Kitabı oku: «Geschichte der deutschen Literatur. Band 2», sayfa 2
Dagegen machen die Aufklärer Front, so sehr sie selbst als Intellektuelle auch mit Büchern leben, selbst immerzu mit Lesen und Schreiben beschäftigt sind. Was die Aufklärer des 18. Jahrhunderts von den christlichen Theologen und den Humanisten des 16. und 17. Jahrhunderts vor allem trennt, ist ihre Absage an Buchgelehrsamkeit und Schriftgläubigkeit. Bücher sind für sie nur Hilfsmittel; worauf es ihnen vor allem ankommt, ist das, was im wirklichen Leben geschieht, oder, wie sie selbst lieber sagen, was in der „lebendigen Natur“ vor sich geht, was „natürlich“ ist. In dem berühmtesten Werk von Lessing, dem „dramatischen Gedicht“ „Nathan der Weise“, von dem hier noch ausführlich die Rede sein soll, heißt es einmal von Nathan, daß er „die kalte Buchgelehrsamkeit“ nicht liebe, „die sich mit toten Zeichen ins Gehirn nur drückt“ (LN V, 382 –385); das ist typisch. Demgemäß suchen die Aufklärer Gott weniger in der Bibel als in der „lebendigen Natur“ und suchen sie Wissenschaft und Kunst weniger in den Schriften der Alten als in eben dieser Natur.
Die Kritik an der Buchgelehrsamkeit und am Buchgelehrten ist gerade für die Literatur ein dankbares Feld gewesen. Es gibt kaum ein Werk von Bedeutung im 18. Jahrhundert, das nicht an irgendeiner Stelle zur Gelehrtensatire wird und sich über die Verstiegenheit
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und Weltfremdheit des bloßen Buchgelehrten lustig macht.2 Damit setzt man sich von der Literatur der frühen Neuzeit ab, die, jedenfalls soweit sie vom Humanismus geprägt war, eine gelehrte Dichtung, eine Gelehrtendichtung war, ja deren literarische Texte oftmals mit Fußnoten und Quellenbelegen versehen sind wie eine wissenschaftliche Abhandlung. Auch wenn die Aufklärer von ihrem Bildungsgang her gelehrte Humanisten sind, wollen sie doch keine Gelehrtendichtung mehr fabrizieren, wollen sie anders schreiben, „natürlicher“ schreiben, und das machen sie eben mit den Mitteln der Gelehrtensatire deutlich. Wie die Humanisten einen Kampf gegen die Unbildung geführt haben, so kämpfen die Aufklärer nun gegen die Überbildung.
Abkehr vom Rationalismus,„Naturalismus“
Damit ist ein weiteres wichtiges Stichwort gefallen: Natur. Keinen Begriff haben die Aufklärer häufiger im Mund geführt als den der Natur. Er ist für sie wichtiger als der Begriff, der von den Nachgeborenen bis heute vor allem mit ihren Bestrebungen verknüpft wird, als der Begriff der Vernunft. Von den ersten Kritikern der Aufklärung bis in die heutige Wissenschaft hinein, bis hin zur modernen Literaturgeschichtsschreibung hat sich ja die Vorstellung festgesetzt, die Aufklärung habe eine Art Kult der Vernunft, der „ratio“ veranstaltet, sie habe einem selbstherrlichen Rationalismus, einem „Logozentrismus“ gehuldigt, sie habe sich der Vernunft geradezu im Sinne einer „Totalitätsobsession“ verschrieben gehabt. Die Aufklärer hätten geglaubt, daß die menschliche ratio alles erklären und alles regeln, alles in den Griff bekommen könne, von der Natur über die Gesellschaft bis hin zum Leben des Einzelnen.
Unterwerfung der Natur, Unterwerfung der natürlichen Triebe des Menschen unter die ratio, ein rational kontrolliertes Leben, ein rational veranstalteter Fortschritt, und in diesem Sinne Vervollkommnung des Einzelnen wie der Gesellschaft, „Perfektibilität“, Fortschritts- und Geschichtsoptimismus – das sind bis heute beliebte Stichworte, wo es um die Aufklärung geht.3 Von der ratio her habe man am Glück der Menschheit arbeiten wollen, an allen Abgründen des Menschen
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und allen Abgründen der Geschichte vorbei. So kann man es etwa in der „Dialektik der Aufklärung“ (1947) von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno lesen, und bei ihnen hat sich gerade die Germanistik in den letzten Jahrzehnten immer wieder über das 18. Jahrhundert belehren wollen.
Aber Adorno und Horkheimer haben nur wenig vom 18. Jahrhundert verstanden; sie sprechen, wo sie die Aufklärung in den Blick nehmen, im Grunde von der positivistischen Wissenschaftskultur des 19. Jahrhunderts. Die Aufklärer des 18. Jahrhunderts waren weniger Rationalisten als vielmehr „Naturalisten“. Wenn sie denn überhaupt einen Kult betrieben haben, dann war das ein Kult der Natur und kein Kult der Vernunft. Wo immer sie zur Sache kommen, wo immer sie auf das zu sprechen kommen, was für sie das Wesentliche ist, da erscheint in ihren Texten an zentraler Stelle der Begriff der Natur, und auch wo es nicht um Wesentliches geht, bei allem und jedem heißt es bei ihnen: Natur, Natur, Natur!4 So haben sie sich zum Beispiel in der Theologie um natürliche Gottesbegriffe bemüht, in der Philosophie um die allgemeine Menschennatur und um eine natürliche Ethik, in der Wissenschaft um die Naturerkenntnis, im staatlichen Leben um die Geltung des Naturrechts, und in der Kunst und Literatur um das Prinzip der Naturnachahmung, der imitatio naturae, der mimesis. Die Dichtung sollte nun weniger Kunst sein – Kunst im Sinne von Künstlichkeit – als vielmehr etwas Natürliches, sie sollte irgendwie „Naturpoesie“ sein.
Und die Natur steht für die Aufklärer eben über der menschlichen Vernunft, sie übersteigt für sie immer schon die Möglichkeiten der Vernunft. In diesem Sinne haben sie durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch an einer Kritik der Vernunft gearbeitet, wie sie Kant dann gegen Ende des Jahrhunderts in seinen großen Kritiken zusammenfaßt, haben sie sich überall darum bemüht, der Vernunft ihre Grenzen aufzuzeigen, zumal dort, wo sie sich zu großen „Systemen“ versteigt, die das Ganze der Welt erklären wollen.5 „The most ingenious way of
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becoming foolish, is by a system“, heißt es schon bei dem frühen Aufklärer Shaftesbury,6 und noch Goethe warnt davor, die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Natur „zu einer systematischen Form“ zu treiben (HA 13, 20). Die Natur soll der Vernunft zwar zugänglich sein, insofern sie nach Gesetzen funktioniert, die der Verstand einsehen kann, aber sie soll zugleich über alles hinausreichen, was die Vernunft sich jemals wird denken können. So daß für den Menschen der richtige Weg nur sein kann, der Natur zu folgen, auf sie zu hören, sich an sie anzuschließen, sich mit seinem Leben und Denken in sie einzupassen: vivere secundum naturam; in Worten eines anderen frühen Aufklärers, Alexander Pope: „Take Nature’s path, and mad Opinion’s leave“ (PE IV, 29), in Worten des deutschen Autors Wieland: „Laßt uns (…) der Natur folgen; einer Führerin, die uns unmöglich irre führen kann“.7 Wer sich die Natur allen Ernstes würde unterwerfen, sie theoretisch und praktisch würde beherrschen wollen, der würde unweigerlich bei Krampf und Gewalt enden. Das ist Aufklärung.
Aufklärung als Verbindung von „Kritizismus“ und „Naturalismus“
Wir haben also nun ein zweites Lieblingswort der Aufklärer neben dem Wörtchen „kritisch“, das Prädikat „natürlich“, und eine zweite Maxime neben der, die in den Dikta „sapere aude“ und „nil admirari“ zum Ausdruck kommt, die Maxime „vivere secundum naturam“. Es ist ein sicheres Indiz dafür, daß man einen Text der Aufklärung vor sich hat, wenn man auf die Kombination der beiden Prädikate „kritisch“ und „natürlich“ trifft, nicht weniger sicher, als wenn man auf Begriffsoppositionen wie Natur versus Meinung, Natur versus Vorurteil oder Natur versus Aberglauben trifft.
Die Aufklärer sind zunächst einmal kritische Menschen; sie nehmen das, was ihnen überliefert ist, nicht einfach unkritisch hin, wollen die Überlieferung kritisch durchleuchten. Die Basis ihrer Kritik, das Fundament, von dem aus sie das Überlieferte ins Auge fassen, um es gegebenenfalls als schlechte Gewohnheit, als bloße Meinung, als Vorurteil und Aberglauben abzuqualifizieren, ist vor allem das, was sie Natur
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nennen; sie stellen sich auf den Boden der Natur. Was aber heißt: auf dem Boden der Natur? Es heißt: auf dem Boden der Erfahrung. Natur ist, was man erfahren kann, was man sinnlich wahrnehmen, sehen, hören, riechen, schmecken, ertasten, erfühlen, erleben kann, und dann mit seinem Verstand verarbeiten und mit seinem Gedächtnis festhalten; Erfahrung ist, was man sich in der Auseinandersetzung mit der Natur erwirbt. Kritik an der Überlieferung heißt hier mithin, das Überlieferte auf den Prüfstand der Erfahrung stellen, und das wiederum heißt: auf den Prüfstand der Natur; und dabei kann es sich dann eben als wahr oder falsch erweisen. Die erste, wichtigste Quelle des Wissens ist für die Aufklärer anders als für die Humanisten nicht mehr das, was in altehrwürdigen Büchern steht, sondern die Erfahrung.
Individualisierung und Geniekult
Mit diesen Begriffen von Natur und Erfahrung ist ein weiterer Begriff eng verknüpft, der der Emanzipation. Mit Emanzipation ist hier der Weg des einzelnen Menschen, des Individuums weg von der Bindung an Autoritäten, Traditionen und Konventionen hin zu einem offenen Raum gemeint, in dem er ein Leben nach eigener Wahl, ein selbständiges, selbstbestimmtes Leben führen kann. Zu einer Erfahrung gehört ja immer ein Mensch, der sie macht, ein Individuum als Subjekt dieser Erfahrung, ein Ich, dem die betreffende Erfahrung zuteil wird. Da muß ein Subjekt sein, das wahrnimmt, sieht, hört, fühlt, erlebt, das sich etwas dabei denkt, das das Wahrgenommene und Bedachte als richtig und wichtig, wahr und sinnvoll bewertet, das es in seinem Gedächtnis abspeichert und gegenüber anderen für es eintritt – ohne Subjekt keine Erfahrung. In dem Maße nun, in dem die Erfahrung wichtiger wird als die Überlieferung, wenn nicht gar zum Maß aller Dinge, vollzieht sich zugleich eine Aufwertung des Individuums als des unentbehrlichen Trägers des Erfahrungmachens, und damit eine Aufwertung alles Individuellen. Mit der Abkehr von der Autorität der Überlieferung im Setzen auf die Natur und die Erfahrung geht die Emanzipation des Individuums Hand in Hand. So ist das 18. Jahrhundert auch das Jahrhundert gewesen, in dem der moderne Individualismus erstmals sein Haupt erhoben hat. In Worten Wielands: die „Natur (…) will, daß ein jeder Mensch seine eigene Person spiele“.8
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Ein zentraler Schauplatz für die Erkundung der neuen Bedeutung des Individuums ist das Nachdenken über das Genie gewesen. Durch das ganze 18. Jahrhundert hindurch hat man sich immer wieder mit dem Begriff des „Originalgenies“ auseinandergesetzt, so sehr, daß eine bestimmte Phase der literarischen Entwicklung in Deutschland, die Phase des „Sturm und Drang“, auch „Geniezeit“ genannt werden konnte.9 Aber der Begriff des Genies ist hier nicht nur ein Thema der Kunst; letztlich bezeichnet er einen entscheidenden Zugang zu dem neuen Bild vom Menschen, das die Aufklärung entworfen hat, zu ihrer Anthropologie. Das Genie ist das große Paradigma des neuen Individualismus. An ihm wird studiert, welche Dimensionen die Eigenart und die Bedeutung des Individuums annehmen kann; das zeigt eben der Bestandteil Original im Begriff des Originalgenies. Die Taten des Genies lassen erkennen, in welchem Maße sich die Erfahrungen, in denen dem Menschen seine Welt aufgeht, der Individualität und Subjektivität dessen verdanken, der da Erfahrungen macht und von ihnen Zeugnis ablegt.
Naturrecht vs. Ständegesellschaft
Die Emanzipation des Individuums hat natürlich immer auch eine politisch-gesellschaftliche Seite. Das macht uns darauf aufmerksam, daß sich die Aufklärung bei ihrer kritischen Prüfung der Tradition im Rückgang auf Erfahrung und Natur noch mit einer dritten großen Macht der Überlieferung neben dem Erbe des Christentums und dem Erbe der Antike beschäftigt hat: mit der Gesellschaftsordnung, und das heißt seinerzeit: mit einer feudal-ständischen Ordnung. Denn die Gesellschaft war im 18. Jahrhundert noch immer eine Ständegesellschaft, wie sie letztlich auf das mittelalterliche Feudalwesen zurückgeht, eine Gesellschaft mit einem Fürsten, einem Monarchen an der Spitze und mit den Ständen des hohen und niederen Adels, des hohen und niederen Klerus, des patrizischen Stadtbürgertums, der Handwerker und der Bauern darunter, mit Ständen, die jeweils besondere Rechte, besondere Privilegien genossen, deren Mitglieder also nicht gleich waren vor dem Gesetz und demgemäß im staatlich-politischen Leben unterschiedliche Rollen zu spielen, unterschiedliche Funktionen wahrzunehmen hatten. Diese Ordnung und diese Privilegien rechtfertigten sich ebenfalls mit
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der Autorität der Überlieferung. Die Ordnung sollte legitim sein, weil sie eine altehrwürdige und alterprobte Ordnung war, die Privilegien sollten legitim sein, weil sie ererbte Rechte waren.
Auch hier stellten die Aufklärer die kritische Frage: ist diese traditionelle Ordnung, sind diese überkommenen Privilegien, so alt sie auch immer sein mögen, natürlich? Will sagen: entsprechen sie der Natur des Menschen? Also auch hier haben die Aufklärer nach der Natur gefragt, nämlich nach den natürlichen Rechten des Menschen, nach dem „Naturrecht“, den „Menschenrechten“, danach, wie Gesellschaft wohl von Natur aus gemeint sei, nach dem, was sie den „Naturzustand“ nannten. Sind die Menschen nicht von Natur aus frei und gleich? Und wie müßte eine Gesellschaft aussehen, die solcher Freiheit und Gleichheit gerecht würde? Derartige Überlegungen haben dann die Entwicklungen in Gang gebracht, die am Ende des Jahrhunderts zur Französischen Revolution geführt haben, und damit zu unserer modernen Staats- und Gesellschaftsordnung.
Kritik an der Ständeordnung kam übrigens nicht nur aus jenen bürgerlichen Kreisen, die sich als unterprivilegiert verstehen konnten, wie die Aufklärung überhaupt nicht bloß eine Sache des Bürgertums oder überhaupt eine bürgerliche Sache gewesen ist. Das ist leider noch immer in den meisten Literaturgeschichten zu lesen, wo es um das 18. Jahrhundert geht. Aber es ist nicht richtig. Die Aufklärung war eine Sache, zu der sich Zirkel gebildeter Adliger und Bürger zusammenfanden.10 Da wurde keineswegs in erster Linie das Selbstbewußtsein eines Standes, das Selbstbewußtsein des Bürgertums, kultiviert, sondern es ging um ein Zusammenfinden jenseits der Standesgrenzen. Die Aufklärung läßt sich noch nicht einmal auf jene Schicht festlegen, die Lessing den „Mittelstand“ nennt,11 also den niederen Adel und das gehobene Bürgertum. Könige wie Friedrich II. von Preußen und Lords wie Shaftesbury haben daran ebenso ihren Anteil gehabt wie Handwerkersöhne vom Schlage Rousseaus. Davon wird noch zu reden sein.
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Aufklärung und Öffentlichkeit
Ein letzter Punkt. Wenn wir fragen: was ist der Ort, an dem die Aufklärer, die „Philosophen“ dieses ihr kritisches Geschäft betreiben? dann treffen wir auf eine neue Einrichtung, mit der sich recht eigentlich die moderne Öffentlichkeit etabliert hat, nämlich auf ein Zeitschriftenwesen, das es vorher so noch nicht gab. Wichtig sind natürlich weiterhin die Kommunikationsräume, die sich der frühmoderne Humanismus geschaffen hat, etwa die gebildeten Freundeszirkel in den Städten, an den Fürstenhöfen und an den Universitäten. Und da hat es natürlich auch schon so etwas wie eine Öffentlichkeit gegeben, die offenen Räume des Markts und der Kirche, des Hofs, der Aula, des Theaters. Aber hier hat Öffentlichkeit immer nur die umfassen können, die körperlich anwesend waren; das, was man ein „Präsenzpublikum“ nennt. Weiter, hin zu einem über Raum und Zeit zerstreuten „dispersen Massenpublikum“ hat hier allenfalls schon das Buchwesen gereicht, aber das ist natürlich, was die Umschlagsgeschwindigkeit von Informationen anbelangt, vergleichweise schwerfällig.
Im 18. Jahrhundert nun entsteht, vor allem dank der Aktivitäten der Aufklärer und ausdrücklich zum Zweck der Ausbreitung aufklärerischer Gedanken, ein neuartiges Zeitschriftenwesen. Das beginnt mit den sogenannten „Moralischen Wochenschriften“ in England, dem Land, wo die Aufklärung zunächst Fahrt aufgenommen hat. Das berühmteste Beispiel ist der „Spectator“ (1711 –1712, 1714) von Joseph Addison und Richard Steele. Dieses Vorbild wird dann bald auf dem Kontinent nachgeahmt, auch im deutschen Sprachraum, so von Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger in Zürich, wo sie ihre „Discourse der Mahlern“ (1721 –1723) herausgeben, und dann in Hamburg, in Leipzig und anderswo.12 Gegen die Mitte des Jahrhunderts gibt es sogar schon eine ganze Reihe von Zeitschriften – allerdings keine Wochenschriften – die sich bevorzugt mit Kunst und Literatur befassen, freilich immer im Rahmen der breiten Themenpalette der Aufklärung. Sie heißen etwa „Briefe, die neueste Literatur betreffend“, oder „Allgemeine Bibliothek der schönen Wissenschaften und Künste“. Lessing hat eine zeitlang als Redakteur solcher Zeitschriften gearbeitet.
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Wieland gab nach dem Vorbild der führenden französischen Zeitschrift, des „Mercure de France“, eine eigene Zeitschrift heraus, die zu einer Art Zentralorgan der deutschen Spätaufklärung wurde und eine zeitlang fast alle Gebildeten in Deutschland erreichte, den „Teutschen Merkur“ (1773 –1810). Zeitschriften wie diese bilden neben dem Buchwesen die wichtigste Plattform der Aufklärung. In ihnen wird über alles diskutiert, was ein aufgeklärtes Publikum interessiert, unter reger Anteilnahme dieses Publikums. Nicht zuletzt wird hier auch über Fragen der Pressefreiheit gestritten, denn es gibt seinerzeit natürlich weithin noch immer eine Zensur, die der Diskussionsfreude bald engere und bald weitere Grenzen setzt.
1.3 Literatur im 18. Jahrhundert
Fließende Grenzen zwischen Belletristik und Sachbuch
Eine Einführung in die Literatur des 18. Jahrhunderts fragt natürlich in erster Linie nach literarischen Texten. Aber was heißt im 18. Jahrhundert überhaupt Literatur? Der heutige Leser muß sich darauf einstellen, daß die Grenzen zwischen dem, was er aus heutiger Sicht als Literatur bezeichnen mag, und anderen Bereichen der Kultur wie Philosophie, Wissenschaft, Historie und politische Publizistik seinerzeit noch nicht so scharf ausgeprägt waren wie heute. Da wirkt lange Zeit noch die alte Einheit von Wissenschaft und Kunst, von akademischer Gelehrsamkeit und künstlerischer Kreativität, rhetorischem und literarischem Schreiben nach, wie sie der frühmoderne Humanismus pflegte. Die scharfe Grenzziehung zwischen Belletristik und Sachbuch, ästhetischem und non-ästhetischem Schrifttum, fiktionaler und non-fiktionaler Literatur, wie sie bei uns heute üblich ist, ist ein Werk erst des späten 18. Jahrhunderts selbst gewesen, ist hier erst allmählich entwickelt, begründet und durchgesetzt worden.
Daß literarische und non-literarische Formen im 18. Jahrhundert noch sehr viel näher beieinander sind, sieht man schon äußerlich an dem Gesamtwerk vieler Autoren; es gibt noch nicht jene rigide Arbeitsteilung zwischen Theoretikern und Praktikern, jene hohe Spezialisierung der Autoren für bestimmte Fächer, Gattungen und Schreibpraktiken, die für uns heute selbstverständlich ist. So hat zum Beispiel der Franzose Voltaire, eines der Leitfossile der europäischen
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Aufklärung, nicht nur Tragödien, Versepen, Romane, Erzählungen und Oden geschrieben; er war zugleich auch einer der einflußreichsten Philosophen, Historiker, Kritiker und wissenschaftlichen und politischen Publizisten seiner Zeit. Und das sieht man seinen Werken auch an. Die Unterschiede zwischen dem dichterischen, philosophischen, wissenschaftlichen und journalistischen Schreiben sind bei ihm nur graduelle und keine kategorischen.
Und so ist es auch bei den meisten deutschen Aufklärern gewesen, und mit Abstrichen selbst noch bei Goethe und Schiller. Schiller hat ja außer literarischen auch philosophische und historische Werke geschaffen, und Goethe hat auch als Naturphilosoph und Naturwissenschaftler gearbeitet. Diese Praxis des Schreibens kommt erst in der nächsten Generation von Autoren an ihr Ende, der Generation von Hölderlin und Kleist; wenn sie denn Dichter sind, dann sind sie vielfach nichts als Dichter. Aber da befinden wir uns schon an der Grenze zum 19. Jahrhundert. Heute ist ein Autor im Normalfall ausschließlich Verfasser von Literatur oder Kritiker oder Wissenschaftler oder politischer Journalist und hat allenfalls ausnahmsweise einmal einen Gastauftritt in der Domäne des anderen. Auch das Schreiben und Publizieren unterliegt inzwischen weithin jener Arbeitsteilung, jener Spezialisierung, die ein wesentliches Merkmal der modernen Gesellschaft ist.
Es gibt im 18. Jahrhundert noch ganze Gattungen, die diese Situation der fließenden Grenzen bezeugen, so z. B. das Lehrgedicht. Im Lehrgedicht werden Resultate der theoretischen Arbeit, etwa der Philosophie und der Wissenschaft, in dichterischer Form, in einer poetischen Sprache und in Versform niedergelegt. Hinzu kommt, daß die Gattungstrias Epik – Lyrik – Drama als Inbegriff des Kernbereichs der Belletristik seinerzeit noch nicht so ausgeprägt war wie heute; auch die Etablierung dieser Trias ist ein Werk erst des 18. Jahrhunderts gewesen, und zwar des späten 18. Jahrhunderts.13 Und schließlich sind die Übergänge zu pragmatischen Textsorten wie Brief, Tagebuch, Autobi-
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ographie, Reisebericht noch durchaus fließend. So ist z. B. der Autor der berühmtesten und einflußreichsten Romane der Jahrhundertmitte, der Engländer Samuel Richardson (1689 –1761), über das Anlegen eines „Briefstellers“, einer Anleitung zum Schreiben von Briefen mit Hilfe einer Kollektion von Musterbriefen, zum Schriftsteller geworden, und seine Romane sind dann eben Briefromane geworden. Und daß so viele Romane der Epoche Reiseromane sind, ihre Helden auf der Reise zeigen, hängt auch mit der zeitgenössischen Kultur des Reisens und des Reiseberichts zusammen. Man muß also mit einem sehr weiten und offenen Literaturbegriff an das 18. Jahrhundert herangehen, wenn man die Verhältnisse nicht verfälschen will.
Fließende Grenzen zwischen den Sprachräumen
Und auch eine andere Grenze ist bei der Literatur des 18. Jahrhunderts nicht so scharf ausgeprägt wie in anderen Epochen, die Grenze zwischen den Sprachräumen. Die Aufklärung ist keine rein deutsche Angelegenheit gewesen, sondern eine Bewegung, die weite Teile Europas erfaßte. Entfaltet hat sie sich zunächst vor allem in England und Schottland, sodann in Frankreich, und von England und Frankreich her kam sie schließlich auch nach Deutschland. Der Aufklärungsdiskurs ist ein Phänomen, das sich über die Grenzen der verschiedenen Sprachräume hinweg im Austausch unterschiedlicher Kulturräume entwickelt hat. Wenn man dem gerecht werden will, muß man komparatistisch arbeiten, darf man sich nicht nur mit deutscher Literatur beschäftigen, muß man über diese deutsche Literatur hinaus zumindest auch die englische und die französische Literatur mit in den Blick nehmen.
Denn es gibt keinen deutschen Vertreter einer aufgeklärt-aufklärerischen Literatur, der sich nicht zumindest mit englischer und französischer Literatur beschäftigt hätte, mit Locke, Shaftesbury, Pope und Hume, mit Bayle, Voltaire, Montesquieu, Diderot und Rousseau, keinen, dessen Werk man demzufolge sachgerecht analysieren könnte, ohne die englischen und französischen Einflüsse mit zu bedenken. Bis heute ist es ein Krebsschaden der deutschen Literaturgeschichtsschreibung, daß sie den Einfluß des Auslands im 19. Jahrhundert zunächst im Sinne des Gedankens der Nationalliteratur nach Kräften wegdisputiert hat und sich dann nicht konsequent genug um die Korrektur des einmal gezeichneten Bildes vom Entwicklungsgang der deutschen Literatur bemüht hat, nicht wirklich aus den einmal gelegten Geleisen der
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Literaturgeschichtsschreibung herausgefunden hat. Hier soll mit dem germanistischen Idiotismus der deutschen Nabelschau nach Kräften Schluß gemacht werden. Demgemäß wird im folgenden auch immer wieder von englischen und französischen Autoren gehandelt werden, eben von all dem, was man braucht, um die Aufklärung als ganzes in den Blick zu bekommen und die deutschen Entwicklungen auf angemessene Weise nachzuzeichnen.
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1 Hans Robert Jauß: Ästhetische Normen und geschichtliche Reflexion in der Querelle des Anciens et des Modernes. In: Charles Perrault: Parallèle des anciens et des modernes (…). München 1964, S. 8 –64. – Peter K. Kapitza: Ein bürgerlicher Krieg in der gelehrten Welt. Zur Geschichte der Querelle des Anciens et des Modernes in Deutschland. München 1981.
2 Beispiele bei Alexander Kosenina: Der gelehrte Narr. Gelehrtensatire seit der Aufklärung. Göttingen 2003.
3 Diese Vorstellungen bestimmen z. B. noch die Darstellung der Epoche in Hansers Sozialgeschichte der Literatur und bei Gerhard Kaiser (s. Literaturhinweise).
4 Zur „zentralen Rolle des Naturbegriffs“ s. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus. München 1986, S. 342 –356.
5 Roy Porter: Kleine Geschichte der Aufklärung. Berlin 1991, S. 9 –11. – Kondylis: Aufklärung (Anm. 4), S. 298 –309.
6 Shaftesbury: Characteristics of Men, Manners, Opinions, Times. Bd. 1. London 1735, S. 290.
7 Wieland: Der goldne Spiegel oder Die Könige von Scheschian. Erster Theil. In: ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 6. Leipzig 1794. ND Hamburg 1984, S. 72.
8 Ebenda, S. 142.
9 Jochen Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens 1750 –1945. 2 Bde. Darmstadt 1985.
10 Porter: Aufklärung (Anm. 5), S. 56 –66.
11 Lessing: Abhandlungen von dem weinerlichen oder rührenden Lustspiele. In: ders., Werke. Hrsg. v. Herbert G. Göpfert. Bd. 4. München 1973, S. 12 –58, hier S. 13.
12 Wolfgang Martens: Die Botschaft der Tugend. Die Aufklärung im Spiegel der deutschen Moralischen Wochenschriften. Stuttgart 1971.
13 Stefan Trappen: Gattungspoetik. Studien zur Poetik des 16. bis 18. Jahrhunderts und zur Geschichte der triadischen Gattungslehre. Heidelberg 2001, S. 198 –269.