric approach to Frankl’s concept of noogenic neurosis. In: Journal of Clinical Psychology, 20 (2), 200–207

5Das österreichische Ausbildungsinstitut für Logotherapie und Existenzanalyse (ABILE) wurde 1994 mit ausdrücklicher Zustimmung Viktor Frankls gegründet und führt neben der regulären Psychotherapieausbildung auch Forschungsprojekte im Bereich der Psychotherapiewissenschaften an der Donau-Universität Krems aus.

6Vgl. dazu Lukas, E. (2014). Vom Sinn des Augenblicks. Hinführung zu einem erfüllten Leben. Kevelaer: topos plus, Kapitel „Die Sonnenseiten des Lebens bejubeln“

7Aspinwall, L. G. & Staudinger, U. M. (Eds.) (2003). A Psychology of Human Strengths: Fundamental Questions and Future Directions for a Positive Psychology. Washington, DC: American Psychological Association

8Berscheid, E. (2003). The human’s greatest strength: Other humans. In: Aspinwall & Staudinger. A Psychology of Human Strengths, s. Anm. 7

9Frankl, V. E. (1982). Theorie und Therapie der Neurosen. München: UTB

10Frankl, V. E. (1955). Pathologie des Zeitgeistes: Rundfunkvorträge über Seelenheilkunde. Wien: Deuticke

11Frankl, V. E. (2018). Psychotherapie für den Alltag: Rundfunkvorträge über Seelenheilkunde. Freiburg/Br.: Herder, 47

12Linville, P. W., Fischer, G. W. & Salovey, P. (1989). Perceived distributions of the characteristics of in-group and out-group members: Empirical evidence and a computer simulation. In: Journal of Personality and Social Psychology, 57 (2), 165; Struch, N. & Schwartz, S. H. (1989). Intergroup aggression: Its predictors and distinctness from in-group bias. In: Journal of Personality and Social Psychology, 56 (3), 364.

13Johnson, J. J. (2010). Beyond a shadow of doubt: The psychological nature of dogmatism. In: International Journal of Interdisciplinary Social Sciences, 5 (3)

14Allers, R. (1963/2008). Abnorme Welten. Ein phänomenologischer Versuch zur Psychiatrie. Hrsg., kommentiert und eingeleitet von Batthyány, A. Weinheim/Basel: Beltz, 143

15Vgl. dazu die Kapitel „Viel Bildschirmzeit – wenig Empathie“ und „Vorbild und Beeinflussbarkeit“ in Lukas, E. (2018). Auf den Stufen des Lebens. Bewegende Geschichten der Sinnfindung. Kevelaer: topos premium

16Während anfangs noch eine gewisse Vorsicht beim Suchtmittelkonsum waltet, verliert sich diese immer mehr, weil die sukzessive Abhängigkeit einen häufigeren Konsum und/ oder eine laufende Dosissteigerung erfordert. Das nennt man „Toleranzverlust“. Der suchtmittelfreie Zustand wird vom Organismus immer weniger und schlechter „toleriert“.

17Vgl. dazu: Spitzer, M. (2015). Cyberkrank! Wie das digitalisierte Leben unsere Gesundheit ruiniert. München: Droemer

18Frankl, V. E. (1982). Der leidende Mensch. Bern: Hans Huber (2. Auflage), 197f.

19Diesen Gedankengang gipfelte Frankl in seiner imperativen Maxime auf: „Lebe so, als ob du zum zweiten Mal lebtest und das erste Mal alles so falsch gemacht hättest, wie du es zu machen – im Begriffe bist.“

20Batthyány, A. (2019). Die Überwindung der Gleichgültigkeit. Sinnfindung in einer Zeit des Wandels. München: Kösel (2. Auflage), 53f.

21Frankl, V. E. (2010). Logotherapie und Existenzanalyse. Texte aus sechs Jahrzehnten. Weinheim: Beltz, 22f.

II. ZUR PSYCHOLOGISCHEN BEDEUTUNG REALISTISCHER MENSCHENBILDER
1. UNSER SELBSTBILD UND SEINE AUSWIRKUNGEN

Batthyány: Wir sprachen zuletzt von der Not als Lehrmeister … es gibt aber auch noch andere und weitaus weniger glaubwürdige Lehrmeister, die unser Welt- und Menschenbild jedoch maßgeblich prägen. Es sind Lehrmeister, denen zugleich oft viel mehr und lieber Gehör geschenkt wird als der eigenen Not oder der Not der anderen. Ich denke da insbesondere an die Rolle der Wissenschaft, vor allem auch der Psychologie, bei der Prägung unseres Menschenbilds.

Wir beobachten ja in den letzten Jahren eine erneut entfachte breite Diskussion über die Grundfragen und das Wesen des Menschseins, wie sie in dieser Intensität vielleicht zuletzt zu Zeiten Darwins oder Freuds stattgefunden hat. Diese Entwicklungen hängen eng zusammen mit den Fortschritten der Neurowissenschaften, vor allem aber auch ihrer Popularisierung und Vereinfachung auf einen blanden Materialismus und Determinismus durch die populärwissenschaftlichen und Massenmedien. Auf die Materialismusdebatte brauchen wir hier jetzt nicht einzugehen – das würde ein eigenes Buch füllen und auf uns warten ja noch viele andere Themen, die besprochen werden wollen. Diejenigen, die sich für das Materialismusproblem interessieren und zu diesem Themengebiet nach Antworten suchen, finden aber ohnehin bereits eine Menge hervorragender Abhandlungen zu diesem Thema.22

Aber zum Determinismus gibt es einiges zu sagen – auch deswegen, weil es dazu einige empirische Befunde gibt, die uns in diesem Zusammenhang aus mehreren Gründen interessieren sollten. Sie belegen nämlich erstens den starken und direkten Zusammenhang zwischen dem, was wir tun, und dem, was wir über uns und den Menschen denken und glauben – bzw. ihm und uns zutrauen. Zweitens zeigen sie aber auch, dass ein doch erheblicher Teil unseres Verhaltens durch unsere Einstellungen änderbar ist. Und drittens – etwas weiter gedacht – zeigen sie daher auch: Wenn Einstellungen dauerhaft änderbar sind, ist auch Verhalten dauerhaft änderbar. Das ist vielleicht auch für all jene eine gute Botschaft, die sich immer wieder das Versprechen abnehmen, „von jetzt an anders zu handeln“, dann aber doch immer wieder rückfällig werden und nach einer Weile feststellen müssen, dass der bloße Vorsatz, etwas von nun an anders zu machen, noch lange nicht ausreicht, um diesen Vorsatz auch wirklich tätig umzusetzen. Die Forschung zeigt ebenso wie die Lebenserfahrung der wohl meisten: Eine zusätzliche Zutat ist vonnöten – und diese Zutat scheint nun ganz grundlegend die jeweilige Einstellung zu sein, und hierbei vor allem unser Selbst- und Menschenbild: Ermutigt es uns, frei und proaktiv von unseren Möglichkeiten Gebrauch zu machen – oder entmutigt es uns und stempelt es uns zum Opfer unserer inneren und äußeren Bedingtheiten ab?

Um das konkreter auszuführen: Jemand, der sich und sein Verhalten für weitgehend abhängig von Innen- und Außenzuständen betrachtet, wird vermutlich gar nicht erst – oder weniger intensiv – versuchen, seinen Bedingtheiten gegenüber Stellung zu beziehen.23 Das klingt nun zunächst sehr einfach und naheliegend – aber wie eng dieser Zusammenhang wirklich ist, belegen einige Experimente über die Wechselwirkung von Selbstbild und Handeln, die von Verhaltensforschern in den letzten Jahren durchgeführt worden sind.

Die Experimente folgten im Prinzip zumeist demselben Schema. Man nahm eine zufällige Stichprobe und teilte sie in zwei Gruppen ein. Beide Gruppen bekamen – unter irgendeinem Vorwand – einen Text zu lesen. Der Text der ersten Gruppe argumentierte in ziemlich überzeugender Weise dafür, dass der Mensch vollständig durch seine Innen- und Außenumstände determiniert sei („nicht anders könne“). Der anderen Gruppe wurde in ebenso überzeugender Weise dargelegt, der Mensch sei zwar in Maßen bedingt, aber es käme vor allem auf seine eigenen frei gewählten Entscheidungen an, wie er sich verhalte; der Mensch sei daher in relevanter Weise willensfrei („er könne stets auch anders“).

Für gewöhnlich verbirgt man in solchen Studien die wissenschaftlichen Hintergrundabsichten vor den Versuchspersonen, damit man Erwartungseffekte, Verfälschungen und Ähnliches möglichst ausschließen kann. So auch hier. Das Ziel war ja, die reine, unmittelbare Wirkung des Glaubens oder Unglaubens an die eigene Willensfreiheit auf das Verhalten des Menschen zu untersuchen. Zu diesem Zweck gab es eine sogenannte Coverstory. Bei den erwähnten Experimenten ließ man die Versuchspersonen glauben, sie würden an einer Reihe mehrerer kleiner Einzelstudien teilnehmen, die nichts miteinander zu tun hätten. Von der ersten Studie wurde den Versuchspersonen mitgeteilt, sie teste das Verhältnis von Textverständnis und Texterinnerung. Die Versuchspersonen bekamen je nachdem, welcher Versuchsgruppe sie (zufällig) zugeteilt wurden, einen vermeintlich brandneuen Artikel einer wissenschaftlichen Zeitschrift zu lesen, in dem von angeblich definitiven und revolutionären Forschungsergebnissen berichtet wurde, denen zufolge nun wissenschaftlich zweifelsfrei erwiesen sei, menschliches Verhalten sei vollständig determiniert (für die „unfreie Gruppe“) bzw. nicht determiniert, sondern stünde im Einflussbereich der bewussten Entscheidungsfähigkeit der Person (für die „freie Gruppe“). Natürlich waren beide Artikel fiktiv, aber den Versuchspersonen verriet man dies nicht. Sie glaubten, dass sie gerade eine grundlegende wissenschaftliche Stellungnahme für oder gegen die eigene Willensfreiheit gelesen hätten.

Nach dem Stellen einiger für die eigentliche Forschungsabsicht unwichtiger Testfragen wurde dieser Teil der Studienreihe für beendet erklärt und die Versuchspersonen wurden auf das nächste Experiment vorbereitet. Dieses war dann das entscheidende Experiment, diente also der eigentlichen experimentellen Überprüfung der Frage, wie sich der Glaube an einen Pandeterminismus oder an die eben doch vorhandene Willensfreiheit auf das Alltagsverhalten der Versuchspersonen auswirke. So sollten die Probanden in einem dieser Folgeexperimente24 z. B. einige Rechenaufgaben im Kopf lösen. Die Anweisung lautete: Auf einem Computermonitor würden nacheinander 20 mathematische Probleme präsentiert werden, die mit etwas Geduld und Ausdauer durch Kopfrechnen zu lösen seien (1+8+18+12+19-7+17-2+8-4=? etc.). Die Versuchspersonen sollten die Lösungen auf einem bereitgestellten Blatt Papier notieren.

Jedoch merkte der Versuchsleiter entschuldigend an, dass aufgrund eines Programmierfehlers die richtige Lösung einige Sekunden nach Präsentation der Aufgabe automatisch auf dem Monitor aufscheinen würde. Das sei nicht gewollt – und er bat die Versuchspersonen um ihre Mithilfe: Sie sollten kurz, nachdem die Aufgabe auf dem Monitor erschien, die Leertaste der vor ihnen liegenden Tastatur drücken – damit könnten sie unterbinden, dass die Lösung auf dem Bildschirm präsentiert werde. Der Versuchsleiter betonte, dass er zwar nicht nachprüfen könne und werde, ob und wie oft die Versuchsteilnehmer die Leertaste drückten, um das automatische Aufscheinen der Lösung zu verhindern. Aber er bat sie inständig darum, nicht zu mogeln und die mathematischen Probleme wirklich selbständig zu lösen – also nicht einfach ohne Drücken der Leertaste darauf zu warten, dass die Lösung erscheine. Andernfalls wären die Versuchsergebnisse wertlos und die langen und aufwendigen Vorbereitungsarbeiten vergeblich gewesen.

Daraufhin verließ der Versuchsleiter unter irgendeinem Vorwand den Raum; die Versuchspersonen fühlten sich also unbeobachtet und sich selbst überlassen. In Wahrheit registrierte der Computer aber natürlich, wie oft die Studienteilnehmer die Leertaste drückten bzw. wie oft sie warteten, bis die Lösung von alleine erschien.

Die Versuchspersonen hatten somit die Gelegenheit, die frustrierend langweiligen Rechenaufgaben deutlich bequemer hinter sich zu bringen, indem sie einfach nicht die Leertaste drückten und lediglich darauf warteten, bis die Lösungen auf dem Monitor aufleuchteten. Auf diese Weise wurde ein direkter Konflikt zwischen lust- und unlustbestimmtem Verhalten einerseits und rücksichtsvollem und im weitesten Sinne wertorientiertem Verhalten andererseits herbeigeführt. Es wurde mit anderen Worten eben jene Verleitungs- oder Versuchungssituation provoziert, der der ichschwache Mensch so häufig erliegt mit der Begründung, „nicht anders gekonnt zu haben“.

Ziel des Experiments war es, zu untersuchen, ob es in einer solchen Situation einen Unterschied ausmache, ob die Teilnehmer zuvor davon überzeugt worden waren, dass sie willensfrei bzw. willensunfrei seien. Und tatsächlich zeigte sich ein höchst signifikanter Effekt des recht kurzen Überzeugungstextes: Die Versuchspersonen, denen zuvor glaubhaft gemacht worden war, sie seien „unfrei“, drückten wesentlich seltener die Leertaste (in 48 % aller Fälle) – schummelten also signifikant häufiger als die Versuchsteilnehmer, denen zuvor ihre Freiheit zugesichert und bestätigt worden war. Diese drückten in durchschnittlich 70 % der Fälle die Leertaste. Oder anders formuliert: Die sich unfrei denkenden Versuchspersonen schummelten durchschnittlich bei 52 % der Rechenaufgaben, die sich frei denkenden Versuchspersonen bei durchschnittlich nur 30 %. Zudem zeigte sich eine starke positive Korrelation zwischen dem Glauben an die menschliche Willensfreiheit und ehrlichem Verhalten. Je erfolgreicher die Manipulation also war (d. h. je eher die Versuchspersonen dem jeweiligen Text Glauben schenkten), desto stärker war der hier beschriebene Effekt.

Dieser Versuchsaufbau wurde mittlerweile in unterschiedlichen Variationen und Testkonstellationen wiederholt – mit immer demselben eindeutigen Ergebnis. Es zeigte sich u. a., dass Menschen, die nicht an ihre eigene Entscheidungsfreiheit glauben, signifikant aggressiver handeln gegenüber unbekannten Personen, von denen ihnen zuvor – in einer wiederum kontrollierten Laborsituation – mitgeteilt worden war, dass sie sie als Spielpartner für einen weiteren Test abgelehnt hätten (Prinzip: „Wie du mir, so ich dir“). Es zeigte sich, dass sie allgemein weniger zuvorkommend sind (Prinzip: „Das können andere machen, ich bin mit meinen eigenen Sachen beschäftigt. Ich habe nichts davon, andere zu unterstützen“). Es zeigte sich, dass sie sich in Gruppensitzungen sogar wider besseres Wissen angepasster verhalten (Prinzip: „Mir ist wichtig, was andere über mich denken. Ich brauche ihre Anerkennung, weil ich mich dann besser fühle. Also stimme ich ihrem Urteil zu, obwohl ich es eigentlich nicht teile“). Es zeigte sich, dass sie weniger kooperativ sind, wenn es darum geht, auf Bitte des Versuchsleiters freiwillig einige Minuten länger als nötig an einer Aufgabe zu arbeiten (Prinzip „Was kümmert mich der andere, wenn es um mich geht?“). Und es zeigte sich, dass sie weniger hilfsbereit sind, wenn dem Versuchsleiter scheinbar versehentlich ein paar Utensilien aus der Hand fallen.25

Einige dieser Experimente haben wir mit meiner Forschungsgruppe an der Universität Wien wiederholt, und es ist, wenn man es mit eigenen Augen verfolgt, wirklich verblüffend, wie stark eine derart kurze „Intervention“ – das Lesen eines persuasiven Textes – über den Umweg des dadurch geänderten Menschen- und Selbstbilds sich auf das Verhalten der Versuchspersonen auszuwirken vermag. Wir haben allerdings weniger die problematischen Auswirkungen des Glaubens an den Pandeterminismus untersucht, als vielmehr die aufbauenden und positiven Auswirkungen des wieder erstarkten Glaubens an die eigene Willensfreiheit.26 Auch hier waren die Effekte stark (und durchaus heilsam etwa bei Prokrastination und ängstlichem Vermeidungsverhalten). Kurzum, die Forschungsergebnisse bestätigen, dass es einen erheblichen und messbaren Unterschied ausmacht, was Menschen über sich denken und von sich glauben. Und dass dasjenige, was sie über sich glauben, zugleich relativ leicht zu beeinflussen ist. Man braucht den Leuten beispielsweise nur glaubhaft mitzuteilen, es sei „wissenschaftlich erwiesen, dass …“, und dann reicht schon ein wenige Paragraphen umfassender Text, um ihr Selbst- und Menschenbild und über diesen Faktor ihr (moralisch relevantes) Verhalten zu beeinflussen.

Das alles ist nur ein kleiner Ausschnitt aus einem weitaus umfassenderen Datensatz ähnlicher Versuchsergebnisse, die insgesamt die logotherapeutische Aussage bestätigen, es gebe einen ausschlaggebenden und zentralen Zusammenhang zwischen Menschenbild, Selbstbild und Verhalten: Sie zeigen, wie stark der Einfluss unseres Menschenbilds auf das Bild ist, das wir von uns selbst abgeben.

Ferner machen diese Befunde aber auch deutlich, wie hoch die Verantwortung der Psychologen und Verhaltenswissenschaftler und Therapeuten ist, wenn sie Theorien und Modelle über „den“ Menschen in Umlauf bringen. Ich bin mir nicht sicher, ob sie sich im Klaren darüber sind, dass ihre Theorien und Modelle in der allgemeinen Öffentlichkeit schnell als „wissenschaftlich fundierte Wahrheit“ aufgefasst werden – und seien sie noch so unausgegoren, spekulativ, fraglich oder weltanschaulich voreingenommen … und welchen Schaden sie auch anzurichten vermögen.

Lukas: Die Schlussfolgerungen aus den erwähnten Experimenten sind in der Tat brisant, fast ein bisschen beängstigend. Bleibt zu hoffen, dass die beteiligten Versuchspersonen nach Beendigung der von Ihnen beschriebenen Experimente darüber aufgeklärt worden sind, dass die ihnen vorgelegten Artikel pro oder kontra die Willensfreiheit frei erfunden gewesen sind und keinerlei „definitiven und revolutionierenden Forschungsergebnissen“ entsprochen haben. Man hat ihnen hoffentlich im Nachhinein gestanden, dass sie belogen worden sind.

Meines Erachtens wäre ein aufrichtiges und die Sichtweise zurechtrückendes Endgespräch mit jedem einzelnen Probanden die Mindestpflicht der Versuchsleiter gewesen.

Batthyány: Ja, eine ausführliche nachträgliche Aufklärung („debriefing“) ist sogar vorgeschrieben in den Ethikrichtlinien für psychologische Experimente im Allgemeinen und insbesondere für solche, in denen die Versuchspersonen durch die Versuchsleiter bewusst getäuscht worden sind.

Lukas: (Wollte man den „advocatus diaboli“ spielen, könnte man überlegen, ob es „ehrwürdiger“ ist, zu wissenschaftlichen Zwecken zu mogeln – wie die Versuchsleiter – als zu Bequemlichkeitszwecken zu mogeln – wie manche Versuchspersonen –, aber auf dieses schlüpfrige Parkett will ich mich nicht begeben.)

Vom psychologischen Standpunkt aus fällt die ganze Chose unter die Dachkategorie der Suggestionen, deren Wirkungen seit Urzeiten bekannt sind. Im Negativen ist ein riesiger Bogen um sie zu machen. Was hat zum Beispiel allein die Vermutung, ein „unerwünschtes Kind gewesen zu sein“, schon an Unfug gestiftet, um nur ein winziges Detail aus den vielen problematischen Deutungen herauszugreifen, die das Leben eines Menschen vergiften können. Trotzdem wird die Frage des ursprünglichen Erwünschtgewesen-Seins nicht selten bei Anamnesen in psychologischen Praxen diskutiert. Im Positiven bedienen sich sämtliche „Wunderheiler“ seit der Antike der Suggestion. Selbst Frankl ist nicht davor zurückgeschreckt, sie gelegentlich für seine Zwecke einzuspannen.27

Darf ich Ihre Erläuterungen noch dahingehend ergänzen, dass jede Einflussnahme sowohl auf das Selbstbild als auch auf das Menschenbild einer Person äußerst behutsam und verantwortlich zu handhaben ist. Bei den obigen Experimenten ging es um Einflüsse auf das Selbstbild. Doch auch, was wir über andere Menschen glauben, welches Bild wir uns von (speziellen?) anderen machen, bestimmt entscheidend mit, wie wir jenen anderen begegnen. Hierzu ein irrwitziges Detail aus meiner Studienzeit:

Die 1960er Jahre waren die Jahre unzähliger Rattenexperimente in den Psycholabors. Eine der Anordnungen bestand darin, dass eine Ratte von einem Podest, auf das sie gesetzt wurde, zu einem zweiten Podest nur über ein elektrisch aufgeladenes Gitter gelangen konnte, dessen Überquerung ihr heftige Schmerzen bereitete. Warum sollte sie also über das Gitter laufen? Na, weil sich dort etwas Verlockendes befand. Im ersten Versuch setzte man ein hübsches Weibchen auf das zweite Podest. Das Männchen auf dem ersten Podest sah zwar begehrlich hinüber, verkniff sich aber den schmerzhaften Weg zu seiner Geschlechtspartnerin. Im nächsten Versuch bestückte man das zweite Podest mit duftender Nahrung. Die ausgehungerte Ratte auf dem ersten Podest lief zuckend und quietschend hinüber, um sich zu sättigen, aber als man sie sogleich wieder zurückversetzte, blieb sie hocken. Der Hunger war ihr doch lieber als der Schmerz. Im nächsten Versuch legte man ein Rattenjunges auf das zweite Podest und beobachtete die Rattenmutter auf dem ersten Podest. Was würde sie tun? Sie lief über das elektrisch aufgeladene Drahtgitter zu ihrem Jungen. Man setzte sie zurück, und wiederum lief sie zu ihrem Jungen. Man erhöhte die Stromstärke im Gitter, und wiederum lief sie zu ihrem Jungen. Sie lief so lange, bis sie tot war.

Mir ist dieses Experiment – gegen das heutzutage die Tierschützer vehement protestieren würden – in Erinnerung geblieben, weil es mich zutiefst ergriff. Umso eigenartiger aber war der Kommentar der damaligen Professorengilde. „Meine Damen und Herren, Sie sehen, dass der Muttertrieb der stärkste Trieb ist, stärker noch als der Sexualtrieb oder der Nahrungstrieb. Alles, was Ihre Mütter folglich jemals für Sie getan haben, haben sie getan, um ihren eigenen stärksten Trieb zu befriedigen …“

Wir Studenten lachten – aber war es zum Lachen? War nicht mit wenigen Sätzen unser bisheriges Mutterbild umgestülpt, wenn nicht gar entwertet worden? Ach, wie gut, dass ich später in Frankls Vorlesung gestolpert bin! Dort erfuhr ich postwendend, dass es sich bei dem Professorenkommentar um eine unzulässige Projektion aus der menschlichen Dimension, in der sich so etwas wie selbstlose Mutterliebe findet, in die tierische Ebene der Triebe und Instinkte handelte – und mein Mutterbild war wieder okay.

Türler ve etiketler

Yaş sınırı:
0+
Hacim:
411 s. 2 illüstrasyon
ISBN:
9783702238957
Yayıncı:
Telif hakkı:
Bookwire
İndirme biçimi:
Metin
Ortalama puan 0, 0 oylamaya göre