Kitabı oku: «"...vergessen Sie nicht die chinesischen Nachtigallen."», sayfa 2
Jugend
Reinhardt begann nun Unterricht zu nehmen. Bei einem Statisten namens Rudolf Perak. Ein Riesenkerl, ein Norddeutscher, der immer viele junge Menschen um sich versammelte, die er aus einem unerfindlichen Grund alle mit »Onkelchen« anredete. Er hatte seinen Schülern nichts zu geben. Ihm selbst war es nie geglückt, eine Rolle zu spielen …
Reinhardt hat nur einen Lehrmeister gehabt: das alte Burgtheater. Er hat über diese Lehrzeit oft gesprochen und auch darüber geschrieben:
Ich bin auf der vierten Galerie geboren. Dort erblickte ich zum ersten Mal das Licht der Bühne, dort wurde ich genährt (für 4o Kr. altösterreichischer Währung pro Abend) mit den reichen Kunstmitteln des Kaiserlich-Königlichen Instituts, und dort sangen an meiner Wiege die berühmten Schauspieler jener Zeit ihre klassischen Sprecharien. Ich könnte ihre wunderbaren Tonfälle noch heute aus dem Gedächtnis aufzeichnen, wenn es für die Melodie des Sprechens allgemein gültige Notenzeichen gäbe. Das Burgtheater war voll von Stimmen, die wie alte kostbare Instrumente ein unvergleichlich abgetöntes Orchester bildeten. Der Klang kam aus weiter Ferne zu uns, die wir da oben auf dem höchsten Gipfel des Hauses zusammengepreßt standen. Die Worte waren von Shakespeare, Molière, Goethe, Schiller, Calderon, Grillparzer. Wir kannten die Stücke auswendig, aber man konnte alles immer wieder hören und sehen, wie man die Fünfte oder die Neunte Symphonie von Beethoven, Bach, Mozart immer wieder hören kann. Es waren gar nicht die großen Tiraden, sondern ganz einfache Sätze, in denen die stärksten Melodien lagen. Wer sollte glauben, daß ein schmuckloser Satz wie: »Max, bleibe bei mir« in Wallenstein, oder: »Seid Ihr auch wohl, Vater?« eine so tiefe Wirkung ausüben konnten? und doch wußten wir alle, wie Sonnenthal (als Wallenstein) und Lewinsky (als Franz Moor) diese Worte sprachen. Wir kannten nicht nur den Text, wir kannten die Schauspieler auswendig.
Meine Nachbarn, die dicht neben mir gedrängt über die Brüstung hingen, kannte ich kaum, ich sah sie kaum. Sie waren mir fremd. Zwar standen wir zuerst stundenlang auf der Straße zusammen, und manche stellten sich sogar schon in der vorhergehenden Nacht an und standen den ganzen Tag, um die ersten an der Kasse zu sein. Wenn die Türen geöffnet wurden, rasten wir die vier Stockwerke hinauf, übersprangen Stufen, damit wir uns, wenn irgend möglich, die Plätze an der Brüstung sichern konnten. Die Sitzplätze des vierten Ranges waren zu teuer. Man mußte drei bis vier Stunden stehen, und es war eine Erleichterung, wenn man sich wenigstens anlehnen konnte. Es waren fast ausschließlich junge Leute. Zuerst herrschte bei dem Hin- und Herdrängen eher eine feindselig gereizte Stimmung. Es war ein Kampf ums Dasein. Aber sobald es dunkel wurde und der Vorhang aufging, schmolzen wir zu einer geheimnisvollen Einheit zusammen. Wir hörten plötzlich auf, uns zu räuspern, und hingen an der prunkvoll schweren Decke wie regungslose Fledermäuse. Plötzlich verzogen sich 250 Gesichter zu einem Lächeln, dann lief ein Kichern durch die Reihen, und plötzlich brach ein schallendes Lachen aus wie ein Sturm. Man wurde willenlos mitgerissen … Dann wurde es allmählich ruhig, immer stiller. Die Schauspieler mußten so tun, als ob sie dieses brüllende Lachen nicht gehört hätten, aber sie machten doch eine entsprechende Pause, denn sie hörten jede Regung, wie wir die ihren hörten. Sie warteten, bis wir uns beruhigt hatten. Einige wollten weiter lachen, brachen aber erschrocken ab. Es wurde ernst. Hunderte beugten sich nach links, wo jemand auftrat. Das Paar auf der Bühne sah ihn nicht. Wir waren im Geheimnis – mit Herzklopfen, im Rhythmus atmend. Zwei Ensembles: das Ensemble der Schauspieler und das Ensemble der Zuschauer.
Das Schauspiel war damals ausschließlich auf das Wort gestellt. Die Bühne war ganz primitiv. ln der Dekoration standen nur Möbel, die unbedingt gebraucht wurden. Alles andere war der Schauspieler und sein Wort. Am Burgtheater waren die besten Schauspieler, die es gab, lebenslänglich engagiert und zu einem wunderbaren Ensemble vereinigt. Heute kann man kaum mehr begreifen, was das war, ein »Burgschauspieler«. Er hatte die größten Vorrechte und die größten Ehren. Er bekam spezielles »Handschuh- und Kerzengeld« – man schminkte sich damals bei Kerzenbeleuchtung. – Ja, er wurde täglich mit dem Fiaker abgeholt und ins Theater geführt …!
Aber die Leistungen dieser Schauspieler waren auch unvergeßlich. Sonnenthal! Wie er auf der Bühne Schokolade trank – wie er seinen Hut auf die Erde stellte – das alles war so eindrucksvoll, daß es immer sofort von der an sich schon eleganten Aristokratie angenommen und als Regel anerkannt wurde. Und Lewinsky! Er spielte immer die Schurken und war einer der feinsten, wertvollsten Menschen. Ein großer leidenschaftlicher Büchersammler. Dann Gabillon, Baumeister und der alte Thimig, dessen Rollen ich übrigens zuerst immer spielte. Und die Wolter, Devrient, die Hohenfels, die Schratt, die berühmte Freundin des Kaisers, die ich später in Karlsbad kennenlernte – das alles sind wunderbare Burgtheatererinnerungen. Und dabei – was mußte, besonders später, so ein Burgtheaterzuschauer alles überwinden! Die Schauspieler waren schließlich so alt, daß sie sich den Text nicht mehr merken konnten. So spielten sich nicht nur alle entscheidenden Szenen neben dem Souffleurkasten ab, sondern man hörte meist alle Sätze doppelt – zuerst vom Souffleur und dann vom Schauspieler … Trotzdem war es wunderbar. Da gab es eigene Schauspieler für die kleinsten Rollen. Devrient, zum Beispiel, spielte immer elegante Leute, die hinausgeworfen werden. (Später spielte er natürlich Hauptrollen aller Art.) Aber es gab Schauspieler, die sich in ihrer ganzen Burgtheaterlaufbahn nie auf der Bühne gesetzt hatten. Meistens »meldeten sie an« oder sprachen sonst ein paar Sätze, aber sie kamen nie dazu, sich zu setzen. Ebenso war es im Publikum. Auch ich bin damals in diesem Theater kein einziges Mal gesessen. Auf der Galerie gab es ja nur Stehplätze. Meine Vorbilder waren unerreichbar weit von mir entfernt. Man mußte da oben selbst mitspielen, sich alles ergänzen. Und gerade das war für mich vielleicht der Hauptreiz. Es war gewiß die allerbeste Schule. Wenn der Vorhang aufging, schienen diese Großen zuerst überraschend klein. Aber sie wuchsen von Szene zu Szene, füllten schließlich das ganze Haus und kamen mir zum Greifen nahe. Ich atmete mit ihnen, weinte, lachte, liebte, haßte, tötete, starb mit ihnen, und wenn der Vorhang fiel, schlug ich jauchzend in die Hände, glücklich, daß das ganze prächtige, stürmische und erschütternd aufregende Leben nur ein Spiel war. Es war meine zweite Kindheit.
In diesen Jahren gab es zahllose Gastspiele in Wien: die Comédie Française, Sarah Bernhardt, englische und ungarische Theater, Tiroler Bauernspieler und italienische Truppen. Der junge Reinhardt sah Ernesto Rossi, Gustavo Salvini und, vor allem, Eleonora Duse, die für ihn der Inbegriff höchster Schauspielkunst war. Er hat sie später noch oft erlebt, zuletzt, kurz vor ihrem Tode, in Amerika. Aber nichts kam je wieder dem Eindruck gleich, den er damals in Wien davontrug. Er schreibt darüber:
Niemals werde ich vergessen, wie ich sie zum ersten Mal sah. Das war im Karltheater, und sie spielte die Kameliendame. Ihr Partner hieß Flavio Ando. Ich erinnere mich an eine Szene, in der beide zugleich leidenschaftlich sprechen. Das war eine der vollkommensten Leistungen, die ich je auf dem Theater sah. Beide waren völlig deutlich, und ihr Zusammensprechen war aufgelöst in glühendstes Leben … Die Duse offenbarte sich im Spiel ihres Körpers, ihrer Augen, ihrer Bewegungen, ihres Mundes. Aber in ihrer zauberhaft verschleierten Stimme war ihre Macht zu lieben und zu leiden in eine einzigartige Musik gesetzt. Ich kenne keine Gesangsstimme, die mich mehr erschüttert und beglückt hätte, als wenn die Duse die zornige Anklage ihres Geliebten immer wieder mit dem heiseren, stillen, monoton hervorgestoßenen »Armando« unterbrach.
In der großen Theater- und Musikausstellung wetteiferten die Theater der Welt. Am dortigen Hanswursttheater sah Reinhardt noch den Komiker Ludwig Gottsleben. Bis an sein Lebensende begleitete ihn die Erinnerung an dieses letzte Aufflackern der Commedia dell’arte. Lebendig griff hier Vergangenheit noch einmal in die Gegenwart.
Es gab damals ein kleines Theater im Matzleinsdorf, das »Fürstlich Sulkowskische Privat-Theater«. Der Zuschauerraum fasste nur 230 Personen. Der Deutsche Bühnen-Almanach führt im Jahre 1891 als »Darstellende Mitglieder, Schauspiel und Oper: Die Eleven und Elevinnen sämtlicher dramatischer Lehrer in Wien« an. Ein Herr Miklas führte die Direktion. Der teuerste Platz kostete 60 Kr., der billigste (Stehplatz) 20 Kr. Der Vorverkauf der Karten lag – abgesehen von der Theaterkasse – in den Händen eines Konditors in der Wiedner Hauptstraße, einer Zuckerbäckerin in der Matzleinsdorfer Straße und einer »Blumenerzeugerin« in der Margarethenstraße. Josef Kainz und vorher Emmerich Robert hatten in ihren Anfängen dort zuerst gespielt.
Dieses Theater gab am Sonntag Vorstellungen für die Matzleinsdorfer, aber während der Woche konnten reiche Burschen Rollen, die sie wählen durften, spielen, vorausgesetzt, dass ihre Familie die Vorstellung kaufte, das heißt, alle Sitze übernahm. Nun wäre es freilich nicht in Frage gekommen, dass Reinhardts Familie auch nur einen Sitz, geschweige denn alle erstanden hätte, aber wenn die Reichen sich eine Rolle kauften, blieb für die Armen immer noch etwas übrig. So trat er im April des Jahres 1890 zum ersten Mal auf, und zwar nicht unter seinem Familiennamen Goldmann, sondern unter Reinhardt. (1904 wurde diese Namensänderung offiziell bewilligt.) Er spielte einen neunzigjährigen Mann. Hinter einem langen weißen Bart konnte er seine Schüchternheit verstecken. Im Grunde war er aber kaum aufgeregt, und so ging alles gut.
Nun wurde der Siebzehnjährige immer wieder mit der Darstellung alter Männer betraut. Maske und Kostüm verbargen seine Jugend. Es war eine Reife in ihm, die seinen Worten Gewicht verlieh und seine Greise glaubhaft machte. So spielte er schon als ganz junger Schauspieler den Attinghausen, Burleigh, König Philipp, Theobald Friedborn, Prinz Eugen und den Rabbi Ben Akiba. Für diese Rolle war ihm sein Großvater Vorbild.
Mit der Zeit wurden ihm auch andere Rollen anvertraut: Azur im Verschwender, Fabrizius, Zdenko, Graf Borodin in der Ahnfrau und endlich, endlich Franz Moor! Zwischendurch sah er sich freilich auch vor andere »Aufgaben« gestellt. Das Sulkowsky-Theater hatte ein Repertoire, in dem neben ernsten Stücken Volksstücke mit Gesang, romantische Schauspiele und Volksdramen gegeben wurden.
So spielte der junge Reinhardt in Preziosa den Zigeunerhauptmann, den Commandeur der Hatschiere in Der Teufel oder die Blinde von Paris, Gustav Ofner in Der Engelmacher von Rudolfsheim, Martin, einen Bauern, in dem Volksdrama Die Zauberin am Stein; in der Veilchendame Maschensky, einen Arbeiter in einer Maschinenbauanstalt, und eine Reihe kleinerer Charakterrollen in Sittenstücken von Alexandre Dumas, Georges Ohnet und anderen. Sein Name erscheint immer wieder in Besprechungen der Vorstellungen in dem winzigen Vorstadttheater. Später spielte er aber vor allem die Thimigschen schüchternen Liebhaber. Von allen Burgschauspielern verehrte er Hugo Thimig am meisten und sah in ihm ein Vorbild, das ihm bei seiner eigenen Laufbahn vorschwebte.
Einmal spielte er einen Jungen, der durch irgendeinen Zufall in einen Salon gerät, einer Dame gegenüber, die ihren Mann eifersüchtig machen will und sich gerade ihn dazu aussucht. Der Junge ist natürlich verzweifelt und kommt in die peinlichste Situation. Reinhardt hat diesen Abend beschrieben:
Bei diesem Stück war zum ersten Mal mein Vater im Theater. Damals gab es einen sehr bekannten Schauspiellehrer in Wien, namens Otto. Der kam auf die Bühne und fragte mich nach meinem Namen. Ich sagte, mein Vater wäre im Haus, und er sprach mit ihm. Das war eigentlich der entscheidende Augenblick – nämlich der, in dem meine Eltern ihren Widerstand aufgaben. Durch Freunde kam ich dann zu Professor Bürde, bei dem ich Unterricht nahm. Gelernt habe ich so gut wie nichts bei ihm – aber er war einer der wunderbarsten Theateridealisten. Ein hoher schlanker alter Herr mit einem prächtig wehenden Bart, blauen Augen und einer roten Nase. Er schritt auf und ab und lehrte mich die allmählich aufsteigende Linie einer Schlachterzählung, die senkrecht abstürzende Linie des Schmerzes, die steil hochschießende Linie des Jubels, die Wellenlinie der Konversation, die horizontale Linie einer Meldung, die blitzende Zickzacklinie des Zornes und die Bogenlinie der Ironie. Es war schwer und sehr notwendig, es dann wieder zu vergessen. Bei Emil Bürde, in der Wohllebengasse, traf ich den damals so berühmten Vortragskünstler Strakosch, dem ich anscheinend gefiel. Und so kristallisierten sich meine Theaterpläne immer mehr.
Reinhardts erstes Engagement war im Neuen Volkstheater in Rudolfsheim, im Amorsaal. Das Theater war 1891 umgebaut worden. Die Direktion lag in den Händen von Frau Pauline Löwe und ihrem Gatten. Sie engagierten junge Talente und alte Schmieristen, die einmal berühmt gewesen und heruntergekommen waren. Eines der beliebtesten Stücke in diesen Vorstadttheatern waren Die Räuber. Reinhardt spielte in einer dieser Aufführungen den Spiegelberg und Karl Kraus den Franz Moor. Es endete damit, dass Karl Kraus nach Schluss der Vorstellung von den Zuschauern verprügelt wurde. Das hat er Max Reinhardt nie vergessen.
Bei der Aufführung des Stückes eines bekannten zeitgenössischen Autors wurde Reinhardts Leistung von der Kritik besonders hervorgehoben. Der beliebte Schauspieler Karl Langkammer kam zu ihm auf die Bühne und sagte, dass er sich für ihn interessiere. Er erzählte ihm von einem Dr. Otto Brahm, der das Deutsche Theater in Berlin (das größte Theater in Deutschland, nach dem Muster der Comédie Française, mit lauter allerersten Schauspielern) in zwei Jahren übernehmen sollte und der gerade in Wien sei. Er wolle ihn mit ihm bekannt machen. Reinhardt hat dieses Zusammentreffen mit Brahm beschrieben:
Und so traf ich ihn am nächsten Tag am Ring, im Café Opera. Er verwickelte mich in eine Konversation, im Lauf derer er mich nach der chronologischen Reihenfolge der Schillerschen Dramen fragte. (Er war Germanist.) Ich hatte keine Ahnung. Nichtsdestoweniger bestellte er mich für den nächsten Tag ins Hotel Sacher, wo ich ihm vorsprechen sollte. Ich sehe noch das Zimmer vor mir, es sah aus wie ein langer Gang, und Brahm saß am Fenster. Ich konnte ihn gar nicht sehen. Ich sprach die »Traumerzählung«, und er bot mir sofort einen Vertrag für Berlin an. Das war natürlich für einen jungen Menschen ein unbeschreiblicher Glücksfall. Er gab mir ein Jahr Zeit und riet mir, inzwischen mein Freiwilligenjahr zu machen. Ich wollte aber gleich spielen. Und so ging ich nach Salzburg. Das heißt – in Salzburg begann die Saison erst im Herbst, und da sie in Rudolfsheim vor dem Sommer zu Ende war, ging ich auf zwei Monate in ein Sommertheater nach Preßburg. Das Sommertheater war eine richtige Schmiere, im wahrsten Sinn des Wortes. Der Direktor hieß Berthal, und es gab einen Regisseur namens Martens. Gespielt wurde nur, wenn es nicht regnete. Mein Vertrag mit dem Deutschen Theater half. Man gab eine Benefiz-Vorstellung für mich. Zwar war es nur ein Schein-Benefiz, denn ich bekam nichts davon, aber immerhin durfte ich mir meine Rolle wählen. Natürlich wählte ich den Franz Moor. Aber mitten in der Vorstellung fing es an zu regnen. Das Publikum stand auf und ging langsam fort, doch ich wollte um keinen Preis zu spielen aufhören. Der Direktor stand in der Kulisse und winkte mir wütend, abzugehen. Und so mußte ich, mitten im Monolog – abbrechen …
Wie sich das in einer richtigen Schmiere gehört, schenkte mir die Frau Direktor mehr Aufmerksamkeit, als vielleicht unbedingt nötig gewesen wäre. Einmal mußte ich mit ihr bootfahren. Wir fuhren in romantische Gegenden, aber das Unternehmen blieb erfolglos. Ich fürchtete, man würde mich kündigen, aber es kam nicht so schlimm. Man reduzierte nur meine Gage. In den zwei Sommermonaten in der Preßburger Arena habe ich gelernt, wie es nicht sein soll. Und auch das war gut. Man muß immer von unten anfangen. Preßburg war so tief unten wie nur möglich. Es war die »Schmiere« in des Wortes verwegenster Bedeutung. Es konnte nur besser kommen. Ich war reif für ein richtiges Engagement. Und so reiste ich im September nach Salzburg.
Salzburg
Max Reinhardt ging zu Fuß zum Westbahnhof. Er trug seinen kleinen Koffer. Die Eltern und seine sechs Geschwister begleiteten ihn. Schweigend gingen sie durch den grauen Morgen. Schweigend in die rauchige, lärmende Bahnhofshalle. Schweigend standen sie inmitten hastender Menschen auf dem Perron. Keiner sprach. Sie sahen einander nur an. Edmund stand etwas abseits. Ihn traf die Trennung wohl am härtesten. Max stieg ein, und als der Zug sich in Bewegung setzte, winkten alle mit Taschentüchern. Kein erlösendes Wort hatte den Bann dieses schweren Abschieds gebrochen.
Max Reinhardt saß auf der hellen harten Bank der dritten Klasse. Über ihm stand sein kleiner Koffer, der seine Habseligkeiten in sich barg. Ein Schauspieler »musste einen Frackanzug, ein Paar Lackschuhe, einen schwarzen langen Rock und ein schwarzes Trikot für Kostümstücke haben«. Es war ihm gelungen, sich all das ziemlich billig zu verschaffen. Verwandte waren eingesprungen, um ihm über die erste Zeit hinwegzuhelfen. Ein paar Bücher, an denen er besonders hing, nahm er ebenfalls nach Salzburg mit. Sein Mittagessen war ihm vorsorglich mitgegeben worden, denn die Fahrt dauerte acht Stunden.
Der Zug rollte hinaus in die herbstliche Landschaft, vorbei an Schönbrunn, das Max noch einmal wie ein Kindheitstraum grüßte, durch die hügelige Waldgegend, der Donau zu. Er sah das flache Land zwischen St. Pölten und Melk und dann das stolze Stift Melk, das herrliche Barockkloster. Der Zug hielt an den kleinsten Haltestellen. Reinhardt hat später oft gesagt, dass es immer gut sei, die Fahrt ins Glück im Bummelzug zu machen. Von dieser beseligenden Fahrt an habe er jede Sache, jeden Tag in diesem Tempo begonnen. Was er damals empfand, war reine Glückseligkeit. Es wäre schwer zu beschreiben, worin dieses Glück bestand. Er war ein armer, blutjunger Bursche, scheu, verschlossen, der nur wie zufällig in die Welt des Theaters geraten war, eine Welt, zu der er offenbar weniger passte als seine jungen Kollegen, die viel aufgeweckter, lebenstüchtiger, selbständiger, eleganter ausgestattet waren. Die Zukunft war ein verschlossenes Buch. 47 Jahre später schrieb Reinhardt darüber:
Alles war Dämmerung um mich. Trotzdem hielt ich, preßte ich in meinen Händen etwas zusammen, als ob es das Kostbarste gewesen wäre. Und es war es. Ein dunkler, unbestimmter, aber freudiger Wille, mit dem ich es schaffen wollte.
Das Zusammenpressen der Hände hat Reinhardt durchs Leben begleitet. Es blieb eine charakteristische Geste, wenn er alle seine Willenskräfte auf ein schwer erreichbares Ziel konzentrieren wollte. Die Bewegung des Zuges trug ihn. Im Rhythmus dieser Bewegung sprach er mit sich selbst. Dann sang er. Bauern stiegen ein und aus. Er sprach mit niemandem. Man stierte ihn an. Da ging er auf den Gang hinaus und blieb dort stehen. In der Dämmerung wuchsen Berge von beiden Seiten. Es ging höher hinauf. Auf den Gipfeln lag Schnee. Die Zeit wurde ihm nicht lang. Seine Gedanken liefen dem Zug voran. Die Wochen vor der Abreise waren voll Unruhe gewesen. Nun war er plötzlich in dieser Spanne allein, zwischen zwei Leben, konnte endlich über alles nachdenken, sich sammeln. Sein Herz war zum Zerspringen voll.
So kam der Abend. Jemand sagte: »Salzburg«. Stadt und Berge waren dicht verschleiert. Es regnete. Der Platz vor dem Bahnhof war dunkel. Im unbestimmten Licht weniger Laternen sah Reinhardt Menschen mit Regenschirmen und Regenfleck. Man wies ihn zur Pferdebahn. So zog er ein in die Stadt, von der Alexander von Humboldt sagte, dass sie neben Neapel und Konstantinopel die schönste der Welt sei. Die Pferdebahnfahrt schien ihm länger als die Eisenbahnreise. Vielleicht sah er durch angelaufene Scheiben einen Augenblick lang etwas vom Mirabellschloss, vielleicht am Makartplatz sogar von ferne das Theater, dem er so ungeduldig zustrebte. Dann ging es durch eine enge Straße endlich einem belebteren Platz zu, der in die Brücke mündet, die zwei Stadtteile verbindet. Hier musste er aussteigen. Vor ihm ragte ein uraltes Haus, der Gasthof Zum Stein, den man ihm empfohlen hatte. Freundliche Wirtsleute wiesen ihn über steile Steintreppen hinauf zu seinem Zimmer. Die Einrichtung des langen einfenstrigen Raumes war denkbar einfach: Bett, Schrank, Tisch, ein Waschtisch mit Krug und Wasserbecken. Er trat ans Fenster. Da strömte die Salzach vorbei, ein gelbaufgeregter Strom. Vom gegenüberliegenden Ufer schauten die Türme der Kirchen herüber, über der Festung hingen schwarzblaue, regenschwere Wolken. Es hielt ihn nicht im Zimmer. Hinter dem Gasthof führten enge Gassen bergaufwärts. Ahnungsvoll kam das Abendläuten von allen Kirchen der Stadt. Er sah zwischen dunklen Mauern die schönen Bäume an der Salzach. Es hatte zu regnen aufgehört. Als er zum Abendessen in den Gasthof zurückkam, fand er eine Botschaft des Theaters vor: er solle sich am nächsten Morgen zur Probe einfinden. Die Wirtsleute setzten sich an seinen Tisch. Von freundlicher Neugierde getrieben, verwickelten sie ihn in ein Gespräch und versuchten, Näheres über ihn zu erfahren. Das Essen war einfach, aber schmackhaft, die Wirtsstube gemütlich. Später wies ihm dann das flackernde Licht einer Kerze den Weg in sein Zimmer.
Als er früh aus einem tiefen Schlaf erwachte, hörte er vor allem das Rauschen der Salzach unter seinem Fenster. Ein wilder Fluss, der jeder Schifffahrt widerstrebt und die Stadt oft überschwemmt. Es war trüb, aber es regnete nicht mehr. Am Salzachufer schrien die Möwen. Menschen hasteten über die Brücke zum Rathaus hinüber. Das Theater war nur wenige Minuten vom Gasthof Zum Stein entfernt. Reinhardt konnte das neue Gebäude, dem er zustrebte, schon von weitem sehen.
Das alte k. k. Theater aus dem Jahr 1775 hatte 1892 dem Helmer- und Fellner-Bau weichen müssen. Unzerstörbar haftete trotzdem an dieser Stätte die Erinnerung an eine ruhmreiche Vergangenheit. Hier waren Ende des 18. Jahrhunderts Werke zeitgenössischer Dichter, Lessing, Goethe, Schiller, und auch Mozarts Opern aufgeführt worden. Shakespeares Lear und Tiecks Genoveva, Komödien von Iffland und Kotzebue standen im Repertoire. Emanuel Schikaneder kam mit seiner Truppe. Unter der Direktion Anton C. Lechner ward schließlich das alte Gebäude niedergerissen, und nun sollte das neue Haus am 1. Oktober 1893 mit einer Aufführung von Ludwig Fuldas Märchenstück Der Talisman eröffnet werden. Ein damals vielgespieltes, umstrittenes Werk: es war in diesem Jahr für den staatlichen Schillerpreis vorgeschlagen worden, aber Wilhelm II. hatte sich geweigert, dieser Ehrung seine Zustimmung zu geben. Es war in diesem Stück zu vieles, das wilhelminische Verlogenheit geißelte. Im Wiener Burgtheater wurde es 1892 aus Zensurgründen während der Proben abgesetzt.
Direktor Lechner, ein aufrechter, fortschrittlich gesinnter Mann, führte Regie bei seinem Eröffnungsstück Dem jungen Reinhardt hatte er für sein erstes Auftreten in Salzburg die Rolle des Oberfeldherrn Berengar zugeteilt. Es war keine große Rolle, aber die wenigen Szenen, in denen dieser Verschwörer auftrat, waren effektvoll und wichtig. Reinhardt war sich dessen bewusst, dass es nur ein Auftakt war und dass die Spielzeit ihm andere Aufgaben bescheren würde. So ging er an diesem Morgen mit größter Zuversicht und Vorfreude in das neue Haus. Alles spiegelte und glänzte verheißungsvoll. Gold dominierte in den barocken Verzierungen des Zuschauerraumes und Foyers und hob, zusammen mit dem Weiß der Stukkaturen, das festliche Rot der gepolsterten Sitze, der Teppiche und Wandbespannungen. Die Bühneneinrichtung war modern.
Vorbereitungen für die Eröffnungsfeier waren in vollem Gange. Ein Fest-prolog und die Ouvertüre zu Titus von Mozart sollten der Vorstellung vorangehen. Die erste Talisman-Probe war für den nächsten Morgen angesetzt. Reinhardt lernte in seinem Direktor einen ausgesprochenen Kavalier kennen, dem er bis an sein Lebensende ein gutes Andenken bewahrte und von dem er noch nach vielen Jahren immer mit Verehrung sprach.
Als Reinhardt am folgenden Tag aus der Probe kam, schien die Sonne. Über der Salzach drüben lockte der Mönchsberg. Er fuhr mit dem Aufzug hinauf. Zum ersten Mal wurde ihm die ganze Herrlichkeit dieser Landschaft offenbar. Da war tief unter ihm die liebliche Stadt mit den vielen Türmen, mit den südlich flachen Dächern, Nonnberg, Gaisberg, Kapuzinerberg, die Festung, vom Untersberg überragt, die Bergkette zum Hohen Göll hinüber und im feinen Dunst darunter das flache Land. In diesem flachen Land lag ein See, dominiert von einem großen Schloss. Max Reinhardt ahnte damals nicht, dass dieses Schloss ihm einmal gehören, dass er dort zwei Jahrzehnte lang Gäste aus der ganzen Welt empfangen würde und dass der Weltruf der Stadt, auf die er hinabsah, von ihm begründet werden sollte. Und selbst hätte er es gewusst, es hätte ihn nicht glücklicher machen können, als er in diesen Stunden war. Die sanften Mönchsbergwiesen lagen in der warmen Herbstsonne wie ein Teppich vor ihm, Käfer summten, Schmetterlinge ließen sich vom Wind über das Gras tragen, durch die hohen Bäume in den Mulden zog manchmal wie ein Seufzer ein Windeswehen, und sein eigenes Herz schlug im Takt mit dieser herrlich schmetternden Ouvertüre zum Glück der Jugend, das so plötzlich über ihn hereingebrochen war.
Die Eröffnung des Theaters ging glanzvoll vorüber. Reinhardt berichtete darüber in einem Brief, den er zwei Tage nach der Premiere an seinen Onkel nach Wien schrieb:
Lieber Onkel! Heute morgens erhielt ich Dein l. Schreiben und inliegende F 15.–. Meinen herzlichsten Dank für Deine Bemühungen. Das Geld kam mir sehr zu Guten, da ich davon meinen Zins und Frühstück für das laufende Monat voraus bezahlen kann, ohne daß ich mir Vorschuß hiezu zu nehmen brauche.
Ich habe ungemein viel zu thun, da ich diese Woche noch zwei große neue Rollen zu spielen habe. Ich werde sogar einen Theil der Nacht opfern müssen, um alles bewältigen zu können. Die erste Vorstellung ist glücklich vorüber. Trotzdem ich in derselben keine hervorragende Rolle spielte, bin ich doch in den hiesigen Blättern lobend erwähnt. Nun habe ich täglich von 9 - 12 – ein oder zwei Proben und nur die wenigen Nachmittagsstunden zum Lernen. Direction und Regie sind mit meinem Können zufrieden. Beweis dessen bekam ich schon mehrere große Rollen zugetheilt. Sobald ich größere Recensionen bekomme, werde ich sie Dir, lieber Onkel, einsenden. Von Deinem l. Bruder habe ich noch nichts bekommen. Glücklicherweise habe ich die Sachen bis dato noch nicht gebraucht, da ich in dem morgigen Lustspiel nicht beschäftigt bin. Sonst wäre ich schon in großer Verlegenheit gewesen.
Sobald ich wieder ein bißchen aufathmen kann, werde ich den Herren Böhm und Wengraf brieflich meinen Dank sagen und letzterem wenn es mir nur halbwegs möglich ist die F 20.– retournieren. Momentan habe ich so viel zu thun, daß ich kaum dazu komme, meinen Eltern zu schreiben.
Indem ich Dir nochmals für alles was Du für mich gethan hast vielmals danke, grüße ich Dich sowie Tante Lollo herzliehst und verbleibe Euer dankbarer Neffe
Max
Es sollte noch einige Zeit dauern, ehe Reinhardt aller Geldsorgen ledig war. Er sah sich gezwungen, seinen Onkel abermals um Hilfe zu bitten.
3. 11. 1893
Lieber Onkel!
Einige freie Minuten meiner äußerst karg bemessenen Zeit benütze ich, um Dir l. Onkel zu schreiben. Ich habe ungemein viel zu thun. Gegenwärtig gastiert hier Friedrich Mitterwurzer in Wallensteins Tod, Hüttenbesitzer und Raub der Sabinerinnen. Ich spielte die entsprechenden Characterrollen mit schönem Erfolge. Ich habe überhaupt schon einige schöne Erfolge zu verzeichnen und sandte auch einige Recensionen meinen l. Eltern, die sie Dir doch gewiß gezeigt haben, da ich sie darum bat.
Deinem l. Bruder sende ich von der ersten Monatsgage F 5.–. Ich habe mir dieses Monat sehr viel anzuschaffen. So mußte ich mir allein an Fußbekleidungen schon für die erste Comödie griechische Sandalen zu F 4. – für Stuart Sammtschuhe F 3.50 für modernes Lust- und Schauspiel Lackschuhe für F 7.50 u. Lackstulpen F 2.50 anschaffen. Für Wallensteins Tod hätte ich gelbe Ritterstiefel gebraucht, die mindestens F 12. – gekostet hätten.
Glücklicherweise gelang es mir ein Paar auszuborgen, indem ich unserem Garderobier ein entspr. Douceur gab. Wenn man eben wie ich jeder Ausstattung bar ist, so ist das begreiflicherweise eine schwere Wirtschaft.
Fast zu jedem Stücke brauche ich diverse Gegenstände, die ich mir eben successive anschaffen muß. Daß ich Frack und Salonrock habe, ist ein unschätzbares Glück. Glücklicherweise hatte ich dieses Monat ziemlich oft, auch manchmal durch die besondere Protection des Directors, in den Operetten kleine Sprechpartien zu spielen, so daß ich mir immerhin viele Honorare verdiente, so daß ich mir alles Nothwendige anschaffen konnte u. was die Hauptsache ist, gleich bezahlen konnte, so daß ich keinen Kreuzer schuldig bin. Im Gasthaus bezahle ich ebenfalls täglich u. sofort.
Wenn ich mir nicht zu viel Neues mehr anschaffen muß, könnte ich wohl später mehr als F 5. – pro Monat entbehren, da ich sehr sparsam u. zurückgezogen lebe. Aber ich mußte eben zum Mindesten was moderne Garderobe anbelangt vollständig versehen sein. Denn mit Frackanzug u. Salonrock allein kann ich unmöglich die ganze Saison auskommen. Eins zwei moderne Anzüge brauche ich dringendst, vor allem aber einen Winterrock. Wenn mir nun Dein l. Bruder das nicht verschaffen kann, müßte ich mich notgedrungen noch anderweitig engagieren, was allerdings auf meine Finanzen nichts weniger als vorteilhaft wirken würde. Der Winter soll hier sehr strenge sein, und er steht vor der Thüre. Wenn Du, l. Onkel, mit Deinem Bruder Rücksprache nehmen wolltest u. mir baldigst darüber berichten würdest, wäre ich Dir sehr dankbar dafür. Sonst – insbesondere in künstlerischer Beziehung habe ich allen Anlaß zufrieden zu sein. Ich bekomme auch große und schöne Rollen, die sonst einem Anfänger nicht anvertraut werden. So spiele ich Sonntag den alten Miller, Dienstag den Wurzelsepp im Pfarrer von Kirchfeld (eine schöne aber ungemein schwierige Rolle, der ich jedenfalls wieder Nächte opfern werde müssen, da die Zeit kurz ist und ich ja all diese Rollen ganz neu studieren muß). Und Freitag spiele ich zur Schillerfeier den Attinghausen im Tell. Für den Wurzelsepp brauche ich schon beispielsweise wieder Einiges. Derbe Bergstiefel, Wadenstutzen, Bauernhemd u. Bergstrümpfe. So kommt eben eine Auslage nach der andern, was in der ersten Zeit eben nicht zu vermeiden ist.